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Arbeit

Die Antwort, die Doktor Leuß acht Tage später von der Schwägerin Katharina brachte, war gleichlautend mit dem Telegramm, das bei der Dänischen Gesandtschaft einige Tage zuvor eingetroffen war: Andreas Widrin habe das Hôtel de l'Europe verlassen, ohne eine neue Adresse anzugeben.

Gunhild von Payns Bries über die Begegnung machte den Schmerz für Ida noch stechender. Wieder war er in ein Dunkel gehüllt, das sie weder mit List noch mit Gewalt zu durchdringen vermochte. Nur war sie sicher, daß der Schmerz für ihn wenn möglich noch qualvoller war als für sie. Denn sie ahnte, daß er eine einsame Natur war.

Jetzt hatte sie aber keine Zeit, persönlichem Kummer nachzuhängen. Sie hatte kein Recht, den Schmerz an ihrer Tatkraft zehren zu lassen. Das würde ein Verbrechen gegen die Arbeit sein, die von allen Seiten rief. Und mit einer Willensanspannung, deren sie sich gar nicht fähig gehalten hatte, ließ sie zum zweitenmal den Gedanken an das Glück in das Unterbewußtsein hinabsinken.

Sie war ja nicht allein. Die Freunde gingen ein und aus wie früher, ja, noch mehr als früher. Alle, die nicht unten in Serbien kämpften oder das Eindringen der Russenhorden in Galizien zurückzuhalten suchten, fanden sich in Idas Heim als dem natürlichsten Sammelpunkt zusammen. Für sie alle hatte ein neues Dasein seinen Anfang genommen, ein auf strenge und selbstvergessende Arbeit begründetes Dasein. Bis spät in die Nacht hinein saß man oft zusammen, um diese Arbeit zu besprechen und zu verteilen.

Das fröhliche, sorglose, tanzende Wien war verwandelt. Alle Hände streckten sich aus, um zu helfen, mildtätig, opferbereit; aber nicht alle hatten den richtigen Griff, um die Hilfe wirkungsvoll zu machen. So war es eine Tatsache, daß wohlhabende Damen zu Anfang des Krieges große Einkäufe von feinstem Leinen machten – das sie zu Scharpie zerzupften!

Das Geld strömte herbei wie das Wasser in den Bergbächen, wenn der Schnee schmilzt. Am meisten fehlten bestimmt auftretende, entschlossene Männer und Frauen, die die großen Scharen der Hilfstruppen organisierten. Aber nach und nach fand man auch diese.

Der Krieg hatte sofort ganze Zweige der Industrie des Landes gelähmt. Der Luxus, der sich früher in beunruhigendem Grad von oben bis nach unten ausgebreitet hatte, war mit einem Schlage in Acht und Bann getan. Vorschläge zur Sparsamkeit wurden oft fast zu eilig besorgt. Von den höchsten Kreisen an schränkte man den persönlichen Verbrauch, den Haushalt, den Dienstbotenbestand ein. Tausende von jungen Dienstmädchen standen auf der Straße, ohne eine andere Erwerbsmöglichkeit, als daß sie sich der Erniedrigung hingaben. Die meisten Luxusgeschäfte mußten aus Mangel an Kunden schließen. Ladengehilfinnen, Kassiererinnen, Stenotypistinnen und Buchhalterinnen wurden ohne Kündigung entlassen. Selbst wo notwendige Gegenstände gehandelt wurden, beschränkte man das Personal auf Grund der Teuerung.

Und dazu kam dann der endlose Strom von Flüchtlingen, die der Feind oder die Angst vor dem Feind von Haus und Hof trieb. Alle in der festen Hoffnung, Obdach in der Hauptstadt zu finden.

Im Mittelpunkt der Stadt fühlte man das nicht so sehr. Freilich waren Straßen und Kaffeehäuser zu allen Zeiten des Tages überfüllt, aber es waren die verhältnismäßig Gutgestellten, die dort verkehrten; und die unterschieden sich nicht sonderlich von der gewöhnlichen Bevölkerung. Sie hatten gute Kleider an, sie waren in der Lage, sich eine anständige Wohnung oder ein Zimmer bei einer guten Familie zu mieten, sie konnten es sich leisten, in ein Kaffeehaus zu gehen und über die neuesten Nachrichten zu reden.

Die wirklich Notleidenden, deren Augen noch unsicher blinzelten nach der ausgestandenen Angst, hielten sich in den Armenvierteln der Vorstädte auf. Dort scharten sie sich zusammen, außerstande zu denken oder zu handeln. Dort streiften weinende kleine Kinder umher und riefen nach den Eltern, denen sie abhanden gekommen waren, sie wußten nicht wann oder wo. Dort verkauften Männer und Frauen im letzten Stadium der Verzweiflung die elenden Lumpen, die sie gegen die Kälte schützen sollten, um sich eine Stunde Vergessen durch den Trunk zu schaffen. Dort sah man obdachlose polnische Judenfamilien auf den Burgersteigen liegen und ihr Essen in verrosteten Blechdosen auf kleinen Petroleumöfen kochen. Und andere, Neuangekommene, die sich todmüde, gegen die Häuser gelehnt, zur Ruhe niederkauerten, auf die Bündel wertlosen Hausrats gestützt, den sie in der Stunde des Entsetzens zusammengescharrt hatten, und über dem sie nun brüteten, als seien es Schätze.

Und dort fand man sie nach kalten Nächten erfroren in Torwegen und auf Kellertreppen.

Der Hauptausschuß arbeitete Tag und Nacht, um diesen Massen ein Dach über dem Kopf zu schaffen und sie vor dem buchstäblichen Hungertod zu bewahren. Aber die Menge wuchs unaufhaltsam. Alle Hilfe erschien wie Tropfen in einem Meer, das mit jeder Stunde tiefer und größer wurde. Staat und Gemeinde waren sich darüber einig, daß kein Opfer zu groß sei, wo es sich um diese unschuldigen Landeskinder handelte; wo aber sollte man beginnen, wo sollte man enden?

Die große Zahl Wohnungen, die zu Anfang des Krieges leer wurden, weil eine Menge Familien sich zu der peinlichsten Einschränkung genötigt sah, und weil alle Fremden in ihre eigene Heimat zogen, ließ sich freilich im Handumdrehen mit Flüchtlingen füllen. Aber nicht jeder Wirt wünschte sein Eigentum Proletariern preisgegeben zu sehen – und der größte Teil der mittellosen Flüchtlinge wirkte gar bald als Proletarier. Also schraubten die Wirte die Miete in die Höhe, weniger aus Gewinnsucht, als um den guten Ruf ihres Hauses aufrechtzuerhalten.

Dadurch vermehrten sich die Schwierigkeiten für die Flüchtlinge. Es wurde notwendig, in aller Eile riesenmäßige Holzbaracken draußen auf dem Lande aufzuführen, wo Männer, Frauen und Kinder zu Zehntausenden zusammengestaut wurden. Dies nahm der Stadt einen Teil der Bürde ab; doch es blieben noch genug zurück.

Die Kinder stellten eine besondere Aufgabe. Keine Stadt ist imstande, unvorbereitet Räumlichkeiten für ein halbes Hunderttausend schulpflichtiger Kinder zu schaffen. Aber die Opferwilligkeit führte zu leuchtenden Ergebnissen. In einzelnen Schulen drängte man die Kinder in weniger Klassen zusammen und überließ die dadurch freigewordenen Räume den polnischen Kindern, in andern, wo der Unterricht nur am Vormittag stattfand, stellte man die ganze Schule während des Nachmittags zur Verfügung. Eine neue Schwierigkeit entstand. Diese Kinder kamen aus allen Schichten der Gesellschaft und viele von ihnen aus Gegenden, wo das Reinlichkeitsbedürfnis nicht sehr groß war; auch lebten sie außerhalb der Schulzeit unter so jammervollen Verhältnissen und in so kleinen Räumen zusammengedrängt, daß die Ansteckungsgefahr nicht außer Betracht gelassen werden durfte. Aber Scharen von jungen Mädchen aus den besten Häusern erboten sich, über die Reinlichkeit zu wachen, und Ärzte widmeten freiwillig Zeit und Kraft um den Gesundheitszustand zu beobachten.

Ganz hilflos waren freilich die kleinen Kinder, die darauf angewiesen waren, in dunklen, stinkenden Höhlen eingesperrt zu sein oder auf den Straßen herumzustreifen, teils Kinder der ärmsten Flüchtlinge, teils Kinder, deren Mütter mit Tagesanbruch fortgehen mußten, um für sich und die Ihren Nahrung zu schaffen. Diese Kinder boten einen traurigen Anblick, mit ihren Drüsengeschwülsten, den mageren Hälsen, die an junge Vögel erinnerten, mit den grauen, eingefallenen Wangen und den Streichholzbeinchen. Viele von ihnen hatten entzündete Augen, waren mit Ungeziefer behaftet, hatten ein verkrümmtes Rückgrat oder Hüftschäden, die keine Bandage zu heilen versuchte.

An diese Kinder dachte Ida Witt, als sie anfing, in verschiedenen Teilen der Stadt »Kinderhorte« zu errichten. Sie war keineswegs die einzige, die das tat, aber sie tat es auf ihre eigene Art. Sie begann nicht damit, Geld einzusammeln, Lokale zu beschaffen und, wenn alles am Platz stand, die Kinder zu suchen. Nein, sie legte auf der Karte den Finger über den einen oder den anderen Stadtteil und sagte: »Hier würde es praktisch sein, einen Kinderhort zu errichten!« Fünf Minuten später klingelte sie den Hauptausschuß an und bat, man möge bis zur nächsten Woche dreißig oder fünfzig oder hundert Kinder bereit halten. Und damit war der Kinderhort eine Tatsache. Allerdings fehlte ihr alles übrige. Viele meinten, sie könne ebensogut auf einen Bauplatz zeigen und sagen: »Hier steht in der nächsten Woche eine neue Kirche!« Und dann die Leute zu der Einweihungspredigt einladen! Ida aber lächelte allem Unglauben ins Gesicht.

War der Kinderhort in ihrem Gehirn gebildet, so suchte sie ein Lokal. Wo sie eine passende Wohnung leer stehen sah oder von einem Haus hörte, das zum Abreißen verdammt war, unternahm sie sofort die einleitenden Schritte. Es konnte vorkommen, daß sie viele Schritte machen mußte, ehe sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie stellte die größten Anforderungen in bezug auf Sonne, gute Heizbedingungen und Badezimmer. Sie hämmerte es in das Bewußtsein der Hauswirte hinein, daß für Kinder nichts zu gut ist. In einzelnen Fällen überredete sie den Wirt in fliegender Eile, neue Fußböden zu legen, Ofen zu setzen und allerlei Verbesserungen einzuführen – als handle es sich um eine vieljährige Miete unter günstigen Bedingungen. Die Vergünstigung, die sie dafür bot, bestand darin, daß der Wirt Erlaubnis erhielt, auch auf andere Weise sein Interesse für die Pflegekinder zu bezeigen. Es gelang ihr in der Regel, wenn erst die Klagen über schlechte Zeiten, Geldverlust und »nahe dem Ruin« überstanden waren, zugleich mit dem Mietskontrakt einen ansehnlichen Scheck einzuheimsen. Mobiliar, Geschirr und Küchenaussteuer erhielt sie auf dieselbe Weise und unter denselben Bedingungen. Sie verstand es, den einzelnen Geber so zu entflammen, daß das Wohl und Wehe des Kinderhortes ihm sowohl eine Ehrensache als auch eine Herzenssache wurde.

Jetzt galt es das Geld für den täglichen Betrieb. In ihrem nächsten Freundeskreise gab es äußerst wenige wohlhabende Familien, und die Fürstin war zurzeit weit über ihre Mittel in Anspruch genommen. Nicht um die Freunde zu schonen, sondern um sie in der Hinterhand zu haben, falls es galt, in einem Nu Geld aus der Erde zu stampfen, nahm Ida sie jetzt nicht in Anspruch, sondern ging andere Wege.

Sie wußte, daß es in Wien eine Klasse oder vielmehr eine Rasse von Menschen gab, an die man sich niemals vergebens wandte, wo es sich um Kinder oder alte Leute handelte. Das waren die Juden. Niemand gab so willig, so mit vollen Händen, so fröhlich wie sie. Die Liebe zu ihren eigenen Kindern machte sie so wunderbar mitfühlend den Kindern anderer gegenüber, die in Not waren.

Ida Witt hatte zahllose Fälle erlebt, in denen Juden ganz im geheimen Witwen und Waisen halfen. Wurde das Geheimnis verraten, so war es nicht ihre Schuld. Nie aber hatte sie eine Ahnung von der Größe in der Mildtätigkeit der jüdischen Natur gehabt, so wie sie sie jetzt bei Ausbruch des Krieges sah. Sie war Zeuge von unvergeßlichen Dingen geworden.

So war sie eines Tages – gerade als sie im Begriff stand, ihren fünften Kinderhort zu gründen, also zu einem Zeitpunkt, wo die Wohltätigkeit notwendigerweise ein wenig eingeschrumpft war – bei ihrer Modistin, um einen Hut ändern zu lassen. Diese, die Inhaberin eines der vornehmsten Geschäfte der Stadt, klagte darüber, daß sie im Laufe des Monats sich genötigt sehen würde zu schließen, da der Verkauf nicht einmal die Hausmiete decke. Ida erzählte ihr von dem neuen Kinderhort, der für hundert Kinder berechnet war, und die Modistin, eine Jüdin, war so ergriffen von dem Gedanken an die kleinen Kinder, daß sie sofort alle ihre Räume mit Heizung und Beleuchtung zur Verfügung stellte. Als Ida gehen wollte, nahm sie eine Perlenkette vom Halse und sagte: »Können Sie hundert Kinder so viele Tage sättigen, wie da Perlen sind, so hat die Kette mehr Nutzen geschafft, als wenn sie um meinen Hals hängt!« Und entschuldigend fügte sie hinzu: »Ich verfüge nicht über viel bares Geld, sonst würde ich die Perlen wohl nicht hergeben – eitel ist man ja –, aber Sie haben mir durch Ihre Schilderung von den Kindern eine Lehre erteilt. Ich hatte die Absicht, meine jungen Mädchen zu verabschieden, wenn ich das Geschäft schließe, jetzt will ich ihnen den halben Lohn geben, bis sie selbst kommen und sagen, daß sie etwas anderes gefunden haben.«

Ein anderer Fall rührte Ida noch tiefer. In demselben Haus, in dem sie wohnte, aber in einer Mansarde des Hinterhauses, wohnte eine achtbare Jüdin mit ihren drei Töchtern. Die ganze Familie ernährte sich durch Schneidern. Eines Tages erhielt Ida einen Brief von der Mutter, mit der Bitte, sie möchte doch bei ihnen nähen lassen, sie würden unendlich dankbar dafür sein. Natürlich erwarteten sie nicht, neue Sachen für sie zu nähen, aber sie würden sich alle erdenkliche Mühe bei Ausbesserungen und Änderungen geben. Ida ließ sie von nun an die Kleider anfertigen, die sie im Hause trug, und bald kannte sie die Familie gründlich. Einmal im Jahr, wenn sie in einer der alten Opern sang, schenkte sie ihnen eine Loge, und dieser Abend bildete den Glanzpunkt des Jahres für sie. Die Töchter waren um das dreißigste Jahr herum, allerliebste, gutbegabte Mädchen und im Besitz der angeborenen Würde, wie man sie namentlich bei altem Adel und alten mosaischen Familien trifft. Zufällig erfuhr sie den Grund, warum sie nicht verheiratet waren. Die Mutter erklärte ihr einmal, schlicht, aber mit einem Unterstrom von beschämter Wehmut, es sei in ihrer Rasse Sitte, daß die Frau eine Mitgift mitbringe, und wer nichts brächte, könne sich auch keine Hoffnung auf einen Mann machen. Auf Idas Einwendung, daß dies ein empörender und veralteter Gesichtspunkt sei, erwiderte die Mutter, so wäre es nun einmal, und man dürfe alte Sitten und Gebräuche nicht verhöhnen, sie hielten die Völker zusammen.

Einige Monate später teilte die Mutter in einem Brief mit, daß sich die jüngste Tochter mit einem wohlgestellten Geschäftsmann verlobt habe. Der Jubel der Familie war überwältigend. Alle empfanden es als eine Auszeichnung, als eine Erhöhung. Die Mutter nahm Idas Glückwunsch wie eine Königin in Empfang. Und nun vertraute man ihr an, daß die drei Schwestern und die Mutter mehr als zehn Jahre gespart und gedarbt und sich alles versagt hatten, was nicht streng notwendig war, um das Erforderliche zu einer persönlichen Aussteuer zu sammeln, für den Fall, daß das Unerwartete dennoch geschehen sollte. Man hatte siebzehnhundert Kronen beisammen, und im Laufe eines Jahres hoffte man die erforderliche Summe, zweitausend, zu erreichen und außerdem ein klein wenig zu haben, um die Hochzeit feiern zu können.

Die Summe war erreicht und die Hochzeit auf den November festgesetzt. Der Stoff zum Brautkleid war gekauft und Ida mit Stolz gezeigt worden. Man hatte Wohnungen besehen. Da kam der Krieg. Der Bräutigam war unter den ersten Einberufenen und wurde als Verwundeter von den Russen gefangengenommen. Keine Klage kam über die Lippen der stillen Familie. Die Mutter sagte: »Es ist nicht härter für meine Tochter als für alle die anderen. Im Gegenteil, sie und wir müssen glücklich sein, daß sie durch ihren Bräutigam ihrem Vaterland Ersatz dafür bieten konnte, daß sie keinen Bruder zu entsenden hat …«

Eines schönen Tages stand die Mutter in Idas Zimmer: »Im Namen meiner drei Töchter bitte ich Sie, eine kleine Geldsumme als Hilfe für einen der Kinderhorte anzunehmen!« Und sie überreichte einen Briefumschlag mit zweitausend Kronen. Natürlich weigerte Ida sich, ein so ungeheures Opfer anzunehmen, dessen Umfang nur sie kannte. Da aber richtete die Mutter sich stolz auf, wie an jenem Tage, als sie den Glückwunsch zur Verlobung angenommen hatte: »Sie können das Geld ruhig nehmen, es ist redlich verdient und wird aus gutem Herzen gegeben.«

Ida entgegnete, sie könne das nicht verantworten mit Rücksicht auf den gefangenen Bräutigam. Da holte die Mutter eine offene Karte hervor, die aus dem Gefangenenlager in Rußland gesandt war. Der Bräutigam schrieb: »Unter den vorliegenden Verhältnissen billige ich Deinen Wunsch vollkommen. Wenn einmal der Friede geschlossen wird, werde ich Dir zeigen, daß ich imstande bin, eine Frau zu ernähren und ihr die erforderliche Aussteuer zu verschaffen.«

Und Ida weigerte sich nicht mehr.

Während sie das Geld für den täglichen Betrieb der Kinderhorte sammelte, mußte sie auch die rechten Kräfte finden, die sich mit der Führung des Haushalts und der Pflege der Kinder beschäftigten.

Alle ihre Gesangschülerinnen hatten sich ihr zur Verfügung gestellt. Ein Teil davon gehörte zur höchsten Aristokratie, andere entstammten den Börsekreisen oder neugeadelten Familien. Ursprünglich hatten sie Ida zur Lehrerin gewählt, weil ihren Namen und ihre Persönlichkeit ein gewisser Nimbus umgab, es war Modesache, Gesangunterricht bei ihr zu nehmen. Aber daß Gesangkunst Arbeit erforderte, erfuhren sie mit vor Staunen weit geöffneten Augen. Brauchte man sich wirklich selbst anzustrengen? Genügte es nicht, daß man den ersten Lehrer wählte?

Bei einzelnen gelang es Ida, einen kleinen schlummernden Sinn für ernste Arbeit zu wecken, bei den meisten schien dieser jedoch ganz zu fehlen. Trotzdem hatte sie Vergnügen an diesen jungen Schmetterlingswesen, die sich an sie anklammerten und ihr alle ihre kleinen Sorgen anvertrauten. Sie wollten so gern etwas Großes ausüben, etwas sein, sich für irgendeine heilige Sache aufopfern, ihr Dasein war so leer und einförmig. Ida lächelte über den Eifer und die Treuherzigkeit, mit der sie ihre augenblicklichen Eingebungen äußerten; sie wußte nur zu gut, daß sie, sobald sie aus ihren vier Wänden heraus waren, das Leben in vollen Zügen genossen.

Der Krieg kam für sie wie ein furchtbarer Stoß. Auf einmal sahen sie sich der ganzen Schar junger Herren beraubt, die mit ihnen im Prater ritt, mit ihnen beim Fünfuhrtee und auf den Bällen flirtete, draußen am Semmering Wintersport mit ihnen trieb und ihnen ihr Herz vor die kleinen Füße legte, wenn die Saison beendet war. Brüder, Vettern, Freunde, alle wurden sie fortgerissen, und die wenigen, die zurückgeblieben waren, warteten nur darauf, daß die Stunde der Einberufung schlagen sollte. Niemand sandte ihnen mehr Blumen, forderte sie zu Ausflügen auf, sagte ihnen hübsche Dinge, niemand dachte daran, sie zu zerstreuen. Gegen sie war der Krieg eine grobe Rücksichtslosigkeit.

Aber es blieb ihnen ja nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Und da alle die anderen von dem Krieg in Anspruch genommen erschienen, mußten auch sie versuchen, es zu sein. Sie kauften Leinwand, die von der Dienerschaft des Hauses gewaschen und in schmale, viele Meter lange Stücke zerschnitten und eins nach dem anderen ausgeplättet wurde. Dann kam die Reihe an sie selber. Auf einem zierlichen kleinen Werkzeug mit Griff rollten sie jetzt die Streifen auf – ein jeder wurde eine kleine Binde, die in die Erste-Hilfe-Verbandtasche der Soldaten paßte. Einige brachten es auf zwölf Binden täglich, andere auf sechs.

Oder sie kauften grobe Stricknadeln und Wolle und studierten die Strickvorschriften für Strümpfe, Kniewärmer, Schale und Kopfschützer in den Zeitungen. Der Wille war gut genug, nur die Fähigkeit ließ zu wünschen übrig. Sie verloren Maschen, sie spalteten Maschen, sie schlugen verkehrt auf, nahmen an falschen Stellen ab, bald strickten sie fest wie ein Brett, bald lotterig lose. Keine Patience, keine Quadrille zu Pferd erschien ihnen so schwierig wie der Ansatz eines Hackens. Und dann bekamen sie Krämpfe in den Fingern und Schmerzen in den Schulterblättern. Staunend sahen sie, wie blitzschnell die Stricknadeln in den Händen der Arbeiterfrauen flogen, wenn sie in der Straßenbahn fuhren oder in einem Laden darauf warteten, abgefertigt zu werden.

Sie brachten ihre Strickzeuge in die Singstunde bei Ida mit und meinten, es ginge ganz gut, Tonleitern zu singen und gleichzeitig zum Abnehmen zu zählen. Ida bewahrte ihren Ernst und erklärte ihnen, daß halbgetane Arbeit eine Beleidigung gegen die große Sache sei. Da gaben sie sich Mühe – und siehe, es war gar nicht so unendlich viel schwerer, gleichmäßig zu stricken, als sich die Schritte in einem der neuen Tänze anzueignen, die jede Saison, ausgenommen diese, die ja keine war, zu bringen pflegte.

Ida fing an, mit ihnen über die Kinder zu reden, und sofort waren sie Feuer und Flamme. Sie erklärten sich bereit zu scheuern und zu schrubben. Man könne doch wohl Handschuhe dabei anhaben? In der nächsten Stunde erboten sie sich, sich die Nägel kurz schneiden zu lassen – und sie begriff, was für ein Opfer das war. Nur begriffen sie nicht, daß sie es ihnen nicht anvertrauen wollte, das Essen für die Kinder zu kochen, es wäre doch gerade so amüsant gewesen, das nach dem Kochbuch auszuprobieren. Auch nicht, daß sie erst Erlaubnis von ihren Eltern haben mußten.

Aber jetzt zeigte es sich, welch vorzügliches Menschenmaterial in diesen jungen Luxusgeschöpfen steckte. Ohne eine Einwendung zu machen, verzichteten sie auf den Morgenschlaf und saßen schon um sieben Uhr in der Straßenbahn, die sie in die Armenviertel führte, wo sie noch niemals gewesen waren. Eine jede brachte ihre Liste mit den Adressen der Kinder mit, die geholt werden sollten. Über dunkle, schmutzige Treppen, deren Stufen von Ratten und Abnutzung zernagt waren, suchten sie tastend den Weg in stinkende Kammern, wo sie kaum einen Schritt machen konnten, ohne über kleine, schreiende Kinder zu fallen.

Es war keine Kleinigkeit, ein Dutzend eingeschüchterter kleiner Wesen zu sammeln, sie sicher in die Straßenbahn zu verladen und in das neue Heim hineinzulocken. Es war keine schöne oder erfreuliche Arbeit, die kleinen Körper von Ungeziefer zu befreien, die eiternden Drüsen zu baden, die verfilzten Wuschelköpfe mit Petroleum zu waschen. Es erforderte einen ungeheuren Einsatz an Geduld und Erfindsamkeit, die kleinen Würmer den ganzen Tag in Atem zu halten und ihnen die Unarten abzugewöhnen, die sie von daheim und von der Straße mitbrachten. Aber es gelang, dank dem unermüdlichen Fleiß der jungen Mädchen. Nach Tische wurden die Kinder auf kleinen Liegestühlen angebracht, ein jedes mit seinem winzig kleinen Kissen unterm Kopf, mit einem bunten Tuch oder einer Flickendecke zugedeckt. Noch einmal öffneten die kleinen Schnäbel sich, um den vorgeschriebenen Löffel voll Lebertran mit nachfolgendem, köstlichem Pfefferminzplätzchen zu verschlingen. Und dann wurde ein Lied gesungen, die Vorhänge wurden zugezogen, und wie auf Kommando fielen alle die kleinen müden und satten Augen zu. Aber es geschah wohl auch, daß die eine oder die andere kleine Seele wach war und mit halber Stimme zu miauen begann wie ein junges Kätzchen – im selben Augenblick hatte die ganze Schar den Schlaf abgeschüttelt, und die Stube war mit miauenden kleinen Katzen angefüllt. Dann mußte die Pflegemutter ihre Stimme ganz ernsthaft ertönen lassen, bis sie sich wieder beruhigt hatten.

Jede Woche wurden sie gewogen. Keine junge Mutter konnte mit größerer Spannung ihr Erstgeborenes auf die Wagschale legen und mit größerer Freude das Ergebnis niederschreiben als diese jungen Mädchen, die noch nie im Leben den geringsten Nutzen gestiftet hatten.

Wenn der Tag beendet war, fuhren sie wieder in die Vorstädte hinaus und lieferten die kleinen schläfrigen Bündel in den verschiedensten Familien ab. Aber statt dann mit gutem Gewissen am Abend auszuruhen, nahmen sie kleine Strümpfe mit nach Hause, die gestopft werden mußten, Hemden und Röcke, die geflickt werden mußten, Blusen und Kleider, an denen Knöpfe fehlten. Kaum daß die Eltern sie vom Nähen zurückhalten konnten, während sie ihr spätes Mittagessen einnahmen.


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