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Es war so still, so ganz, ganz still. Es war, als seien Meer und Wolken zusammen mit der Sonne zur Ruhe gegangen. Die Sterne zitterten oben unter dem dunkelblauen Nachthimmel gleich Schwärmen von kleinen, leuchtenden Insekten, die in einem riesenhaften Netz zappeln. Kein Wind rührte sich. Kein Grashalm. Kein Vogel. In den Hütten waren alle Lichter erloschen, oder vielmehr, sie waren gar nicht angezündet gewesen. Wer zündet wohl an einem Sommerabend Licht an, außer wenn Krankheit im Hause ist?
Die altmodischen Rosen in Marylkas Garten verbreiteten selbst jetzt zur Nacht einen wunderbar süßen und einschmeichelnden Duft. Es war so still, so ganz, ganz still.
Marylka ging langsam draußen vor der Hütte auf und nieder. Ihr leinenes Kleid war dunkelblau wie der Himmel, und da fiel ihr ein, daß genau diese Farbe die Gewänder der Engel auf vielen von den Bildern zeigten, die sie eben auf ihrer Reise gesehen hatte.
Sie sah, wie sich einzelne Sterne aus dem Riesennetz losrissen und zur Erde hinabschwirrten, als suchten sie einen Blumenkelch, in dem sie sich für die Nacht verbergen könnten.
Jedesmal, wenn ein Stern fiel, konnte man etwas wünschen, und der Wunsch würde in Erfüllung gehen. Aber Marylka hatte keinen Wunsch. Der einzige Wunsch, der ihr Wesen und Blut, ihren Verstand und ihr Herz durchdrungen hatte, war ja so über alles Erwarten in Erfüllung gegangen. Der Mann, der sie zur Gattin genommen, war jeden Tag neu und doch derselbe – wie der Himmel und wie das Meer. Es war ihr beschieden gewesen zu sehen, wie er sich entfaltete, seinen Worten zu lauschen, teilhaftig zu werden an seinen innersten Gedanken. Alles, was sich in ihrem sanften Gemüt regte, teilte sie mit ihm. Es war, als sitze sie an einem diamantklar rieselnden Quell und lasse die zitternden Tropfen durch die Hände gleiten.
Sie begriff jetzt so wenig wie bisher, daß er zu ihr hatte hinabsteigen – und glücklich werden können. Aber sie wußte, daß es so war.
Alles hatte sich so recht für sie gestaltet. Das Leben selbst schien ihren Wünschen zu folgen. Zuerst, daß es ihr gestattet worden war, die Hütte zu behalten, und daß das neue Telegraphenamt dicht daneben lag. Dann, daß sie jederzeit wieder in den Dienst treten konnte, falls die Sehnsucht zu stark werden sollte. Und endlich, das Allerwesentlichste, daß die lange geplante Umgestaltung der Schulverhältnisse unmittelbar vor ihrer Hochzeit in Kraft getreten war. Statt einer Schule gab es deren jetzt zwei auf der Insel, und Hans Rudner hatte die neue Schule bekommen, die so dicht neben Marylkas Hütte erbaut war, daß sie ein Ganzes gebildet haben würden, wäre nicht Marylkas Hütte aus Torfsoden errichtet gewesen, während das Schulgebäude aus richtigen roten Steinen, drüben vom Festlande her, gebaut war und grüne Fenster und Türen hatte.
Marylka hatte ihrem Mann als Hochzeitsgabe die Hütte geschenkt. Sie sollte sein Arbeitszimmer sein, dort konnte er ungestört sitzen und seine Gedanken und Träume niederschreiben.
Manch einen Abend, wenn sie längst zur Ruhe gegangen war, saß er da drinnen und ließ die Feder über das Papier sausen. Es war, als wenn sich die Torfwände sammelnd um seine Gedanken schlössen. Die Welt da draußen ging ihn nichts mehr an. Aber was er auf der stillen Insel sah und hörte, und was in seiner Phantasie erblühte, ward zu lebenden Märchen. Er arbeitete glücklich wie nie zuvor.
Wenn er dann, spät in der Nacht, leise die Tür öffnete, erwachte Marylka, und jedesmal war es, als komme das Glück zum erstenmal zu ihr. Hans hatte ihr den Vorschlag gemacht, ein Dienstmädchen zu halten, damit sie von der groben Arbeit verschont bleibe. Da glaubte sie, daß er eine Fremde ins Haus wünsche, weil ihre Hände so rauh und rot waren, aber er hatte die Hände geküßt und geliebkost und ihr erzählt, die Hände aller anderen Frauen seien stumm, während die ihren eine Sprache redeten, die ihm zu Herzen gehe wie die lieblichste Melodie. Und sie lachte und war überzeugt. Doch bat sie, die Hausarbeit nach wie vor tun zu dürfen. Jede kleine Tätigkeit, sei es Torfstechen oder Wäsche besorgen oder Essen kochen, war ihr eine Freude, die sie nicht entbehren konnte.
Da nahm er ihr denn das Versprechen ab, daß sie sich niemals über ihre Hände grämen wolle. Sie versprach es und ließ sich vom Festlande allerlei Sachen in kleinen weißen Kruken und Flaschen kommen. Und heimlich rieb sie sich damit die Hände ein, bis sie so weich und weiß wurden, daß ihr Mann scherzend sagte, nun müßte sie bald einen Schoßhund haben, auf den sie die Hände legen könne.
Im Sommer nach ihrer Verheiratung machten sie ihre Hochzeitsreise. Für Marylka war es ein Augenblick voll Herzklopfens, als sie ihren neuen kleinen Koffer packte. Es war, als solle sie nach einem anderen Erdball reisen, und in ihrem tiefsten Innern brütete eine seltsame Furcht, daß sie den Weg vielleicht nie zurückfinden würden.
Aber nach der Reise war sie so angefüllt mit Eindrücken, daß sie fast wünschte, die ersten zehn Jahre auf einer öden Koralleninsel zu verbringen, um in Ruhe an den Erinnerungen zehren zu können.
In einer Beziehung – aber auch nur in dieser einen – war sie eine beschwerliche Reisegefährtin gewesen. Wenn sie etwas Schönes sah, das sie ergriff, verstummte sie und mußte weinen. Und während sie in den Museen in Berlin umherging, perlten ihre Tränen auf alle Fußböden herab. Sie konnte sich gar nicht davon losreißen. Ihr Mann mußte sie fast zum Essen zwingen. Aber des Abends in dem kleinen Gasthof ward sie beredt, und da fielen die Fragen wie ein Hagelschauer.
In Berlin suchten sie eine Reihe von Hans Rudners Freunden auf, und zu seiner Verwunderung sprach Marylka mit ihnen, als habe sie ihr ganzes Leben in einer Großstadt zugebracht. Als er sie eines Tages fragte, woher es komme, daß die Verlegenheit, die sie in alten Zeiten geplagt hatte, jetzt wie weggeblasen sei, antwortete sie, den Blick in den seinen versenkt: »Wenn ich gut genug für dich bin, muß ich doch mehr als gut genug für alle anderen sein!«
Sie kamen nach Wien, als Ida Witt gerade im Begriff war aufzubrechen, um ihre Sommerreise anzutreten. Sie blieb ein paar Tage, um sie in den Kreis einzuführen, und sie trennten sich mit vielen Versprechungen für kommende Zeiten.
Dann fuhren sie nach der Bukowina zu Hans Rudners alter Mutter. Die stille, sanfte Dame schloß Marylka von der ersten Stunde in ihr Herz, und Marylka lernte sie lieben wie ihre eigene Mutter. Während sie in Czernowitz waren, kam ein kurzer Brief von Ida Witt: ob sie Lust hätten, auf der Rückreise die Fürstin zu besuchen? Dort würden sie allerlei Freunde treffen, die sich danach sehnten, sie wiederzusehen.
Marylka war sofort bereit und begriff gar nicht, warum die kleine fürsorgliche Schwiegermutter es sich so angelegen sein ließ, sie mit alten Spitzen, ja sogar mit einem neuen seidenen Kleid auszustatten. Sie war selbst nicht daran gewöhnt, die Menschen nach den Kleidern zu beurteilen, die sie trugen, aber sie richtete sich nach denen, die die Welt besser kannten als sie.
Als der Zug auf der kleinen galizischen Landstation einfuhr, sah Marylka weder Ida Witt noch Hilda Fersen und die Kinder – sie sah nur eine schlanke und geschmeidige Gestalt mit einem großen, durchsichtigen Hut, von dem schwarze Sammetbänder fast zur Erde herabflatterten.
Sie zuckte zusammen, aber Hans Rudners überraschtes und unbefangenes: »Fränze!« überzeugte sie, daß ihrem Glück keine Gefahr drohte. Fränze schlang die Arme um sie: »Nun ist alles, wie es sein soll!« Kaum hatte Fränze sie freigegeben, als ein junger Mann in weißem Sportanzug, nur mit einem schmalen Goldrand um die Mütze, sie willkommen hieß. Sie kannte die Stimme, die Person hingegen nicht: »Haben Sie mich denn schon vergessen?« Er reichte ihr einen Strauß Rosen, und nun gewahrte sie an seinem Handgelenk eine flache, goldene Uhr, die sie sofort der Wirklichkeit zurückgab. Ihre Nase war eben im Begriff zu erglühen, und sie selbst wollte gerade einen Kratzfuß machen, um einen Hofknicks zu versuchen, als der Prinz sie zurückhielt: »Um Himmels willen, meine liebe Lebensretterin, wir sind ja auf dem Lande!«
Und mit Ausnahme des alten Kutschers auf dem Bock der altmodischen Karosse und des Dieners, der sich ihrer kleinen Handkoffer bemächtigte, lachten alle.
Als sich Marylka am Abend in den fürstlichen Bettlaken zur Ruhe begeben wollte, umgeben von lebensgroßen Ahnenbildern in strahlenden Uniformen, mit Orden und goldenen Ketten quer über die Brust, sagte sie: »Ich finde, es ist ebenso leicht mit fürstlichen Personen zu reden wie mit dem lieben Gott selbst!« Und sie fügte hinzu: »Aber der Frau Postmeister daheim wage ich nie so frei gegenüberzutreten!«
Am nächsten Tage begab sich die ganze Schar zu Pferd und zu Wagen hinab, um die Dörfer zu sehen, und dann ging es in die Wälder, wo man das Ergebnis der neuesten Bohrungen in Augenschein nahm, das über alle Erwartungen ausgefallen war. Marylka hatte bisher Petroleum nur in Flaschen und kleinen Blechkannen gesehen, und nun sah sie es wie Wasser aus einem unerschöpflichen Quell fließen. Sie sah die Röhren, die sich meilenweit erstreckten – genau so wie die Kabel, von denen ihr der alte Telegraphist seinerzeit erzählte, und sie sah später, wie die Eisenbahnwagen vollgepumpt wurden. Sie war stumm vor Überraschung.
Am Abend hatten der allerschönste Mann, Gaston le Lys, und die Prinzessinnen und die immer lachende Miß Gloria ganz im geheimen ein Gartenfest mit bunten Lampen in den Bäumen, mit illuminierten Springbrunnen und Tänzen auf offener Estrade vorbereitet. Die Bauern strömten in ihren bunten, bestickten Festgewändern herbei, und es wurde getanzt, bis die Sonne aufging.
Marylka sagte hinterher zu ihrem Mann: »Ich finde, reiche und schöne Menschen sollten ewig leben, sie machen die Welt so schön und so froh!« Sie konnte sich nicht entschließen, zu glauben, daß auch nur einer von allen diesen strahlenden Menschen jemals einen Kummer gehabt habe oder haben könne.
Ja, Marylka war auf Reisen gewesen, und nun war sie daheim und für zehn Tage allein, während Hans seine verheiratete Schwester ganz oben an der russischen Grenze besuchte. Marylka fühlte sich nicht einsam. Es tat ihr eigentümlich wohl, ihn ein wenig fern von sich zu wissen, so daß sie die Sehnsucht nach ihm genießen konnte.
In zwei Tagen würde er zurück sein; sie hatte am vorhergehenden Morgen ein Telegramm erhalten. Zweimal Nacht, zweimal Morgen, zweimal würde die Abendfinsternis den Himmel überteeren, zweimal würde die rosige Dämmerung ihren durchsichtigen Schleier über den Himmel hinziehen. Zweimal würden die Vögel schläfrig piepsen und zu zwitschernder Freude erwachen.
Marylka hatte nicht viele Gedanken übrig für all das Große, das nach dem, was in den Zeitungen verlautete, im Schwange sein sollte. Der Krieg zwischen Österreich und Serbien war ausgebrochen, aber sie dachte daran, wie lang die Reise gewesen war, das war so weit fort, daß es sie und ihre kleine Insel nicht im geringsten anging. Freilich war der junge Telegraphist am vorhergehenden Tage angestürzt gekommen, als sei schon ein Unglück geschehen, und hatte von einem Ultimatum erzählt, das Deutschland Rußland gestellt habe. Aber sie wußte nicht, was das Wort »Ultimatum« bedeutete, und außerdem meinte sie, Deutschland sei so groß und stark, daß, was es sage, in Ordnung kommen müsse. Krieg. Nein, so dumm war sie wirklich nicht.
Sie ging langsam den Weg auf und ab. Ihr Tagewerk war längst beendet, und alles stand am rechten Platz. In allen Vasen waren Blumen. Die Gewächse im Garten hatten ihren Trunk erhalten.
Ein Gedanke durchbebte sie. Ja, wenn Hans zurückkam, wollte sie ihn mit all den ersparten Goldstücken überraschen. Er sollte sie für eine Reise um die ganze Welt haben. Wie oft hatte er doch von seiner Sehnsucht nach alledem gesprochen, was so unerreichbar weit weg war!
Ja, er sollte das Geld haben, sobald er kam, damit er sich den ganzen Winter vorbereiten konnte. Die Freude wenigstens wollte sie mit ihm teilen – die Reise mußte er allein machen.
Sicher mußte es gegen Mitternacht sein. Die Stille ist eine andere vor Mitternacht als nachher, sicherer, tiefer, gesammelter. Wenn die Mitternachtstunde vorüber ist, sind da immer Insekten, die sich rühren, Samenkapseln, die springen, Vögel, die von ihren eigenen Träumen aufgeschreckt werden, Wellen, die keine Ruhe finden können, sondern wie Blinde am Ufer herumtaumeln. Die Mitternachtstunde ist die ruhigste im ganzen Kreislauf von Tag und Nacht. Auch hauchen die meisten müden Menschen gerade in dieser Stunde ihr Leben aus. Während die Kinder in der Regel erst geboren werden, wenn das Licht beginnt, seine Macht über die Finsternis zu zeigen – – –
Marylka fuhr zurück, als habe sie einen Schlag vor die Brust bekommen. Die Kirchenglocken hatten angefangen zu läuten. Um diese Zeit! Nicht wie zur Hochzeit, nicht wie zum Begräbnis. Nicht wie bei einer Feuersbrunst. Was konnte es sonst noch bedeuten? Das lärmende, gewaltsame Läuten! Hatte ein Wahnsinniger sich des Seils bemächtigt und schwang es nun zu seinem Vergnügen? Oder was sonst?
Marylkas feinhöriges Ohr fing jetzt ferne, angsterfüllte Stimmen aus den Hütten auf, die innerhalb des Gesichtskreises lagen. Türen gingen auf, Gestalten bewegten sich von Haus zu Haus. Nicht wie sonst, langsam und abgemessen gleich den Loten der großen, altmodischen Uhren, sondern hastig, entsetzt. Das Läuten der Kirchenglocken traf Marylkas Kopf wie Hammerschläge. Was war da geschehen, daß man die Leute nächtlicherweile so jäh aufschreckte? In der Wohnung des Telegraphisten wurde Licht angezündet. Sie eilte dahin. Er stand halb angekleidet da, seine Stimme schallte: »Allgemeine Mobilmachung! Wir haben Rußland den Krieg erklärt!«
Und während die Kirchenglocken bimmelten und bammelten, sah Marylka Schattengestalten über die Heide eilen. Aus allen Richtungen kamen sie, einzeln und mehrere zusammen. Eine jede hatte, wenn sie aus der Dunkelheit heraustrat und auf dem weißen Wege ganz sichtbar wurde, ein Bündel in der Hand. Kleine Kinder, nur mit ihrem kurzen Hemdchen bekleidet, liefen mit. Vor Marylkas Hütte blieben sie stehen, um Lebewohl zu sagen und dem Schulmeister, den sie alle liebten, einen Gruß zu senden. Marylka sah die starken, schweigsamen Männer sich über die Kinder beugen und sie, vielleicht zum erstenmal, liebkosen – dann eilten sie weiter, während Marylka die Kinder zurückhielt durch Versprechungen von Honigbrot und Obst aus dem Garten. Nicht einer der Männer erschien unvorbereitet oder betrübt, weil er fort mußte. Sie gingen, als sei da nur ein einziger Weg zu gehen.
Gegen Morgen, als Marylka die Kaffeekapsel über dem Feuer hatte, um alle die Frauen zu trösten, die sich wortlos und tränenlos um die Hütte scharten und den Weg entlang starrten, als schauten sie über die Schwelle des Krieges und vermöchten in die Zukunft hinein zu sehen – kam Hans Rudner.
Er umarmte Marylka, so daß sie unwillkürlich vor Schmerz stöhnte: »Marylka, ich brauche nicht mitzugehen, aber …« Die Farbe wich aus Marylkas sonnengehärtetem Antlitz. Sie schnappte nach Luft: »Aber …?« Ihr Mann strich ihr über das reiche, flachsblonde Haar, das überall auf der Reise Bewunderung erregt hatte: »Aber, sagst du, daß du es wünschst, so gehe ich mit …«
Die Kirchenglocken hatten während der letzten Stunden nicht mehr geläutet. Vor Marylkas Ohren aber war es, als ob Hunderttausende von Kirchenglocken vom Himmel, vom Meere, unten aus dem Reiche der Toten schallten.
Und Marylka verstand wie die anderen Frauen der Insel, daß die Kirchenglocken dieselbe Botschaft, dieselbe Bitte, dieselbe Forderung für alle hatten.
Der Unterschied war der, daß die anderen Frauen zurückblieben, während Marylka ihrem Mann bis an das Ende der Insel das Geleite gab. Dann kehrte sie langsam und mit schweren Schritten zurück.