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Glorias letzter Brief

Liebe Evelyn!

Kann man Witwe sein, wenn man niemals verheiratet gewesen ist? Wenn man die Erlaubnis erhält, den Mann, den man liebt, zwei Tage vor seinem Tode zu pflegen und ihm den ersten Kuß zu geben, wenn er schon kalt ist?

Es ist schon drei Wochen her, aber ich habe keine Zeit gehabt zu schreiben. Ich habe auch wohl keine Lust gehabt.

Ich bin jetzt draußen an der Front, in einem der provisorischen Lazarette. Wir sortieren die Verwundeten. Alle, die weiterkommen, die wir weggeben, haben noch eine Möglichkeit, wir behalten nur solche, die sterben müssen. Jetzt weiß ich, was es heißt, in Blut waten. Der Geruch von Menschenfleisch hängt an meinen Kleidern, an den Speisen, die ich esse, an dem Wasser, das ich trinke, an dem Bett, in dem ich schlafe.

Wenn ich einmal zurückkomme, falls ich überhaupt zurückkomme, will ich um Deinetwillen versuchen zu vergessen, was ich gesehen habe. Sollte mir das aber nicht gelingen, mußt Du mich so nehmen, wie ich bin, und daran denken, daß Großpapa sich darüber gefreut haben würde, daß ich in sein Land zurückging, als dort Verwendung für mich war.

Evelyn, ich habe einen Wunsch, den Du vielleicht sonderbar finden wirst, aber ich war ja immer so voller Launen und Einfälle. Ich möchte so gern um Helwig von Treschau trauern. Ich habe ja kein Recht dazu, wir waren nicht einmal verlobt. Als er auf dem Dampfer um mich anhielt, sagte ich nein, und er hat nie wieder um mich angehalten. Ich glaubte, es würde so leicht für mich sein, selbst die Worte zu sagen, aber ich konnte es nicht. Ich habe mich gewiß verändert, seit ich in La Rochelle war. Aber ich war bei ihm, und das ist viel. Das ist das größte Glück, das ich erlebt habe. Er konnte meine Hand nicht nehmen. Er hatte keine Hand zum Nehmen. Er konnte auch nicht mit mir sprechen, ein Granatsplitter hatte ihm die Zunge zerfetzt.

Als es vorbei war, sprach ich mit ihm, lange. Die ganze Nacht sprach ich mit ihm, Evelyn. Das tat mir so gut. Ich erzählte ihm, was für ein dummes und gedankenloses Geschöpf ich gewesen war, und ich wälzte etwas von der Schuld auf Dich. Denn wenn Du mich nicht so verhätschelt hättest, würde ich wohl nicht immer nur an mich selbst und mein eigenes Vergnügen gedacht haben. Ich glaube, daß er mir verziehen hat. Ich glaube, er hat verstanden, daß ich die ganze Zeit nur ihn geliebt habe. Glaubst Du das nicht auch, Evelyn?

Seine Mutter war nicht hier, sie war in Davos, wo der jüngste Sohn, Ernst August, im Sterben liegt. Aber ich habe ihr geschrieben, jeden Tag ein klein wenig. Darum schrieb ich Dir nicht. Jetzt wartet sie nur darauf, daß Ernst August sterben wird; dann hat sie keinen mehr. Aber sie schrieb mir: wenn ich noch einen Sohn hätte, und das Vaterland wäre in Not, würde ich auch ihn hergeben! Wenn sie so schreiben kann, habe ich kein Recht zu klagen.

Ich war so ärgerlich, daß ich in der Schule nicht gelernt habe zu nähen, sonst hätte ich ihm sein Leichenhemd nähen können. Das, was er anhatte, war so grob. Aber ich habe ihn ganz mit Blumen zugedeckt, und der Arzt sagte, ich könnte bei ihm bleiben, bis er hinausgetragen würde.

Es ist gut für mich, daß ich so viel zu tun habe, daß ich oft in meinen Kleidern schlafen muß. Und, weißt Du, Evelyn, gewissermaßen bin ich froh, daß sie alle sterben. Da entstehen dann gleichsam zwei Welten, eine über der Erde und eine unter der Erde. Weißt du noch, als Großpapa starb, wollte ich ihn nicht sehen. Das bereue ich jetzt, aber er war so gut, er wußte wohl, daß ich zu klein war, um zu begreifen, was der Tod ist.

Ich habe Briefe von Nadja und von Ida Witt und von Fränze Vogt gehabt. Die wußten alle drei, daß ich Helwig lieb hatte, aber sie sagten es nicht geradeheraus. Es stand zwischen den Zeilen. Fränzes Mann ist mitgegangen, und Fränze leitet die Fabriken ganz allein. Nadja hat mich gebeten, zu ihr hinüber zu kommen und bei ihr zu bleiben, wenn der Krieg aus ist, aber ich möchte lieber ein wenig bei Helwigs Mutter sein, wenn sie mich haben will. Ich finde, daß ich gewissermaßen ihre Schwiegertochter bin, aber das ist natürlich nur eine törichte Idee von mir.

Sein Haar war so lang geworden, er hat gewiß auch viel zu tun gehabt. Ich schnitt etwas ab und schickte es seiner Mutter, aber ich behielt selbst eine kleine Locke, die geht gerade um meinen Finger herum wie ein Ring. Das ist mein Trauring.

Lebewohl, Evelyn, sei nicht traurig um mich. Es geht mir ja sonst in jeder Weise gut, und ich bin froh über meine Arbeit. Grüße den Park von mir. Ob wohl auch in diesem Jahr viele von den kleinen Walderdbeeren an unserer heimlichen Stelle stehen werden?

Deine Dich liebende
Gloria.


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