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Die Werke des Krieges

Veronika Montuana hatte den ganzen langen Nachmittag bei Ida Witt gesessen und abwechselnd auf ihre porzellanblassen Hände und auf die Spitzen ihrer Schuhe gestarrt. Ida ließ sie in Ruhe; wenn es Veronika paßte, den Mund zu öffnen, tat sie es ohne Aufforderung, und wenn er geschlossen war, vermochte man ihn nicht mit einer Kneifzange zu öffnen. Seit Sebastian, nach der Heilung des Fußes, in irgendeinem Kasernenhof gedrillt und dann nach Serbien geschickt worden war, hatte sie ihre Tage in stummem Beleidigtsein oder in Grübeleien verbracht. Ida wußte nicht recht, welches von beiden es war. Ihr Vorschlag, daß Veronika ihre hübsche kleine Wohnung in Hietzing vermieten solle, war mit einem höhnischen Lächeln beantwortet worden.

»Ist es nicht genug, daß ich Sebastian massakrieren lasse, soll ich nun auch noch aus dem Heim vertrieben werden, das er und ich aufgebaut haben?«

Sie hatte einen großen staubgrauen Florschal angelegt, der ihren Zustand verhüllen sollte, und sie saß immer von Kopf zu Fuß in diesen Florschal gehüllt, als friere sie und fühle sich von der ganzen Welt gekränkt. Daß sie einen Grund hatte, Ida aufzusuchen, lag auf der Hand. Deswegen wartete diese ganz ruhig, bis es dem kleinen Trotzkopf beliebte, den Mund zu öffnen.

Endlich kam es: »Was, glaubst du, kann ich tun? Meinst du, daß ich dasitzen und auf die Verlustlisten warten soll?«

Ida antwortete ruhig, aufzählend: »Vom Stricken bekommst du Krämpfe in den Fingern! Du hassest den Karbolgeruch, und der Anblick kranker Menschen ist dir ein Greuel! Es langweilt dich, bei den Speisungen zu helfen! Du interessierst dich nicht für anderer Leute Kinder! Du willst keinen Schmutz anrühren! Ich wüßte keine Arbeit, die du mit gutem Willen übernehmen würdest – und ohne guten Willen ist deine Arbeit unbrauchbar!«

Veronika streckte ihren steifen Nacken noch einen halben Zoll: »Kann ich den Arbeitern Reden halten?«

Ida traute ihren eigenen Ohren nicht: »Du, den Arbeitern?«

»Den Arbeiterinnen, meine ich!«

»Worüber willst du reden?«

»Ich will ja nicht dir, sondern den Arbeiterinnen Vorträge halten.«

Ida machte eine scherzhafte Verbeugung: »Majestät haben nur zu befehlen! Wann wünschen Majestät den ersten Vortrag zu halten?« »So bald wie möglich!« »Gut, dann sagen wir heute in acht Tagen. Würde es Euer Majestät passen, den Näherinnen einen Vortrag zu halten, oder geben Majestät den Fabrikarbeiterinnen den Vorzug?« »Ist mir ganz einerlei!« »Verstehst du es auch, einen Vortrag auszuarbeiten?« »Ich habe noch nicht daran gedacht, einen Vortrag auszuarbeiten!« »Ist es deine Absicht, dich hinzustellen und unvorbereitet zu reden?« »Ich weiß, was ich sagen will, das muß doch wohl genügen!« »Wie du willst, kleine Jungfer Starrkopf!«

Und acht Tage darauf stand Veronika in einem großen Saal, der bis auf den letzten Platz voll von Frauen aus dem Arbeiterstande war. Sie selbst war, wie immer, in ihren Schal gehüllt, der in der Entfernung so armselig aussah, daß die Zuhörerinnen schon von vornherein Mitleid mit ihr empfanden. Über dem grauen Schal leuchtete der kleine, feine Kopf mit den gemeißelten Zügen Und dem brennend roten Mund. Sie stand lange da und sah auf die Versammlung hinab, als könne sie sich nicht entschließen zu beginnen. Endlich sprach sie: »Mein Mann ist auch mit,« sagte sie und schwieg wieder.

Ida, die sich hinten im Saal versteckt hatte, litt alle Qualen der Hölle. Es war jetzt mehr als klar, daß Veronika nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie man einen Vortrag hielt oder auch nur eine Rede. Die arbeitenden Frauen warteten geduldig ab, was sie möglicherweise zu sagen hatte. Und plötzlich redete sie drauflos in reißender Geschwindigkeit, die Ida seltsam an ein aufgezogenes mechanisches Spielzeug erinnerte. Sie sprach davon, wie man Briefe schreibe.

Wenn sie die Arme bewegte, sah sie aus wie eine Fledermaus, die ihre Füße in etwas verwickelt hat und sich vergeblich bemüht, wieder loszukommen. Ihre Worte waren ohne Gewicht und Nachdruck und die Sätze ohne Sondergepräge. Jetzt sah Ida, daß sie den einen Augenblick leichenblaß war, und daß im anderen Augenblick Blutwellen über ihr Gesicht hinspülten. Sie fühlte offenbar selbst, daß sie besser zu Hause geblieben wäre. Sie begann nach Worten zu tasten, zu stammeln; schließlich schwieg sie ganz.

In jeder anderen Versammlung würde es Heiterkeit oder Ärgernis erregt haben, wenn ein Vortragsredner in Tränen ausgebrochen wäre und Augen und Nase mit einem großen Tuch abgetrocknet hätte. Aber diese Frauen waren nicht gekommen, um sich zu belustigen oder Ärgernis zu nehmen. Sie sahen nicht auf äußere Formen. Die Tränen überzeugten sie davon, daß die Rednerin das, was sie ihnen zu geben suchte, mochte es sein, was es wolle, selbst für etwas sehr Wichtiges hielt und dafür kämpfte, es zu sagen. Es herrschte Totenstille im Saal, als das kleine verheulte Gesicht endlich mit einem flehenden Lächeln aus den Falten des Schals herauslugte.

Nun hatte sie sich wieder gefaßt, und nun sprach sie. Ihre Stimme war ganz klein, trug aber lange, wie der Klang einer klaren Glocke in stiller Luft. Als sie aufhörte und, gleichsam aus einem Traum erwachend, sich verwundert umsah, brach der Beifall stürmisch los. Sie blieb stehen, als ahne sie nicht, wem es galt. Und die Arbeiterinnen scharten sich um die Rednertribüne. Alle wollten ihr danken, alle waren so bewegt, daß sie weinten. Ida selbst war überwältigt. War das wirklich die kleine Veronika Montuana, die bisher nur die Welt ihres eigenen Glücks gelebt zu haben schien, und die sich nun auf einmal zu einer glühenden Menschenfreundin entfaltet hatte?

Und worüber hatte sie geredet? Niemand hätte die Worte wiedergeben können. Sie waren wie die Wolken, aus denen die Dämmerung gebildet ist. Aber sie hatte an die Herzen aller Anwesenden gepocht, und man hatte sie eingelassen. Eine jede von diesen Frauen, die ermattet waren von der Arbeit um das tägliche Brot und von der Angst um die Lieben, um deretwillen sie die ganze Last der Familienversorgung auf sich genommen hatten, ging nach Hause, als habe sie Schwingen unter den Füßen. Ihre Gedanken waren leichter als Flocken, und ihr Lächeln war heller als der Sommertag. Sie kehrten heim zu ihren ärmlichen Stuben und setzten sich hin, um an die da draußen in den Schützengräben zu schreiben, und während sie schrieben, wich das Lächeln nicht von ihren Lippen, wenn auch Tränen hin und wieder ihre Augen blendeten.

Veronika hatte alle diese klugen und einfältigen Frauen gelehrt, gerade den Brief zu schreiben, der da draußen in dem Schmutz und Elend der Schützengräben wie ein Hochzeitsfest wirken würde. Sie hatte sie das Geheimnis gelehrt, Briefe zu schreiben, so daß jedes Wort wie ein Blatt von der duftenden Rose der Liebe war. Sie hatte ihnen das Verständnis erschlossen, daß es für sie außer der Pflicht, für sich und die Kinder zu arbeiten, noch eine hohe, edle, befriedigende Pflicht gab, und daß ihre größten Opfer bedeutungslos waren, wenn sie das letzte, kleine Opfer nicht zu bringen vermochten. Sie hatte ihnen die Augen geöffnet, so daß sie sich selbst da draußen im Kampf, in der Gefahr, in der Kälte sahen und die reine, selige Freude empfanden, glückliche Briefe von den Lieben daheim zu empfangen.

Viele von ihnen hatten den Gefühlen des Empfängers nie einen Gedanken geschenkt. Sie hatten in ihren Briefen gejammert und geklagt und eine Bürde, die schwerer war als jegliches Gepäck während tagelanger Märsche, auf die Schultern derjenigen gelegt, die sie liebten. Jetzt sahen sie mit Veronikas Augen die Ankunft der Feldpost, sahen die müden und ermatteten Soldaten die Hände in mit Furcht gemischter Hoffnung ausstrecken, um Nachrichten aus der Heimat zu empfangen, sahen einzelne den Brief durchfliegen und ihn dann später wieder und wieder mit Genuß lesen, wie Kinder, die an Zuckerzeug saugen und es aus dem Munde nehmen, um sich zu vergewissern, daß noch etwas von der Herrlichkeit übrig ist. Und sie sahen andere, die sich abwendeten, um den Kummer zu verbergen, den der leere, der kalte oder der klagende Brief verursachte. Veronika hatte sie gelehrt, was sie schreiben sollten, und es war ihnen, als habe sie unter vier Augen mit jeder einzelnen geredet, als kenne sie ihre Verhältnisse, ihre Sorgen, ihre Schwierigkeiten. Und als habe sie ihnen Freuden gezeigt, von deren Besitz sie bisher nie etwas geahnt hatten, über die sie sich nie klar geworden waren.

Von nun an hielt Veronika den arbeitenden Frauen jeden Abend Vorträge, bald in großen, hellen Sälen, bald in kleinen, dumpfen Räumen. Der Ruf ihrer Vorträge, die in den Zeitungen nicht erwähnt wurden, verbreitete sich über Stadt und Land. Ida mußte sie bitten, ihren Zustand zu bedenken und sich nicht zu großen Strapazen auszusetzen, wie es diese Reisen von Dorf zu Dorf oder das Übernachten in Bummelzügen oder in kalten Gasthäusern zwischen feuchten Laken waren. Aber Ida predigte tauben Ohren. Veronika konnte nicht aufhören, jetzt, wo sie einmal begonnen hatte. Sie hatte ihre Mission – ihre eigene, kleine Privatmission –, die sie ausführen mußte, wie es ihr selber dann auch ergehen mochte.

Mitte Dezember jedoch sah sie sich gezwungen, ihre Vorträge zu unterbrechen. In den folgenden Tagen war sie eifrig beschäftigt, alles zum Empfang des erwarteten Gastes vorzubereiten. Ida wurde beauftragt, ihr Kunden zu verschaffen; sie hatte Geld nötig, um sich und das Kind zu schmücken. Als sich Veronika in der Schilderung aller der seidenen Decken und Crêpe-de-Chine-Nachtkleider erging, die sie haben müsse, meinte Ida lachend: »Aber Sebastian bekommt dich doch gar nicht darin zu sehen!« Da beugte Veronika das feine Köpfchen mit ihrer würdigsten Miene: »Man kann ja nie wissen, wie es geht! Wenn … etwas geschehen sollte, mußt du ihm erzählen, daß ich aussah wie eine Prinzessin. Aber, ich mag nun leben oder sterben, so mußt du dafür sorgen, daß ich in dem ganzen Staat photographiert werde!«

Stundenlang beschäftigte sie sich damit, ihrem Haar durch Bürsten Glanz zu verleihen und verschiedene Schleifen für die langen Flechten auszuprobieren, mit denen sie Parade liegen wollte.

Am ersten Neujahrstage konnte Ida Sebastian die Meldung machen, daß er eine Tochter bekommen habe. Die Mitteilung erreichte ihn niemals, sie kreuzte sich mit der Nachricht von seinem Tode.

Ida muhte ihren eigenen Schmerz bekämpfen und alles daransetzen, damit Veronika vorläufig von der Unglücksbotschaft verschont blieb. Sie wich nicht von ihrer Seite und unterrichtete alle Freunde, daß sie nur strahlende Gesichter zeigen sollten, damit kein Schatten auf die junge Mutter falle.

Veronika schien nichts zu ahnen. Sie lag da, die blanken Flechten über den Schultern, und legte Patience oder plauderte mit Ida über Italien und die Freunde. Fünf Tage nach der Geburt des Kindes bat sie Ida, die Krankenpflegerin auf ein Stündchen hinauszuschicken und sich selbst dicht neben das Bett zu setzen.

Die schwarzen Augen auf Ida gerichtet, sagte sie ruhig, als rede sie über Wind und Wetter: »Wann, glaubst du, kann das Kind es vertragen, daß ich anfange zu trauern?« Ida fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen entwich: »Was für einen Unsinn redest du da?« Veronika verwandte den Blick nicht von ihr, sondern sprach ruhig im gleichen Ton weiter: »Du hast mich selbst gelehrt, daß das Schaden nimmt, wenn die Mutter viel weint. Ich will nicht schuld daran sein, daß Sebastians Kind ein armer Tropf wird. Jetzt, wo ich es selbst nähre, muß ich doppelt vorsichtig sein. Aber du verstehst, ich möchte gern wissen, wann das nicht mehr nötig ist …«

Idas Zunge lag trocken in ihrem Mund, sie vermochte keine Silbe hervorzubringen. »Du hast deine Komödie gut gespielt, aber ich bin klüger, als du glaubst. Ich habe es schon drei Tage gewußt, genau so lange wie du … Nein, sei unbesorgt. Ich weine nicht, wenn ich allein bin. Unser Sonnenkind soll nicht mit Tränen genährt werden. Jetzt möchte ich nur eins wissen: Hat er viel gelitten?«

Ida antwortete, als lese sie die Worte aus einem Buch in einer Sprache vor, die sie selber nicht verstand: »Er wurde durchs Herz geschossen …«

Veronika lag ganz still da, sie lächelte: »Er starb wie eine Sternschnuppe!« Sie schloß die Augen, lächelte aber noch immer.

Ida wagte nicht sie anzureden, sie konnte sich aber auch nicht entfernen. Nach einer Weile schlug Veronika die Augen auf: »Wir waren so glücklich! Ich glaube, ich werde niemals weinen. Es wäre nur gut zu weinen, wenn Sebastian die Tränen wegküßte …«

Und niemand sah damals oder später Veronika Montuana trauern. – –

Kaum einen Monat später fand Ida zu ihrem Erstaunen Veronika mit einem kleinen, bläulichblassen Kind an der Brust dasitzen. Veronika lächelte über Idas bestürzten Blick: »Ich habe Erlaubnis vom Arzt bekommen!« »Wessen Kind ist das?« Ida sah, daß Veronikas kleines Mädchen ganz süß in seiner Wiege schlief. »Es gehört der Waschfrau, der mit den elf Kindern, weißt du. Sie hat keine Milch mehr, und bei der Flasche will das Kind nicht gedeihen. Für zwei habe ich nicht genug, aber das Sonnenkind ist so kräftig, daß es sich mit dem begnügen kann, was von dem Kleinen hier übrigbleibt, und daneben bekommt es die Flasche.«

Eine Frage brannte Ida auf der Zunge: »Du, die du die schmutzigen Kinder fremder Leute hassest?« Als habe Veronika ihre Gedanken erraten, erwiderte sie: »Wenn ich elf Kinder hätte und waschen gehen müßte, würde ich auch wohl keine Zeit haben, sie jeden Tag zu baden!«

Ein neuer Gedanke durchzuckte Idas Gehirn: »Hast du Geld, Veronika?« Veronika ordnete ihre Kleider und legte das kleine, kümmerliche Geschöpf in eine Schublade, die sie als Wiege zurechtgemacht hatte: »Dank deinen Freunden habe ich für den Augenblick Überfluß. Ich habe alle Kupferstiche verkauft. Übrigens glaube ich, daß ich, so lange der Krieg währt, zu einem anderen Geschäft übergehen muß. Die Leute haben jetzt keine Verwendung für altes Porzellan oder Spitzen. Was meinst du, wenn ich einen kleinen Brotverkauf eröffnete?« Ida mußte lachen. Offenbar sprach Veronika in vollem Ernst, ohne die Unmöglichkeit ihres Vorschlags einzusehen.

»Ich habe einen besseren Plan. Wir gründen dich, du bezahlst fünf Prozent Zinsen, und wenn der Krieg vorbei ist und der Antiquitätenhandel wieder geht, bezahlst du allmählich die Aktionäre aus …«

Veronika ergab sich nicht sogleich. Idas Beweisgrund, daß sie nicht ihr eigenes Kind und das der Waschfrau gewissenhaft besorgen und gleichzeitig stets dem Ruf der Ladenglocke folgen könne, machte sie nachdenklich. Aber sie wandte ein: »Hunderttausende von Frauen müssen auf Arbeit gehen, und ich bin nicht besser als sie!« – »Ich sage ja nicht, daß du besser bist. Aber daß diese Frauen von dem Kampf ums Dasein gezwungen werden, ihre Kinder zu vernachlässigen, ist ja der Grund des entsetzlich hohen Sterblichkeitssatzes bei Säuglingen!«

Das traf den Nagel auf den Kopf. Veronika lieh sich »gründen«, und beide Kinder gediehen um die Wette. – –

Ida war auf Erwins Tod vorbereitet. In den Verlustlisten stand er anfänglich als verwundet, später als vermißt und »wahrscheinlich tot«. Die alten Eltern und die Frau beweinten ihn, und Ida selber zog eine furchtbare Gewißheit einer langwierigen, aufreibenden Angst vor.

An einem der letzten Tage des Februar brachte ihr die Post ein kleines, hartes Päckchen. Sie öffnete es, ohne die Aufschrift zu untersuchen. Es war Erwins Brieftasche mit Katharinas Bild und einigen alten Briefen. Eine Karte war beigelegt:

 

»Ich halte es für meine traurige Pflicht, Ihnen diese Brieftasche zu senden, die ich dem entseelten Leichnam Ihres Bruders wegnahm. Verzeihen Sie, daß ich Ihr Bild zurückbehielt. Ich brauche nicht die Gefühle zu schildern, mit denen ich das Bild der Frau wiedersah, die unschuldig und ohne ihr Wissen mein Schicksal wurde.

In ehrerbietiger Hochachtung

Andreas Widrin.«

 

Ida ließ die Mädchen sagen, sie sei zu sehr überanstrengt, um selbst ihre nächsten Freunde zu empfangen. Und sie schickte der Oper eine Krankmeldung. Aber nach einem einsamen Kampf von zwei Tagen fühlte sie, daß ihr Herz brechen würde, wenn sie sich nicht mit einem verstehenden Menschen ausspräche. Widrins wortknapper Brief hatte das beherrschte Ungestüm ihrer Natur aufflammen lassen wie einen Krater, der nach langjährigem inneren Sieden sich einen Weg sprengt und seine glühenden Lavaströme an den Seiten des Berges hinabsendet.

Sie ließ Nadja bitten zu kommen und schenkte der Freundin ihr Vertrauen.

Nadjas Ruhe gab ihr allmählich ihr Gleichgewicht wieder. Und als Nadja sagte: »Ich glaube, am wohlsten ist denen, die nichts mehr zu verlieren haben!« beugte Ida das Haupt: »Wenn ich wüßte, daß er tot wäre, würde ich das als eine Erleichterung empfinden.«

Während die beiden Frauen bis tief in die Nacht hinein beieinander saßen und redeten, läutete die Glocke des Torwegs. Der alte Thaddäus war mit einem Eiltelegramm, das eben für Nadja gekommen war, von der Fürstin gesandt.

Sie nahm das Telegramm und wog es einen Augenblick in den Händen, ohne es zu öffnen. Sie flüsterte: »Bete du für mich, daß ich stark genug bin!« Dann las sie es und wandte sich an Thaddäus: »Besorgen Sie mir einen Wagen!« Thaddäus verneigte sich: »Durchlaucht hat mich mit dem Wagen gesandt!«

Zu Ida sagte Nadja nur: »Denke an mich!« Und fort war sie.


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