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Ida Witt ging im Zimmer auf und nieder, noch in Reisekleidung, verstaubt, schmutzig, verwirrt und übernächtig. Wie immer, wenn ihr Gemüt in Erregung war, empfand sie jede neue Schranke als körperliche Qual, und nun hatte sie fast drei Tage in einem stickigen Abteil zugebracht, umgeben von aufgeregten, kopflosen Menschen. Bei jeder ländlichen Haltestelle, wo der Zug anhielt, um Militärtransporten Platz zu machen, hatte sie dieselben herzzerreißenden Abschiedsszenen gesehen.
Nicht eine Viertelstunde hatte sie zur Verfügung gehabt, seit das erste Telegramm gleich einem Erdbeben alles in dem Gasthof am Bodensee durcheinanderwarf. Niemand dachte daran, zu Bette zu gehen. Man drängte sich und zankte sich, um ans Telephon zu kommen. Aus den Zimmern wurde Tag und Nacht geklingelt. Die Bedienung taumelte in ihrer Ermattung umher wie Nachtwandler. Die eine Stunde stopfte man alle Kleider holterdiepolter! in die Koffer hinein – man wollte abreisen, sofort, jetzt, ohne zu wissen, ob ein Zug ging, und ob Platz im Zuge war. Die nächste Stunde hatte man seinen Entschluß geändert und packte wieder aus. Die Reisenden mußten einen Paß haben, um außer Landes reisen zu können, und jeder einzelne betrachtete plötzlich den Gedanken an einen Paß als persönliche Beleidigung.
Die Gerüchte sausten wie Orkane in den Gängen des Gasthofes umher. Selbst die geistesgegenwärtigsten Frauen erlagen der Spannung und der Unsicherheit und bekamen hysterische Anfälle. Männer, die sich nie mit Politik beschäftigt hatten, schrien jeden Beliebigen laut an, sagten den Ausfall des Krieges vorher und gerieten mit Andersdenkenden in Streit. Sie stießen mit den Stöcken auf den Fußboden und suchten einander zu übertäuben wie auf einer Börse. Ihre zügellose Leidenschaft würde lächerlich gewirkt haben, hätte sie nicht den drohenden, ernsthaften Hintergrund der Begebenheiten gehabt.
Ida konnte nicht hinwegkommen über die stille Verzweiflung des Vaters. Er hatte seinen ganzen lichten, menschenfreundlichen Glauben aus unverbrüchlichen Frieden mit geistesverwandten Nationen aufgebaut. Jetzt lag alles um ihn her in Scherben, und im Laufe von wenigen Tagen brach er zusammen und wurde so schwach wie ein Greis. Die Mutter hatte sich gezwungen, leicht und munter zu plaudern, als sei das Ganze ein Mißverständnis, das bald aufgeklärt werden würde, aber Ida sah ihre innere Unruhe und kannte den Grund. Wie würde es jetzt Idas Schwester Lili ergehen, die mit einem Franzosen verheiratet war und in Paris wohnte, und Erwin, dem Bruder, der eine russische Frau hatte?
Ida hatte mehrmals ein brennendes Verlangen empfunden, sich auszuweinen; aber sie konnte es nicht ertragen, Zeugen bei dergleichen zu haben, und jetzt, wo sie endlich allein war, fühlte sie sich zu müde und zu angegriffen. Sie öffnete das Fenster, es war ihr, als müsse sie ersticken. Was hatte sie alles in der letzten Woche erlebt? Was würde sie noch in den kommenden Monaten erleben?
Sie mußte sich zusammennehmen, um ruhig und tatkräftig zu sein, wenn die Freunde sich um sie versammelten. Sie mußte Klarheit in das Chaos der Gefühle bringen, die jetzt in ihrem Innern wie ein Malstrom wirbelten.
Der Krieg … Nicht: ein Krieg! Sondern: der Krieg! Der Krieg im Lande, der Krieg vor der Tür. Der Krieg auf allen Seiten. Sie griff sich an den Kopf. Nein, sie faßte es nicht. Noch nicht. Das war zuviel auf einmal. Aber sie empfand ein stilles Grauen, als höre sie eine Schlange in der Nähe zischen, ohne zu wissen, wo sie sich verborgen hatte, und wann sie den Giftstachel in sie hineinjagen würde.
Schon einmal hatte sie das Gefühl gehabt, vor einem Wendepunkt zu stehen. Das war jetzt fünf Jahre her – in jener schönen Sommernacht! Die Narben, die die kleinen, bald geheilten Wunden von den Glasscheiben hinterlassen hatten, waren die einzigen sichtbaren Spuren. Aber sie fühlte sich wie verwandelt seit jener Nacht, wo sie buchstäblich im selben Augenblick dem Tode und dem höchsten Erdenglück gegenübergestanden hatte. Sie, die die Menschen liebte, aber nie auch nur die flüchtigste Verliebtheit gekannt hatte, war im Verlaufe eines Augenblicks von der ganzen Süße der Zusammengehörigkeit in der Liebe überwältigt gewesen. Sie wußte nichts von dem Mann, dessen Schlaf sie beobachtet hatte, während das Mondlicht auf sein Antlitz fiel. Sie kannte nicht sein Wesen, seine Gewohnheiten, seine Fehler, sie wußte nichts von seinem Ehrgeiz, kannte nicht einmal seine Nationalität. Aber wer er auch sein mochte, er war der Mann, auf den sie gewartet hatte.
Ihr tagheller, sonnenerfüllter Sinn vermochte nicht lange über einem Kummer zu brüten. Das Leben, die Kunst und die Freunde stellten zu große Forderungen an sie. Wohl verging kein Tag, an dem sie sich nicht Vorwürfe machte, daß sie ihn aus ihrem Gesichtskreis hatte entschwinden lassen, ohne alles in Bewegung zu setzen, um zu erforschen, wer und wo er war. Aber sie ließ sich nicht von dem Verlust niederdrücken, sondern sie empfand ihn nur als einen Reichtum mehr.
Nun verstand sie, daß das Leben von neuem begann. Eiserne Türen glitten vor der Vergangenheit nieder, sie war vorüber, unwiderruflich vorbei.
Wieviele von den Freunden würden sich hier noch versammeln? Sie sah sie vor sich: der eine zog gen Osten, der andere gen Westen – sie sah sie gegeneinander kämpfen, jeden für das, was ihm heilig und teuer war.
Aus dem Gasthof in der Schweiz hatte sie sofort an alle Freunde im Auslande telegraphiert, deren Aufenthaltsort ihr eingefallen war. Ob ihr Gruß sie erreicht hatte? Fühlten sie sich schon als Feinde? Eine Antwort hatte sie nicht erhalten.
Hier in diesen Zimmern hatten zwei Jahre zuvor bedeutende Politiker die Nähe des Weltkrieges erwogen. Alle waren sich darin einig, daß er kommen mußte. Die Rüstungspolitik, die von allen Großmächten geführt wurde, zwang ihn herbei. Er schien nahe bevorzustehen. Als aber das Gewitter vorübergezogen war, hatte man sorglos den Gedanken von sich geschoben – und wieder den Weltfrieden erwogen.
Ida öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr einige Briefe. Zuoberst lag die Mitteilung der Fürstin von Aglajas Verlobung mit Gaston le Lys. Sie hatte hinzugefügt: »Ich hoffe aus ganzer Seele, daß er der Rechte ist. Aglaja würde eine Enttäuschung niemals verwinden, jetzt, wo sie alles auf dies eine Gefühl gesetzt hat. Sie sind sehr glücklich, und wenn nichts dazwischenkommt, ist es ihre Absicht, zu Weihnachten zu heiraten. Vorläufig reist Aglaja jetzt nach Reims, um ihre Schwiegermutter kennen zu lernen.«
»Wenn nichts dazwischen kommt …«
In Gedanken war Ida wieder auf dem Gut und sah alle die jungen, strahlenden Menschenkinder in Park und Wald umherschwärmen, sah sie auf den großen Rasenplätzen tanzen und spielen, sah sie reiten und mit roten Wangen und süßen Geheimnissen in den Augen heimkehren, sah sie des Abends unter den Bildern der verstorbenen Fürsten und Fürstinnen tanzen. Nur eine Verlobung meldete die Fürstin, aber Ida ahnte noch zwei andere: Nadja und der Vetter Konstantin von Treschau und die übermütige amerikanische Miß Gloria und Helwig, Konstantins Bruder.
Und nun … der Krieg …
Das Telephon klingelte. Sebastian Montuana fragte, ob Ida gekommen sei. Sie hörte es seiner Stimme sofort an, daß etwas nicht in Ordnung war, und bat ihn, sich baldmöglichst zu ihr zu begeben. Er antwortete, daß ihm das unmöglich sei, und dann einigten sie sich dahin, daß sie im Laufe einer Stunde bei Montuanas sein werde.
Das Wasser stand drei Zoll hoch im Badezimmer, und Marie, das kleine Zimmermädchen, lag in all der Nässe auf den Knien und bemühte sich weinend, das Wasser auszuschöpfen, ohne den Zufluß geschlossen zu haben. Ida nahm einen Unfall niemals tragisch, und sie lachte laut bei diesem Anblick, Marie aber fuhr fort zu weinen. Also dann war es nicht das Bad, über das sie weinte. »Ist er einberufen?« Marie nickte. Ida sprang hinüber, schloß den Wasserhahn und zog die Kette in die Höhe, so daß das Wasser abfließen konnte. Wieviele kleine siebzehnjährige Maries ließen in dieser Zeit nicht die Badewannen überlaufen!
»Und nun bist du traurig, weil du niemand hast, mit dem du am Sonntag in den Prater gehen kannst?« Marie wurde dunkelrot über ihr ganzes, verweintes Gesicht: »Nein … es ist, weil … weil er Kriegstrauung haben will … und dazu hab' ich nicht den Mut … und dann sagt er, daß ich mir nichts aus ihm mache …«
»Du meinst, du bist zu jung zum Heiraten?« Marie schüttelte heftig den Kopf: »Nein, gar nicht … aber … ich bin so bange davor, Witwe zu werden …«
Ida mußte sich Zwang antun, um ernsthaft zu bleiben: »Ich will nur wünschen, daß du ihn nicht zu trösten versuchst, indem du ihm den Grund angibst!« Marie schluchzte weiter. Ida kam ein Gedanke: »Sag' du ihm nur, du wolltest fürs Leben gern heiraten, du wolltest aber erst gern deine Aussteuer fertighaben … Ich schenke dir Leinen zu Bettlaken und Kissenbezügen, und die nähst du dir diesen Winter selbst. Soll das ein Wort sein?«
Marie strahlte bei dem Gedanken.
»Du hast dich doch wohl für ihn photographieren lassen? So ein kleines Schäfchen! Schnell in deinen feinsten Staat und hin zum Photographen! Wenn er zwei Bilder von dir in der Brusttasche trägt, – eins von vorne und eins von der Seite – dann kann nicht einmal eine Kanonenkugel ihm etwas anhaben … Und wenn du nun die Güte haben wolltest zu verschwinden, damit ich mein Bad nehmen kann!« Als das Mädchen in der Tür war, rief Ida ihr nach: »Mit einem Lächeln bis an die Ohren, aber keine gebrannten Haare, wenn ich bitten darf!«
Während Ida ihr Bad nahm, grübelte sie darüber nach, was bei Montuanas geschehen sein könne. Etwas Ernsthaftes mußte es sein, sonst hätte Sebastian nicht in dem Ton gesprochen.
Montuanas waren ihre besonderen Lieblinge. In Luxus herangewachsen, waren sie beide zur selben Zeit verwaist, und durch einen sonderbaren Zufall war das Vermögen beider Familien zu fast nichts zusammengeschmolzen. Die jungen Menschenkinder fingen an zu studieren, um sich dadurch einen Erwerb zu schaffen, aber das Studium füllte sie nicht aus. Sie zogen es vor, in Museen oder bei Althändlern und auf Versteigerungen herumzustöbern. Ihr ganzes Sehnen und Trachten war auf alte Kunst, alte schöne Möbel, Teppiche, Bilder und Kleinodien gerichtet.
Eines Tages machte ihnen Ida den Vorschlag, zu heiraten, das Studium an den Nagel zu hängen und sich in Zukunft ganz der Tätigkeit zu widmen, die ihnen zusagte. Drei Monate später waren sie in einem kleinen, efeuumrankten Gartenhäuschen eingerichtet, zu dem man durch einen Torweg und über einen Hof gelangte. Ida hatte ihnen das erforderliche Betriebskapital verschafft, einige wenige Tausende alles in allem, und nun flogen sie umher und sammelten Möbel und Hausgerät für ihr kleines Heim. Aber das stand alles nur so lange in ihren Stuben, bis sie einen Liebhaber dafür fanden. Sebastian bildete sich als Fachmann auf dem Gebiet des Porzellans aus und erwarb allmählich eine gründliche Kenntnis alter Instrumente. Veronika verstand sich auf Spitzen und Kupferstiche. Abwechselnd gingen sie auf Versteigerungen – einer mußte zu Hause bleiben, um Kunden zu empfangen. Aber wenn das Wetter verlockend war, schlossen sie die Tür ab und wanderten in die Berge hinaus.
Das kleine Gartenhaus wurde – dank der Reklame, die Ida und ihr Kreis dafür machten – bald eine Sehenswürdigkeit, die kein zureisender Freund sich entgehen ließ. Ebenso wurde es für wohlhabende junge Paare, die ihren eigenen Herd gründen wollten, Sitte, sich an Montuanas zu wenden. Diese verschafften dann nicht nur die Einrichtung, sondern gestalteten auch das Heim nach ihrem Geschmack.
Sie hatten den gleichen Genuß davon, für andere einzukaufen, wie für sich selbst zu sammeln. Ida, die nie eine Gelegenheit versäumte, ihren Freunden zu helfen, mochten sie nahe oder in der Ferne wohnen, schaffte durch Montuanas auch Hilda Fersen Arbeit. So verfertigte Hilda alle Stickereien und Wandbehänge und Tischdecken für die Wohnungen, deren Einrichtung Montuanas übertragen wurde. Der Geschmack und die Anmut, womit sie ein Haus auszustatten wußten, wurde geradezu sprichwörtlich, und zeitweise hatten sie mehr Arbeit, als sie auszuführen vermochten. Nur eins machte Ida Schwierigkeiten: sie dazu zu bringen, auf die finanzielle Seite des Geschäfts hinreichend Wert zu legen. Nach dieser Richtung hin waren sie beide unbeschreiblich leichtsinnig, und oft mußte sie sich aufraffen und ihnen eine donnernde Strafpredigt halten, die dann für eine kleine Weile half.
Ihr Dasein war golden und gut. Sie waren ganz an ihrem Platz und hatten Freuden vom Morgen bis zum Abend. Ja, oft standen sie in Mondscheinnächten auf, um die Silhouetten der Stephansdoms und alter Paläste zu beobachten, die man ihrer Ansicht nach im Mondlicht sehen mußte.
Wenn im Spätfrühling die Menschen anfingen, in die Berge hinauszuziehen, kam die Wanderlust über sie. Dann vermieteten sie ihre Wohnung mit allen Schätzen darin und begaben sich auf der römischen Landstraße über den Semmeringpaß nach Italien. Die Städte, die sie so gut von Reisen in den Wohlstandstagen ihrer Kindheit kannten, standen da und warteten wie gute Freunde, mit ausgebreiteten Armen auf sie. Montuanas betrachteten alles Schöne als ihr rechtmäßiges Eigentum. Das Gefühl des Besitzes, das den Dingen erst Wert verleiht, wenn man sie hinter Schloß und Riegel aufbewahren kann und sie nicht mit andern zu teilen braucht, kannten sie nicht. Sie konnten viele Meilen wandern, um einen alten Brunnen oder einen verrosteten Fackelträger wiederzusehen, der einmal ihr Auge erfreut hatte. In einer Stadt hatten sie ein herrliches altes Klavizimbel stehen – in einem Museum; in einer anderen lag bei einem Althändler eine zerlumpte Spitze aus Ghirlandajos Zeit. Jedesmal, wenn sie diese Gegenstände sahen, hatten sie die volle Besitzerfreude daran. Auf dem Wege hinunter pflegte Sebastian eine alte, zerbrochene Laute zu kaufen, die er geschickt wiederherstellte, um sie, wenn er sich auf dem Rückwege den Alpen näherte, zu verkaufen. Darauf klimperte er, während Veronika mit ihrer kleinen Stimme, die genau so spröde und porzellanfein war wie sie selber, Arien und Gassenhauer dazu sang.
Hatten sie kein Geld, um im Gasthaus einzukehren, so schliefen sie unter freiem Himmel oder auf einer steinernen Treppe in der Nähe einer plätschernden Fontäne. Sebastians Mantel schirmte sie beide gegen die Kälte der Steine. Oder sie schliefen bei den Bauern, denen Veronika ein Huhn abkaufte, das man gemeinsam verzehrte. Sie schämten sich nicht, mit einer durchgefetteten Tüte voll Fritto misto umherzugehen, das sie mit den Fingern aßen, glühendheiß, wie es aus dem Ölkessel gekommen war.
Allmählich erwarben sie eine artige Schar von Freunden am Wege entlang, und wohin sie kamen, wurden sie mit derselben Freude begrüßt wie im Norden die Schwalben beim Nahen des Frühlings.
Veronika, die sonst mit ihren gedrechselten Gliedern, ihrer blendenden Haut und ihren kleinen, anspruchsvollen Bewegungen einer Gestalt aus der Rokokozeit glich, kehrte nach jedem italienischen Sommer gebräunt und ausgelassen wie einer von Murillos Gassenbuben zurück, bis an die Kehle angefüllt mit allerlei lustigen und dreisten Liedern, die sie unterwegs aufgelesen hatte.
Diesen Frühling waren sie Ende April gen Süden gezogen, und Ida hatte nur durch ein paar Freunde, die ihnen zufällig begegnet waren, Grüße von ihnen erhalten. Die Fürstin hätte sie gern mit der übrigen Jugend auf dem Gut gesehen; aber Veronika hatte den Kopf geschüttelt, sie konnte ihr Vagabundenleben in Italien nicht aufgeben.
Ida beeilte sich mit dem Ankleiden, nahm einen Wagen und jagte nach Hietzing hinaus, wo Montuanas wohnten. Sie schellte, aber niemand öffnete. Die Tür war nicht abgeschlossen, so ging sie denn hinein. Da saß Veronika mitten im Zimmer in einem antiken Lehnsessel mit vergoldetem Rohrgeflecht. Sie trug ein weites, grünes Damastgewand, das abstand wie eine Krinoline. Der kleine, starkrote Mund war hart zusammengepreßt. Sie grüßte nicht, als Ida eintrat, und sie beantwortete auch Idas Gruß nicht.
»Wo ist Sebastian?« Keine Antwort. Ohne sich weiter um Veronikas finstern Blick zu bekümmern, ging Ida in das Nebenzimmer, von woher Sebastian rief. Er lag auf dem Diwan mit einem Verband um den einen Fuß. Er sah bleich und leidend aus. »Darf ich mir die Frage erlauben, was sich hier zugetragen hat?« Montuana zeigte Ida einen Revolver und wies auf die Tür.
»Veronika?« Er nickte. »Und der Grund?« Wenn es darauf ankam, verschwendete Ida keine überflüssigen Worte. Endlich brachte sie den Zusammenhang aus ihm heraus, und als sie alles erfahren hatte, machte sie sich ruhig lächelnd daran, den ungeschickt angelegten Verband zu lösen, um den Umfang der Wunde zu untersuchen.
»Die Kugel sitzt noch darin?« »Ja!« »Dann schicke ich meinen Arzt heraus, der stellt keine naseweisen Fragen!« »Aber ich sollte mich heute stellen!« »Ich schaffe dir ein ärztliches Attest, dann hast du vierzehn Tage, um die Wunde heilen zu lassen!« Sie strich Sebastian über das wirre Haar: »Hätte ich ahnen können, daß ihr beide ein paar so unvernünftige Kinder seid, dann hätte ich euch ein Kindermädchen gedungen, das auf euch aufpassen muß, wenn ich nicht da bin!«
Und sie ging zu Veronika hinein, die noch immer in derselben Stellung sah, zierlich, steif und stumm wie ein Porzellanpüppchen. Sie küßte sie auf die trotzigen Augen: »Hör' jetzt einmal, liebe Veronika, es ist ja ganz natürlich, daß du deinen Mann am liebsten bei dir behalten willst, so wie die Dinge liegen, aber du hast dir doch wohl nicht einen einzigen Augenblick einbilden können, daß eine Kugel durch den Fuß der richtige Weg dazu ist, wie? Du liefst ja nicht nur Gefahr, die Knochen im Fußgelenk zu zersplittern, sondern auch entdeckt und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Und dann hätte es nichts genützt, wenn wir davor gestanden und an der Tür gerüttelt hätten. Ich glaube auch nicht, daß der kleine Herr oder das kleine Fräulein Montuana, das ihr euch gerade eben aus Italien mitgebracht habt, sonderlich entzückt davon sein würde, im Gefängnis geboren zu werden!«
Das Porzellanpüppchen rührte sich nicht. Ja, jetzt glättete eine Hand die Falten des Kleides, und ein Fuß mit einem Spangenschuh steckte die Spitze vor.
Ida traten plötzlich Tränen in die Augen: »Würdest du, Veronika, wenn du es könntest, dich der Pflicht entziehen, die es jetzt so schwer macht, Gattin und Mutter zu sein? Würdest du das tun? Könntest du umhergehen und fröhlich sein, wenn du die armen Arbeiterfrauen ohne Versorger sähest? Könntest du dich sicher fühlen, wenn du dir Sebastian frei gestohlen hättest?«
Jetzt trennten sich die roten Lippen: »Ich denke an das Kind – nicht an mich selbst!«
»Glaubst du etwa nicht, daß hier ringsumher im Lande Hunderttausende von Frauen sitzen, die, so wie du, an das Kind denken und nicht an sich selbst, und die trotzdem nicht so töricht handeln wie du!«
»Dann sind sie zu feige dazu!«
»Nein, Veronika, es gehört ein größerer Mut dazu, seine Pflicht zu tun, als sich ihr hinterlistig zu entziehen. Und das ist auch gar nicht dein Ernst. Aber du warst ganz außer dir, und nun bist du im Innersten deines Herzens froh darüber, daß kein größerer Schaden angerichtet ist!«
Veronika erhob sich mit großem Anstand: »Wenn du es verlangst, will ich gern hingehen und mich bei der Polizei melden. Ich vertrete, was ich getan habe!«
Aber Ida sah, daß sie gesiegt hatte: »Und wer sagt denn überhaupt, daß Sebastian genommen wird? Wer sagt, daß er die erforderliche Brustweite hat?«
Der Umschlag war eingetreten. Veronika sah in die Luft hinaus: »Ich will es nicht besser haben als die anderen! Jetzt wünsche ich, daß Sebastian mitgehen könnte!«
Ida schlug die Hände zusammen: »Als ob ich auch nur einen einzigen Augenblick daran gezweifelt hätte! Aber nun habe ich fünf Kronen für einen Wagen verausgabt, um die Neuigkeit zu erfahren, daß die Familie im Begriff ist, sich zu vermehren, nur, weil du zu faul bist, mir zwei Worte zu senden. Jetzt mußt du mir eine Tasse Kaffee und zwei Eier geben, sonst steht morgen in den Zeitungen unter der Überschrift: Erstes Opfer des Krieges! daß die bekannte Opernsängerin Ida Witt tot auf der Straße gefunden wurde – verhungert! Und das kannst du ebensowenig auf deinem leichtfertigen Gewissen haben wie einen verstümmelten Sebastian!«
Zwei Minuten später war das kleine grüne Porzellanpüppchen mit dem Rahmtopf in der Hand unterwegs, und bald besiegelte das Kleeblatt den Vergleich, indem es mit dem allergrößten Appetit aß.
Als Ida nach Hause kam, mußte sie sich eine Stunde hinlegen. Und dank ihrer gesunden Natur schlief sie in dieser Stunde so fest, daß sie sich, als sie geweckt wurde, so frisch fühlte, als habe sie Tag und Nacht geschlafen. Jetzt erst dachte sie daran, nach ihrer Post zu fragen. Da lagen Haufen von Briefen und Telegrammen. Sie riß sie auf, nach der Reihenfolge, in der sie lagen. Durch Tränen lächelnd, sah sie, wie die Freunde von nah und fern an sie gedacht und sich getrieben gefühlt hatten, gerade ihr gegenüber ihrem Herzen Luft zu machen. Jeder Brief war ein menschliches Dokument höchsten Ranges. Obwohl sie vor allen Dingen das Menschliche suchte, konnte sie doch nicht umhin, auch als Künstler zu genießen. Sie spürte, wie die Gewaltsamkeit der Ereignisse selbst diejenigen, die sich im täglichen Leben der Erde nahe hielten, sich in Stimmung und Wortwahl zu erhabenen Höhen emporschwingen ließ. Sie dachte einen Augenblick, welcher Segen es sein würde, wenn ein berufener Mann eine Reihe solcher Briefe sammelte und sie veröffentlichte, als Beweis dafür, daß, wenn auch die Grenzen des Landes eng gezogen waren, der Horizont der Fragen ohne Grenzen war.
Des Freundes Händedruck und die seelischen Umarmungen dieser Briefe erfüllten sie mit unsagbarem Stolz. Solche Freunde besah sie und konnte sie nie verlieren! Wie stark auch ihr persönliches Wohl und Wehe vom Kriege beeinflußt werden würde, auch nicht einer der Briefe zeugte von einem selbstsüchtigen Sichbefassen mit sich allein. Ein jeder der Freunde war wie ein Staat für sich mit Pflichten und Verantwortung allen gegenüber. Durch alle Briefe hindurch klang derselbe Unterton: Was kann ich tun, um mit allen meinen Kräften zu helfen?
Idas Gedanken waren schon mit den Antworten beschäftigt. Sie sah die riesenhafte soziale Arbeit vor sich liegen, die in erster Linie auf den Frauen ruhte, ohne Unterschied des Standes oder der Verhältnisse, und sie beschloß, ein paar Tage nach dem Semmering zu fahren, um, allein mit der großen Natur, Pläne zu machen.
Der Haufe war fast zu Ende gelesen – und Stunden waren damit hingegangen –, als ihr ein Telegramm in die Hände fiel. Es war aus Petersburg; wahrscheinlich, dachte sie, von Gunhild von Payn, die, wie sie wußte, dort Gastspiele gegeben hatte. Aber als sie es öffnete, schwanden Mauern und Wände, der Krieg war ausgelöscht, sie sah in die Sonne hinein …
»Fünf Jahre lang ist meine Seele von einer einzigen Frau erfüllt gewesen. Erst jetzt weiß ich, wer die Frau war, die mir in jener Sommernacht gegenübersaß. Antworten Sie mir, ob ich kommen darf! Ob Sie mich erwartet haben, wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe. Antworten Sie mir aber sofort! Jede Minute der Ungewißheit ist eine Qual.
Andreas Widrin.
Hôtel de l'Europe, St. Petersburg.«
Ida griff nach einer Feder. Sie wollte nicht zögern, nein, nein, nicht zögern. Aber ihre Hand zitterte, so daß die Buchstaben unleserlich wurden. Lächelnd griff sie mit der linken Hand fest um das Handgelenk der rechten wie Voltaire auf dem Schwarz-Weiß-Blatt – und nun gelang es.
Sie schellte und Marie erschien, noch in ihrem ganzen Staat vom Photographieren: »Fliege, Marie, fliege!« Und Marie flog, ohne zu verstehen.
Ida stürmte in die Küche hinab, wo die Köchin, Frau Pohlidal, Fettaugen von der Suppe schäumte und sich mit dem Schürzenzipfel im Gesicht herumwischte.
»Ach, liebe Pohlidal, laufen Sie doch mal nach dem ersten, besten Blumenladen und kaufen Sie einen Buschen Rosen – große Rosen, viele Rosen, Rosen mit Duft!« Sie schwenkte Frau Pohlidal herum, so daß ihre Röcke sausten: »Ich werde so lange rühren! Laufen Sie!« Und während die Köchin auf die Straße hinausstürzte, rührte Ida im Kochtopf herum, als mahle sie Kaffee, und sang dazu, als stünde sie vor ausverkauftem Hause auf der Bühne.
Frau Pohlidal brachte die Rosen. Ida fragte ganz erstaunt: »Von wem sind die?« Die Köchin sah sie an wie eine Verrückte. Jetzt entsann sie sich und preßte die Blumen gegen ihr Antlitz: »Gratulieren Sie mir, liebe Pohlidal, ich habe mich verlobt!«
Frau Pohlidal sank nieder und küßte ihr die Hände. Als sie wieder ein wenig zu sich kam, konnte sie sich nicht enthalten zu fragen: »Dann haben gnädiges Fräulein wohl Kriegstrauung?« Idas Augen strahlten: »Aber natürlich!« Sie ahnte gar nicht, was die Köchin gesagt hatte. Die aber fand, daß das zu erfreulich sei, und fing an über ihren eigenen Kummer zu weinen.
»Was haben Sie denn nur, Frau Pohlidal? Ich hatte den Krieg ganz vergessen!« Die Köchin weinte, so daß ihr beständig rotes Gesicht ganz scheckig aussah: »Er muß ja mit, und ich glaube, er freut sich. Er sagt immer, ich wäre der ärgste Zankteufel, den er je gesehen hätte … Und das ist wahr. Ich bin zanksüchtig, aber daran ist das Feuer schuld … Wenn man immer über der Kohlenglut steht, steigt einem die Hitze zu Kopf, und dann werd' ich so fürchterlich wütend … Aber ich denke mir ja nichts dabei … Und nun ist es so schwer, wenn ich mir vorstelle, daß er sich bloß darum erschießen lassen will, um von meiner Zanksucht loszukommen … Denn das Feuer ist schuld daran, einzig und allein das Feuer …«
Wieder schoß ein glücklicher Gedanke durch Idas Gehirn: »Sie haben recht, liebe Pohlidal, die Kohlenglut ist schuld daran. Alle Köche werden bösartig. Aber der Sache wollen wir schnell ein Ende machen. Heute noch telegraphiere ich an den Installateur. Wir wollen einen Gasherd haben. Und eins, zwei, drei sind Sie der frommste Engel von der Welt. Ihr Mann glaubt, daß ein Wunder geschehen ist. Lassen Sie ihn kommen, Frau Pohlidal, und kochen Sie ihm seine Leibgerichte zu Abend – dann erzähle ich ihm von dem Gasofen!«
Die kleine Marie huschte ganz atemlos mit Telegramm und Geld zur Tür herein: »Sie wollten keine Telegramme nach Rußland annehmen, weil Krieg ist!« Ida hielt die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Aber sie ließ sich nicht durch ein Hindernis abschrecken. »Hut und Mantel, den schwarzseidenen … und Handschuhe und Schleier … und Visitenkarten …« Die Rosen lagen auf dem Küchentisch. »Einen Wagen, Frau Pohlidal!« Während Marie ihr beim Anziehen behilflich war, zerpflückte sie die Rosen und streute die Blumen über den Tisch und den Fußboden. Die letzte Handvoll warf sie mit einem vielsagenden, an Marie gewendeten Blick in die kochenden und brodelnden Kochtöpfe: »Kleopatra aß Perlen, da können wir wohl Rosen vertragen!«
»Russische Botschaft!« Und der Wagen hielt. Die Russische Botschaft war nicht mehr in Wien. »Wir haben ja Krieg mit Rußland!« »Wer vertritt die russischen Angelegenheiten?« Sie erhielt die Adresse der Amerikanischen Botschaft und jagte dorthin. Mit der Absendung von Privattelegrammen könne man sich nicht befassen – selbst wo es sich um eine so hervorragende Persönlichkeit wie das gnädige Fräulein handelte …
»Zur Dänischen Gesandtschaft!« Es war ihr plötzlich eingefallen, daß ein Telegramm möglicherweise über eins der neutralen Länder befördert werden könnte. Schickte sie selber es ab, so würde die russische Adresse es verdächtig machen, und wahrscheinlich würde es angehalten werden. Im Schutz der Gesandtschaft war es sicher. Ida wollte die Sache nicht verloren geben. Die freundliche Ablehnung des Gesandten ließ sie nur die Fäuste ballen: »Das Telegramm ist an meinen Verlobten!« »Ist er Russe?« Was nun? Sie hatte keine Ahnung von seiner Nationalität. Andreas Widrin … Ja, der Name deutete darauf hin. Und noch etwas: es war mit ihm eine Woge von Zigarettenduft ins Abteil gekommen. »Ja, er ist Russe!«
Der Gesandte versprach ihr schließlich, das Telegramm an die Russische Gesandtschaft in Kopenhagen zu senden und dort zu bitten, daß man es weiter beförderte. Ida begriff, daß dies in der Tat eine Gefälligkeit war, und sie dankte aufs wärmste.
Als sie nach Hause kam, befand sie sich in einer so zitternden Gemütserregung, daß sie sich einschließen mußte, um zu weinen. Wieder holte sie das Telegramm hervor und untersuchte es, als könne sie, wenn sie es sorgfältig las, mehr aus den wenigen Zeilen herausfinden. Und sie fand mehr heraus: Das Telegramm war vor zehn Tagen aus Petersburg abgesandt!
Ihr Blut gefror zu Eis. Zehn Tage und Nächte hatte er Stunde für Stunde, Tag für Tag auf die Antwort gewartet, von der sie noch jetzt nicht wußte, ob sie ihn erreichen würde … Einen Augenblick dachte sie daran, selbst nach Petersburg zu reisen; wie aber sollte sie sich einen Paß verschaffen! Und außerdem, falls er hierher kam, falls er in Wien war! Falls er schon vergebens an ihrer Tür gewesen war und erfahren hatte, daß sie in der Schweiz weilte! Wenn er ihr nachgereist war! Nein, sie mußte bleiben. Aber jemand anders mußte an ihrer Statt reisen. Diesmal sollte er ihr nicht entschwinden wie ein Nebelbild.
Welchen Russen, Mann oder Frau, kannte sie, der die Reise nach Kopenhagen machen und von dort telegraphieren und auf Antwort warten konnte? Ihre Schwägerin Katharina! Wenn die nicht bereits in ihre Heimat zurückgekehrt war!
Ida telegraphierte nach Jena an die Eltern und erfuhr am nächsten Tage, daß Katharina bei ihnen sei, und daß ihr Bruder Erwin schon einberufen war und sich auf dem Wege zur Front befand.
Die Reise nach Jena würde unter diesen Umständen mindestens achtundvierzig Stunden in Anspruch nehmen – vielleicht mehr. Sie sah nach der Uhr: In drei Stunden ging der Abendzug. Im Laufe von drei Stunden mußte sie den Brief an die Schwägerin fertig haben, und zwar so ausführlich, daß kein Mißverständnis möglich war, und mußte außerdem noch den Menschen gefunden haben, der den Brief nach Jena bringen konnte. Sie ließ Marie an alle möglichen Freunde telephonieren und ihre Ankunft mitteilen, um zu erfahren, wer in Wien war. Ihre Wahl fiel auf Doktor Leuß, einen jungen Musikhistoriker, der auch ein guter Freund von Erwin war. Durch das Telephon machte sie ihm klar, daß er seinen Handkoffer packen und eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges auf dem Nordwestbahnhof sein müsse. »Ein Paß?« Ja, der müsse beschafft werden.
Ida wußte, daß er beschafft werden würde. Sie kannte ihre Freunde. Der eine würde für den anderen bis ans Ende der Welt reisen, falls es erforderlich war. So faßten die Freunde und sie selber wahre Freundschaft auf. Und eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges war Doktor Leuß mit Paß und Handtasche auf dem Bahnhof. Ida gab ihm ihre Verhaltungsmaßregeln. Er sollte in Jena warten, bis die Schwägerin aus Kopenhagen zurückkehrte. Aber dann durfte er auch nicht einen einzigen Zug versäumen.
Ida rechnete aus, daß mindestens eine Woche vergehen würde, ehe sie erfuhr, ob Widrin ihr Telegramm erhalten hatte, und ob er noch in Petersburg weilte. Wenn sie während dieser Woche nicht so mit Arbeit überbürdet war, daß sie fast darunter zusammenbrach, würden die Nerven versagen. Also Arbeit … Arbeit …
Ida wußte nicht und konnte nicht wissen, daß Andreas Widrin zu diesem Zeitpunkt in ein russisches Ingenieurkorps eingezogen war und sich auf dem Wege nach Ostpreußen befand. Abwechselnd hatte er auf Antwort gewartet und sich der Verzweiflung hingegeben. Keinen Augenblick war ihm der Gedanke gekommen, daß das Telegramm nicht sofort in ihre Hände gelangt sei. Daß sie ihn keiner Antwort würdigte, war ihm Antwort genug.
Da war nichts mehr zu hoffen, aber auch nichts mehr zu verlieren. Möglicherweise war das Vergessen, das einzige, wonach er sich jetzt noch sehnte, auf dem Schlachtfelde zu finden. Widrin handelte jedoch nicht ganz blindlings. Er war sich bewußt, daß er als russischer Untertan, solange der Krieg währte, nicht über Rußlands Grenzen hinausgelangen konnte, außer gerade auf diese Weise, und die Rastlosigkeit, die stets auf dem Grunde seines schwermütigen Sinnes lag, ließ ihn einen langen Aufenthalt in Rußland als eine Verweisung betrachten, wenn nicht als etwas noch Schlimmeres. Er hatte den Entschluß gefaßt, wenn der Krieg ihm nicht den Lebensmut zurückgab, zu desertieren, was er für eine verhältnismäßig leichte Sache hielt.
Die angestrengten Märsche taten ihm wohl. Und nun war er zum erstenmal in naher Berührung mit dem russischen Volk, das der Vater so glühend liebte. Er entdeckte staunend, wieviel er gemein hatte mit diesen plumpen und naiven Bauern, und langsam unterwarf er sich dem bezaubernden Gefühl, »unter seinen Brüdern« zu sein. Der Vaterlandslose hatte sein Vaterland gefunden.
Andreas Widrin war einer von den Tausenden, die in die masurischen Sümpfe hinausgelockt wurden. Seine gründliche und instinktive Kenntnis der Bodenverhältnisse ließ ihn – auch ohne daß er die Karte der Gegend studiert hatte – die Möglichkeit einer Gefahr ahnen. Seine scharfen Augen sahen, daß die Wege neugebaut waren, daß die Bäume, die sie einfaßten, frisch gepflanzt waren. Keine Vögel bauten Nester in ihnen. Die Rinde trug Anzeichen, daß die Bäume früher dem Lichte anders zugekehrt gestanden hatten. Sein scharfer Geruchsinn verkündete ihm die Nähe der Sümpfe.
Ein überlegenes Kopfschütteln war der Dank, den er erhielt, als er auf seine Entdeckungen aufmerksam machte. Da führte er seine Pionierarbeit aus, ohne sich um das übrige zu bekümmern.
Als der Marsch zum Eilmarsch wurde und der Eilmarsch zur Flucht, und als die Flucht in wilde Panik ausartete, wurde er mit fortgerissen.
Nicht einmal das Schreien der vordersten Abteilungen vermochte jetzt die vorwärtsflutenden Horden zurückzuhalten. Widrin begriff, was hier vor sich ging, lange bevor er unter seinen Füßen das Nachgeben des Erdbodens spürte. Er hatte ja nichts zu hoffen, aber auch nichts zu verlieren. Sein Revolver würde ihn im letzten Augenblick gegen den Tod sichern, der den Kameraden gewiß war.
Es kam eine Stunde – eine von den Stunden, die die Ewigkeit enthalten –, wo er, so weit das Auge reichte, sah, wie ein Wald von Menschen und Tieren, langsam, Linie auf Linie, Zoll für Zoll versank. Wo er das Gebrüll aus Zehntausenden zum Tode erschreckten Kehlen zum Himmel um Hilfe emporflehen hörte, die ausblieb. Er war leichter oder behender oder vielleicht auch glücklicher als die andern. Er unterschied sicher jede Erderhöhung, die das Gewicht eines Körpers bis zu der Sekunde zu tragen vermochte, wo die nächste Erhöhung gefunden war.
Aber er war von dem verschont, was sein Gehirn ihm unaufhörlich vorgaukelte – und was er nicht erleben wollte. Als die Sonne unterging über Schreien, die roter waren als Blut, sich in Augen spiegelnd, die brachen, ehe sich der Tod ihrer erbarmte, als die Nacht den Sargdeckel über diese Lebendigbegrabenen niederdrückte, die heiser schrien wie Raben, weil ihnen der Schlamm Nase und Mund füllte – – da sprang Widrin, selbst wahnsinnig vor Grauen, seinen Revolver und seine Absicht vergessend, über diese sinkenden Leiber dahin. Sprang um sein Leben. Unter seinen Füßen spürte er den letzten schwachen Widerstand der lebenden Leichen.