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Die Generalin

Die Generalin strich den jungen Mädchen liebkosend übers Haar, ehe sie ging. »Nun müßt ihr sehen, wie ihr am besten fertig werdet, liebe Kinder, heute seht ihr mich nicht mehr! Mein jüngster Sohn kommt, um Lebewohl zu sagen, ehe er an die Front geht!«

Sie pflegte niemals Privatangelegenheiten mit der Arbeit für die gemeinsame Sache zu vermischen, aber heute war ihr das Herz so voll, daß der Mund unwillkürlich überlief. Das kurzgefaßte Telegramm: »Komme mit Mittagszug. Ernst August« hatte sie mit einer Mischung von Freude und Furcht erfüllt. Dies konnte nur bedeuten, daß die Ausbildung jetzt beendet und er bereit war, hinauszuziehen und für das geliebte Vaterland zu kämpfen. Die Generalin schritt aufrecht die Straße dahin. Es war ein großes und stolzes Gefühl, so viel geben zu können – und es zu geben! Aber hinter dem Stolz lauerte die menschliche, mütterliche Angst, die sich nicht niederringen ließ.

Vor einem Ladenfenster blieb sie stehen und betrachtete die Ausstellung von Wild und Geflügel und Obst und Konserven. Dann ging sie lächelnd hinein, kaufte ein fettes Huhn, ein Glas Champignons und ein halbes Pfund blaue Trauben. Die Pakete nahm sie selbst mit. Es widersprach ihren Ansichten von Schicklichkeit, daß eine Dame selbst Pakete trug, aber das Gefühl der kleinen Last machte es so handgreiflich, daß Ernst August nahe war. Sie wollte nicht daran denken, daß er kam, um Abschied zu nehmen. Nicht umsonst war sie Offizierstochter und Offiziersfrau. Aber es war ja freilich viel leichter gewesen, Konstantin und Helwig hinausziehen zu lassen. Das war etwas Selbstverständliches – ebenso selbstverständlich, wie daß sie den Offiziersberuf gewählt hatten. Und Gott sei Dank, bisher war alles gut gegangen! Eine kleine Schußwunde im Oberarm abgerechnet, von der Konstantin nicht schrieb, ehe sie wieder ganz geheilt war, war ihnen nichts zugestoßen. Gute, zuversichtliche Briefe schrieben sie; man merkte, sie waren die Söhne ihres Vaters. Helwig klagte ja freilich sehr über das Ungeziefer, mit dem er nicht fertig werden konnte; weder Pulver noch Petroleum nützten dagegen, aber das konnte doch für ihn nicht schlimmer sein als für alle die anderen! Die Rote-Kreuz-Schwestern erzählten, ein Soldat ohne Ungeziefer in Kriegszeit sei eine größere Seltenheit als ein Soldat mit Ungeziefer in Friedenszeit. Die Generalin hatte das allerdings selbst nicht ausprobiert, sollte es aber notwendig sein, so … Und die Russen waren gewiß unsauber und verwahrlost. Helwig stand ja in Ostpreußen und hatte mit ihnen zu tun. Konstantin lag in den Laufgräben bei Ypern. Glänzende Briefe schrieb er. Man sah das Ganze vor sich. Der Schlamm war so dick wie Teer; wenn man von dem einen Laufgraben nach dem anderen ging, konnte es geschehen, daß man ein Bein mit beiden Händen herausreißen mußte, so fest saß es. Kein Wunder, daß es so langsam damit ging, diesen Streifen Land zu nehmen! Er lag da schon im zweiten Monat und langweilte sich und hoffte auf Frost oder auf einen trockenen Frühling, damit man vorwärtskommen konnte. Im übrigen aber hatten sie sich ja ganz gemütlich eingerichtet in den Laufgräben, mit Büchern und mit musikalischen Instrumenten. Aber des Nachts, wenn die Granaten über ihren Köpfen platzten, war es ja nicht so angenehm. Und am Tage – sie sahen fast nie des lieben Gottes blauen Himmel. Den Kopf herausstecken bedeutete ja den gewissen Tod. Konstantin versah seine Briefe immer mit Randzeichnungen; man hätte glauben sollen, ein siebenjähriges Kind hätte sie gezeichnet, aber vielleicht wirkten sie gerade deswegen so unwiderstehlich komisch.

Die Generalin schritt schnell und leicht dahin; ihre Gedanken waren leichter als je, seit Ernst August mit der Erklärung gekommen war, daß er nicht die Hände in den Schoß legen könne, wenn das Land Verwendung für jeden waffentüchtigen Mann habe. Sie hinderte ihn ja auch nicht, aber im innersten Innern hatte sie dasselbe gehofft, was er fürchtete: daß er zu zart sein würde, daß noch Spuren von der Lungenentzündung, die er als Kind gehabt habe, zurückgeblieben seien. Der alte Hausarzt hatte den Kopf geschüttelt, als er Ernst Augusts Entschluß hörte: »Sie nehmen ihn nicht!« Aber sie nahmen ihn. Später gestand Ernst August, daß da Bedenken gewesen seien – den Ausschlag habe wohl gegeben, daß er der Sohn seines verstorbenen Vaters war.

Die Generalin war vor einem Blumenladen stehengeblieben. Im Grunde ein unerlaubter Luxus in dieser Zeit – aber Ernst August liebte Blumen. Sie kaufte ein weißes Alpenveilchen, dessen große Blumen sie an die weißen Kaninchen erinnerten, mit denen Ernst August als Kind gespielt hatte.

Flack öffnete ihr mit einer Verbeugung die Tür, nahm ihr die Pakete und den Mantel ab. Dann erst sagte er, und ohne die Freude zu zeigen, die man von einem Diener, der zwölf Jahre im Dienst gewesen, hätte erwarten können: »Herr Ernst August ist gekommen!« Sie erschrak. Hatte sie das Telegramm mißverstanden? Sie wollte an ihm vorübereilen, hinein zu dem Sohn, aber Flack sagte so sonderbar bedeutungsvoll: »Herr Ernst August ruht, er hat gebeten, nicht vor Tische geweckt zu werden!«

Eine Ahnung durchzuckte die Mutter: »Er ist doch nicht … Sah er wohl aus?« Der Diener antwortete, ohne aufzusehen: »Herr Ernst August war sehr angegriffen von der Reise!«

Die Generalin nahm die Pakete wieder. »Die Blume ist für den Tisch!« Einen Augenblick lauschte sie an Ernst Augusts Tür. Er schlief wohl schon. Dann lächelte sie: »Natürlich ist er angegriffen! Die ewigen Marschtouren am Tage, und zu wenig Schlaf in einem Zelt draußen auf dem Felde bei jedem Wetter …«

Sie ging in die Küche und erteilte ihre Befehle. Amalie nickte, sah aber aus, als habe sie andere Dinge im Kopf. Was Flack wohl von Ernst August gefaselt haben mochte! »Wir machen heute eine Ausnahme mit dem Huhn!« Amalie nickte und rührte weiter in der Mischung von gehacktem Kohl und gekochtem Fleisch, aus der das ursprüngliche Mittagessen bestand. Die Generalin hatte in dieser Kriegszeit fünf »Mittagsgäste«, die draußen in der Küche aßen. Sie begnügte sich sonst mit derselben Kost wie sie; aber trotzdem hatte sie Mühe, auszukommen.

Als der Ausschuß zur Speisung Notleidender an die Generalin herantrat, dachte sie nicht darüber nach, ob das Geld ausreichen würde, sondern nur, wie sie es machen sollte, daß es ausreichte. Die Mittagsgäste stellten sich mit großem Appetit ein, und sie sollten nicht nur gespeist, sie sollten auch ernährt werden. Mehr als einmal war eins der Familienstücke zum »Aufsetzen« geschickt worden und hatte sich nie wieder sehen lassen. Flack wie auch Amalie verstanden alles, aber sie hielten auf die Ehre des Hauses und verrieten keine intimen Geheimnisse an die Dienstboten in den anderen Stockwerken.

Es gab keine Grenze für Amaliens Findigkeit, Einschränkungen zu machen, die nicht wie solche aussahen! So hatte sie in den letzten Wochen, ja, gleich nachdem Ernst August von Hause fortgegangen war, der Generalin den Vorschlag gemacht, ob sie nicht die Abendmahlzeit mit einem Glas warmer Milch und einem Kek vertauschen könne – aus Gesundheitsrücksichten! Nachdem er sich die Sache zwei Tage überlegt hatte, erbot sich Flack zu derselben Abänderung.

Die Generalin aber wollte ihre Leute nicht hungern lassen. Deswegen studierte sie gemeinsam mit Amalie Kalorien und Ersatzstoffe, bis sie davon überzeugt waren, daß die billigsten Nahrungsmittel wirklich die nahrhaftesten seien. Nach der Einführung von Mehl- und Brotkarten kam es häufig vor, daß die Generalin oder Amalie die Ration eines ganzen Tages ersparten, um sie dann mit einem stolzen Gefühl der Wohlhabenheit einem von den vielen zuzustecken, die »an die Tür kamen«.

Jetzt entsann sich die Generalin, daß Ernst August so gern Brot aß. »Wie sieht es mit dem Mehlvorrat aus, Amalie?« Amalie verstand die zarte Andeutung: »Ich denke, es reicht zu einem selbstgebackenen Brot heute abend; Herr Leutnant ist ja so hinter frischem Brot her, Frau Generalin!« Die Generalin lächelte: »Er soll ja erst hinaus und seine Kräfte probieren!«

Und sie verließ Amalie, um nachzusehen, ob auch Flack den Tisch so deckte, wie er sollte. Das war ja eine von Ernst Augusts Eigenheiten – er konnte es nie schön genug um sich bekommen. Das beste Silber und Kristall mußte auf den Tisch, wenn er und die Mutter einander allein gegenübersaßen. Schlug sie ihm vor, diese Familienschätze für solche Gelegenheiten aufzusparen, wo Gäste da waren, meinte er mit dem Lächeln, dem sie nicht widerstehen konnte: »Ich bin nun einmal dafür, daß man den Tisch am schönsten schmückt, wenn die Gesellschaft am gewähltesten ist!« Und sie selbst zog ja Ernst Augusts Gesellschaft jeder anderen vor.

Ach, wie sie sich danach sehnte, ihn in Uniform zu sehen! Sie konnte nicht länger warten. Leise drehte sie den Türdrücker herum und trat ein. Die Gardinen waren vorgezogen, so daß sie nur gerade seine lange Gestalt ausgestreckt auf dem Bett liegen sah. Vorsichtig und langsam, um ihn nicht zu wecken, zog sie die dunklen Gardinen zurück und trat näher. Sie wollte sich herabbeugen, um ihn auf die Stirn zu küssen – als sie mit einem halbunterdrückten Schrei zurückfuhr. Das Taschentuch, das er in seiner Hand hielt, war mit Blut durchnäßt, und da war Blut um seinen Mund herum …

So fest schlief er, daß ihn weder der Schrei noch das Licht weckten. Die Mutter schlich sich hinaus. Als sie an Flack vorüber ging, richtete sie sich straff auf.

Die kleine Alabasteruhr tickte in der Stube, wo die Generalin, steif und gerade, mit einer Handarbeit saß. Nein, Ernst August sollte nicht wissen, daß sie es wußte!

Die Zeit ging im Schneckengang. Wie sollte sie die Minuten verbringen? Sollte sie sich schmücken? Ernst August sah sie so gern in Seide, auch jetzt, wo sich der Hof selbst in Wolle und Krepp kleidete. Lange stand sie vor dem Spiegel und mühte sich mit ihrem dicken stahlgrauen Haar ab, das sich sonst hoch über der Stirn wölbte. Heute fiel es schlaff zusammen – die Kunst der Beherrschung war ihm fremd. Die Generalin lächelte in den Spiegel hinein, lächelte, ohne eine Miene zu verziehen. So wollte sie Ernst August zulächeln … froh und natürlich …

Wieder saß sie im Wohnzimmer, die Handarbeit in den Händen. Sie konnte den Faden nicht sehen und auch die Stufe nicht. Es war, als huschten Schatten an ihren Augen vorüber. Endlich seine Schritte … Aber zögernd, schleppend, nicht wie sonst hastig und ungeduldig.

»Mutter!« Hätte sie nichts geahnt, sie hätte alles gewußt durch den bebenden Klang seiner Stimme.

»Mein Junge! Mein großer, langer Junge! Endlich habe ich dich wieder!«

Es entstand eine Pause, nur Sekunden, aber genug, um von ihnen beiden gefühlt zu werden. Dann begann die Generalin in fieberhafter Hast zu fragen – nach der Reise und den Freunden, nach dem Wetter da draußen und nach der Ernährung, und ganz plötzlich sprang sie zu den Briefen der Brüder über. Helwig hatte ja das Eiserne Kreuz bekommen. Ernst August mußte Konstantins Zeichnungen aus den Laufgräben sehen. Ernst August machte den Versuch zu lachen, mußte aber husten: »Ich habe mich ein wenig erkältet!« Und die Mutter antwortete: »Ja, man holt sich so leicht etwas in dieser Jahreszeit!«

Flack meldete, daß angerichtet sei.

»Wie hübsch es hier bei dir ist!«

»Iß nur mein Junge, iß nur! Huhn ist ja dein Leibgericht!«

»Und Trauben! Blaube Trauben! Du versagst dir wirklich nichts, Mutter!« Die Generalin lachte: »Sie wachsen ja, um gegessen zu werden!« Sie sah, wie seine Finger zitterten, die Messer und Gabel umspannten. »Trink ein wenig Wein, Ernst August, das wird dir gut tun!« Sie tranken ohne einander anzusehen.

Wann würde er reden? Wann? Wann? Oder würde er nichts sagen? Die Generalin entsann sich, daß sie lächeln mußte. Die Hände waren so trocken, die Wangen brannten, die Augen brannten.

»Einen kleinen Likör zum Kaffee?«

»Danke, Mutter … lieber nicht!«

Sie wartete wie die Mutter auf den Schuß, der das Herz des zum Tode verurteilten Sohnes durchbohren soll.

»Ja, Mutter … die Sache ist also die … Ich bin nicht ganz gesund … Sie können mich … nicht gebrauchen.« Seine Stimme war im Begriff überzuschnappen. Sie beeilte sich, wie man nach einem Glas greift, das im Begriff ist umzufallen: »Gott sei Dank! Dann behalte ich dich ja hier! Du könntest mir nichts Besseres sagen …« Mehr Worte fand sie nicht.

Ernst August hustete wieder, der Husten schüttelte ihn, aber sie wagte nicht, sich zu erheben, die Arme um ihn zu schlingen, ihn zu stützen. »Nein, siehst du … Sie können mich jetzt nicht gebrauchen … Aber später … wenn … wenn …«

»Wenn? Was meinst du, mein Junge?«

»Ich soll eine Zeitlang nach Davos … Nur ein paar Monate. Dann kann ich wieder hinausgehen. Aber wenn du nicht … wenn du nicht die Mittel dazu hast …«

»Ernst August!« Sie zwang sich, einen scherzenden vorwurfsvollen Ton anzuschlagen: »Meine Mittel erlauben mir doch, bis ans Ende der Welt zu reisen, wenn es sich um deine Gesundheit handelt! Wann willst du fort?«

»Am liebsten so bald wie möglich … Damit ich zurückkomme, ehe der Krieg beendet ist!« Ernst August lächelte plötzlich wie ein Kind, das sich auf eine Waldpartie freut: »Mutter!« Er schwieg wieder verlegen.

»Nun, mein Junge?«

»Ich habe die neue Uniform mitgebracht! Ich wollte sie eigentlich heute anziehen, aber da … kam dies …«

Der alte Hausarzt »war zufällig in der Nachbarschaft«. Er war gut instruiert und äußerte das erforderliche Erstaunen, Ernst August hier zu sehen: »Wir sehen ja blühend aus, nur – ein wenig mager! Ein wenig zu mager! Eine kleine Mastkur wäre gar nicht unangebracht!« Und er sprach und redete so lange, bis Ernst August einwilligte, sich untersuchen zu lassen.

»Sie haben noch viel zu viel junge Leute zur Verfügung. Hätten sie für alle Verwendung, so ließen sie so ein paar Lungen nicht fort … Das kleine bißchen, das hier nicht stimmt, ist im Laufe von ein paar Wochen ausgeflickt – wenn wir vorsichtig sind, uns nicht zum Schlafen in den Schnee hinauslegen und des Nachts die Decken nicht abstreifen!«

Ernst August hörte geduldig zu, die Mutter war im Nebenzimmer. »Ist solch Blutspucken sehr gefährlich?«

Der Arzt interessierte sich plötzlich lebhaft für eine Radierung von Max Klinger und antwortete, den Rücken Ernst August zugewendet: »Ist Nasenbluten gefährlich? Unter Umständen ist Nasenbluten gesund! Wenn man täglich einen Liter Blut spuckt, ist das ja auf die Dauer nicht gerade wünschenswert … Wie geht es mit der Malerei? …«

Die Generalin schlug dem Sohne vor, in zwei Tagen zu reisen: »Wenn du nicht zu müde bist! Ich begleite dich hinunter und bleibe bei dir, bis du dich ein wenig eingelebt hast … Du nimmst wohl deine Malgerätschaften mit?«

Er lag auf dem Sofa: »Das ist ein guter Gedanke, Mutter! … Aber, sag' mal … kann Flack nicht meinen Koffer packen, ich mag wirklich nicht …«

»Natürlich! Wozu wäre er sonst wohl da!«

Und die Generalin legte eigenhändig Stück für Stück in Ernst Augusts Koffer; mit derselben Sorgfalt hatte sie die Kissen unter dem Kopf des Generals zurechtgelegt, ehe der Sargdeckel zugeschraubt wurde.

Die Generalin stürzte von Pontius zu Pilatus. Sie mußte Geld schaffen, für Paß und Fahrkarten sorgen, sich erkundigen, ob sie ein Abteil für sich bekommen könne, und die Arbeiten im Reichstagsgebäude ordnen. Sie hatte die Austeilung der »Wochenkörbe« übernommen. Wenn sie sich nur auf die jungen Gehilfinnen verlassen konnte! Die Geheimrätin Löwy war schon zurückgekehrt. Vor kaum acht Tagen hatte sie die Nachricht von dem Tode ihres einzigen Sohnes erhalten. Sie war in tiefer Trauer, verrichtete aber ihre Arbeit, als sei nichts geschehen. Die Generalin schöpfte tief Atem. So waren sie ja alle. Kein Kummer war so groß, daß sie darüber »die Sache« im Stich ließen.

»Ich komme wieder, sobald es mir möglich ist!«

Man war daran gewöhnt, daß bald diese, bald jene auf Tage und Wochen verschwand und dann in Trauerkleidung wiederkehrte. Aber es wurde nicht viel darüber gesprochen. Da war immer genug zu tun.

Die Generalin stand im Studierzimmer des alten Hausarztes. Er begriff, daß sie die Wahrheit hören wollte, und er hielt nicht damit zurück: »Beide Lungen …«

Sie verließ ihn ohne einen Schimmer von Hoffnung – und sie kam lächelnd nach Hause, angefüllt mit Neuigkeiten.

Ernst August lag da und schlummerte so halb: »Mutter, ich wollte, du könntest das Sofa auf Räder setzen und mich auf die Weise nach Davos fahren …«

»Du langer, fauler Junge!« Die Generalin bohrte ihre Nägel in die Handflächen: »Du kannst übrigens den ganzen Weg schlafen, wir bekommen ein Abteil für uns!«

Ernst August richtete sich mit Mühe auf dem Ellbogen auf: »Bin ich so krank?!«

Die Mutter setzte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn, die feucht und heiß war: »Bewahre, du bist nicht so krank! Aber ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß wir beide es auf der Fahrt angenehm haben wollen – außerdem liebe ich es, standesgemäß zu reisen!«

Einen Augenblick streifte der Gedanke ihre Seele: Wäre es nicht besser gewesen, wenn Ernst August das Ziel seiner Wünsche erreicht hätte, wenn er an die Front gekommen und im ersten Treffen getötet worden wäre … Konnte sie ihm die Wahrheit bis zuletzt fernhalten?

Sie saßen bei Tische, als Flack einen Brief brachte. Er war versiegelt. Die Generalin legte ihn neben ihr Gedeck. Sie kannte die Schrift nicht. Eine wunderliche Angst hinderte sie, dies Ernst August gegenüber zu erwähnen.

Erst als sie ihn zur Ruhe gebracht und einen Schirm über die Seite der Lampe gehängt hatte, die ihm zugewendet war, schnitt sie den Brief auf. Ihre Hände fielen wie gelähmt herab. Aber sie gab keinen Laut von sich, stieß keinen Seufzer aus.

»Etwas Neues, Mutter?«

Die Stimme der Generalin klang lauter als sonst: »Konstantin hat das Eiserne Kreuz bekommen! Ich muß ihm gleich einen Glückwunsch senden!«

Ernst August rief ihr etwas nach, aber sie ließ sich nicht Zeit zu hören. Sie ging in ihr Schlafzimmer und drehte den Schlüssel im Schloß herum.

Der Regimentskommandeur schrieb und bat sie, unverzüglich zu kommen. Konstantin werde nach Hannover transportiert, um dort zu Tode gepflegt zu werden.

Wieder und wieder las sie die teilnehmenden Worte des Obersten, wie ein Kind, das sich bemüht, einen schwierigen Satz auswendig zu lernen. Sie muhte ja sogleich Ernst August von der tapferen Tat des Bruders erzählen hören. Eine halbe Stunde gab sie sich selbst – nicht um zu weinen, nicht um zu jammern – nur um sich zu sammeln. Dann schrieb sie das Telegramm. Aber als Flack eben damit weggegangen war, sah sie die Grausamkeit ein, die sie begangen hatte. Sie konnte nicht nach Davos reisen und Konstantin unter Fremden sterben lassen! Man hatte ihn sicher auf ihr Kommen vorbereitet. Sie wollte Flack zurückrufen. Er war jedoch schon zum Hause hinaus.

Als sie hereinkam, lag Ernst August bewußtlos da, das Blut sickerte ihm aus dem Munde. Es war nur eine Ohnmacht. Sie hatte kaum das Blut weggewaschen, als er von selbst wieder zu sich kam. »Ich weiß gar nicht, wie mir war … Mich befiel eine solche Angst, als du so schnell hinausgingst. Es ist doch Konstantin nichts passiert?«

Die Mutter hatte ihn vorbereitet, hatte von einer leichteren Wunde, von einem vorläufigen Aufenthalt im Lazarett sprechen wollen, – jetzt wagte sie nicht, ihn aufzuregen. Und sie erzählte mit glücklichem Lächeln von Konstantins Heldentat. Er hatte nicht nur das Eiserne Kreuz bekommen, er war auch zum Hauptmann ernannt worden!

»War denn der Brief von Konstantin selbst? Ich meine, es war nicht seine Schrift?«

Die Generalin fand es so leicht zu lügen: »Er liest die Aufschrift von einem Kameraden machen, seine Hände waren, offen gestanden, zu schmutzig!«

Ernst August lachte: »Das will ich gern glauben!«

Am selben Abend reisten Mutter und Sohn nach Davos. Als das Gepäck an den Wagen gebracht werden sollte, verlangte Ernst August, daß man ihm den Handkoffer geben solle: »Es ist die Uniform!« Und mehrmals unterwegs mußte die Mutter das Gepäckstück öffnen, damit er sich an dem Anblick der funkelnagelneuen feldgrauen Uniform erfreuen könne. »Mutter! Glaubst du nicht, daß ich mir auch einmal das Eiserne Kreuz verdienen werde?« Die Generalin sammelte ihre Gedanken: »Natürlich, mein Junge! Aber du darfst jetzt nicht mehr reden, du mußt schlafen!«

Und jedesmal, wenn ihm die Augen zufielen, konnte sie in Ruhe das Schwert in ihrem Herzen umdrehen. Sie hätte eine Grausamkeit begangen, ein unnatürliches Verbrechen. Es gab keine Vergebung für sie. Sie entfernte sich mehr und mehr von dem einen sterbenden Sohn, um den anderen an den Ort zu bringen, wo er nach Wochen oder nach Monaten in den Sarg gelegt werden würde. Sie hatte einen Unterschied zwischen ihren Kindern gemacht. Sie war ihrer Pflicht als Mutter und als Frau untreu geworden.

Zwei Stunden nach der Ankunft befand sie sich schon auf dem Rückwege. »Sie können mich gerade jetzt nicht entbehren, aber ich komme wieder, sobald ich kann! …«

Ernst August rief ihr nach: »Grüße Konstantin … und auch Helwig, wenn du ihm schreibst! Erschrecke sie nicht mit meiner Krankheit! Ich will schon durchkommen!«

Die Generalin erreichte das Lazarett an demselben Tage, als Konstantins Sarg zugeschraubt war. Aber er war nicht allein gewesen. Am Tage vor seinem Tode war Nadja gekommen. Sie hatte bis zuletzt bei ihm gesessen. Nach seinem Diktat hatte sie den Abschiedsbrief an die Mutter und die Brüder geschrieben.

Die beiden Frauen waren gleich arm, gleich versteinert. Als das Begräbnis vorüber war, sagte Nadja: »Ich muß mit dem ersten Zug abreisen. Mama kann nicht ihre eigene Arbeit und die Pflege der Alten übernehmen.«

Und sie fuhr von dannen, wie sie ausgereist war: scheinbar ruhig und gefaßt.

Bald darauf sagte die Fürstin zu Ida: »Nadja hat kein Gefühl! Sie trauert weder über Aglaja noch über Konstantin. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn ich sie eines schönen Tages singen hörte …«


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