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Liebste Evelyn!
Kehre Dich nicht daran, daß das Papier nach Karbol riecht. Wir haben ein paar Fälle von Flecktyphus, und da gilt es vorsichtig zu sein. Das war Schwester Trude nicht, und sie wurde gestern begraben. Ich bin nicht bange vor Ansteckung, aber es gibt Krankheiten, an denen ich lieber sterben möchte als an Flecktyphus.
Die ersten sechs Wochen waren schlimm. Ich hatte immer Kopfschmerzen, die Beine schwollen mir an, und es tat so weh in meinem Rücken, daß ich mich meistens in Schlaf weinte. Und dann hatte ich eine solche Hundeangst, etwas zu vergessen oder etwas verkehrt zu machen. Mein Deutsch ist ja nicht so glänzend, wie ich selbst glaube, aber nun fängt es an besser damit zu werden. Noch bin ich des Abends entsetzlich müde und werfe die Kleider auf den Boden, als wäre ich ein Baby. Aber ich erwache auf die Minute und freue mich ebensosehr auf meine Arbeit wie in New Rochelle auf meinen Morgenritt.
Weißt Du noch, wie Großpapa lachte, als ich einmal fragte, ob ein Floh singen könne? Ich glaubte wohl, es sei eine Art Vogel. Jetzt bin ich sachverständig auf dem Gebiet. Ich bin überzeugt, ich weiß ebensoviel über das Leben der Läuse wie mein berühmter Professor vom Schiff (und von hier) über seine Höhlenwürmer. Denk' Dir, ich traf ihn neulich in einem der Gänge, zwischen zwei Stöcken humpelnd und mit nur einem Ohr. Ich war nahe daran, ihm um den Hals zu fallen. Daß sie ihm nicht beide Ohren und alle Hände und Füße abgeschnitten haben, ist mir geradezu ein Rätsel, so ein kurzsichtiger Herr! Aber er dachte wahrhaftig nur daran, wieder hinauszukommen. Als ich ihn nach seinen Höhlenwürmern fragte, sagte er, ob ich sie sehen wolle. Und, weiß Gott, der Mann hatte, hier im Spital, ein Riesenbauer – ja, es waren im Grunde zwei Glaskästen, der eine um den anderen herum, und darin befanden sich die Höhlenwürmer; offen gestanden, sind sowohl Läuse als auch Flöhe amüsanter. Da hat man doch wenigstens dieselbe Freude, als wenn man in den Krieg zieht und totschlägt, während es eine schreckliche Arbeit zu sein scheint, die Höhlenwürmer am Leben zu erhalten.
Meine Hände sind mindestens drei Nummern gewachsen, und meine Füße sechs – aber ich soll ja keine Aschenbrödelschuhe anprobieren, um einen Prinzen und ein halbes Königreich zu bekommen.
Am letzten Sonntag war ich bei der Generalin von Treschau. Sie war ein wenig erstaunt, mich zu sehen, hinterher aber war sie so süß und lieb. Ich glaube wohl, sie erriet, weswegen ich kam, denn sie las mir (ganz von selbst) einen von Helwigs Briefen vor. Der war gleichsam mit Eisen geschrieben. Jetzt verstehe ich gar nicht, daß ich da oben bei der Mitternachtsonne so albern war. Als mir Tränen in die Augen traten, tat sie so, als sähe sie es nicht, und ging an das Fenster. Sie bat mich, einen Gruß unter ihren Brief zu schreiben, und das tat ich … Das heißt doch nicht freien!
Kannst Du Dir vorstellen, daß ich da sitze und einem Soldaten, der Starrkrampf hat und in zwei Stunden sterben muß, Niggerlieder vorsinge? Das hab' ich gestern getan. Er konnte sich nicht rühren, sondern lag nur da und bewegte den Kopf ein wenig und zeigte die Zähne. Anfangs lief es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich jemanden sterben sah, aber jetzt sorge ich nur dafür, daß sie selbst keine Ahnung davon haben. Da war einer, der darauf wartete, daß der Kaiser selbst mit dem Eisernen Kreuz zu ihm kommen sollte. Da spielte ich Kaiser und lieh mir ein Eisernes Kreuz von einem der Ärzte. Du hättest sehen sollen, wie er sich aufrichtete und Honneurs machte. Fünf Minuten darauf war er tot.
Bilde dir nur ja nicht ein, daß ich eine Kopfhängerin geworden bin! Ich bin genau so lustig wie früher. Ich bin nur inwendig ein wenig verändert. Ungefähr so, wie wenn ein Staubsauger in den inneren Teilen Großreinemachen vorgenommen hätte. Und dann habe ich angefangen einzusehen, daß die Welt nicht mit mir steht und fällt.
Evelyn! ich bin so stolz und froh darüber, daß Du Dich auch als Deutsche fühlst, und daß Du all Dein erspartes Geld zu der Sammlung gegeben hast. Ach, wenn ich doch auch was zu geben hätte! Aber ich habe mir vorgenommen, daß ich mit meinem Gehalt auskommen will – in Amerika würde es zwar nicht für den Zahnarzt ausreichen.
Gewissermaßen vergeht hier im Spital ein Tag wie der andere, und doch habe ich das Gefühl, als wenn ich zum erstenmal im Leben wirklich atme: erlebe!
Neulich hatte ich ein, wie Du es nennen würdest, »richtiges« Erlebnis. Jetzt sollst Du hören: Du entsinnst Dich wohl noch, daß ich von Fränze Vogt schrieb (der Mann mit den vielen Tabakfabriken in Thüringen), in der vorigen Woche war ihr Geburtstag, und ich war zu Mittag eingeladen. Wir bekamen nur zwei Gerichte und mußten uns damit begnügen, im Eßzimmer zu sein, obwohl die Villa dreimal so groß ist wie die Eure. Weißt Du, womit das Haus angefüllt ist? Aber Du darfst es keinem Menschen erzählen.
Eine von den Geladenen vertraute es mir an, weil sie es ihnen sogleich ansehen konnte. Mit der Art, die zum weißen Sklavenhandel gehören! Was sagst Du dazu? Sie wohnen da, weil sie sonst verhungern würden, und am Tage nähen sie Hemden für die Soldaten und machen Decken aus Zeitungspapier und dergleichen. Wir sahen sie natürlich nicht. Fränze selbst sagt, daß es »Arbeitslose« sind.
Sie hatte sich nur Geld gewünscht und alle Gäste kamen, jeder mit einer Blume oder mit einem Strauß, der mit in Stanniol gewickelten Münzen behängt war. Einige hatten das Geld in den Blumentopf vergraben. Du kannst mir glauben, es war ein Fest, das herauszubuddeln!
Bei Tische stand Fränze auf und hielt eine Rede. Sie sagte etwas von dem Vaterland und der neuen Kriegsanleihe, und wer etwas übrig hätte, sollte es in einen Korb legen, der die Runde mache. Fränze legte zuerst ein Armband hinein, und dann rasselten die Armbänder von dem ganzen Kreis in den Korb. Das nächste Mal legte sie ihre Halskette (Platin mit einem herrlichen Solitär) hinein, und die Damen sahen einander und ihre Männer an, und wupp, da gingen die Ketten hin, eine nach der anderen. Fränze war unersättlich. Sie klingelte und klapperte mit dem Korb und erzählte, daß alle Fabrikarbeiterinnen in Thüringen ihre Trauringe gegeben hätten. Da half kein Weh und Ach! Von den Fingern glitten die Ringe, einige mit Steinen so groß wie Bohnen. Zuallerletzt, als sie alle wie gerupfte Gänse dasaßen (ich war so gemein, daß ich mich freute, weder die Kette noch den Smaragdring angelegt zu haben), legte Fränze ein Stück Papier in den Korb. Und weißt Du, was das war? Ihr Vater, ein himmlischer, alter Herr, der Klavier wie ein Engel spielt und beinahe zum Verlieben ist, vertraute mir mit Tränen in den Augen an, daß es Fränzes ganzes mütterliches Erbe sei, das sie mit Erlaubnis ihres Mannes hergab.
Wenn der Krieg vorbei ist, komme ich zu Dir, um mir das Haar von Alice bürsten zu lassen und um auszuschlafen.
Ich bin todmüde. Gute Nacht, liebe Evelyn, grüße Deinen Gatten. Er ist gar nicht so übel. Sein größter Fehler ist, daß sein Großvater nicht in Thüringen geboren war.