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Meine herzlieben Kinder!
Seid ohne Sorge meinetwegen, hört Ihr! Nichts Böses kann dem widerfahren, der keine Menschenfurcht kennt. Der liebe Gott, der mich in so vielen guten Jahren bewahrt hat, wird mich die kurze Zeit, die ich noch übrighabe, nicht verlassen. Versucht nicht, mich zu überreden fortzuziehen, was auch geschehen mag, ich bleibe hier. Kein Feind kann mich in die Flucht treiben. Und sollte etwas geschehen, so daß Ihr mich nicht wiedersehet, da müßt Ihr nicht trauern.
Ich bin alt, aber ich habe bis jetzt die Last der Jahre nicht gefühlt. Solange alles gut und friedlich war, dachte ich nicht an den Tod. Gern wollte ich viele Sommer mit liebem Besuch und viele Winter mit vergnüglichen Briefen erleben. Aber nun bin ich müde. Und erst jetzt sehe ich ein, daß der Leichtsinn der Zeit und der Menschen auch mich angegriffen hatte.
Wenn an Winterabenden Maruschka mit ihrer Arbeit fertig war und sich zu mir hineinsetzte, las ich ihr vor – die Ärmste, sie hatte ja nie lesen und schreiben gelernt. Viel verstand sie wohl nicht, die alte treue Seele, aber sie war mir Gesellschaft, und wir hatten ja viele Erinnerungen miteinander gemein, aus der Zeit, als wir noch klein waren. Ich las dann, was Ihr mir schicktet, und was mir sonst in die Hände fiel. So las ich von dem schrecklichen Krieg zwischen Japan und Rußland. Aber Maruschka wollte nicht glauben, daß es Wirklichkeit sei. Sie hatte es nicht mit ihren Augen gesehen, und es war so weit weg. Sie glaubte an jedes Wort, das in der Bibel steht, aber an den Krieg wollte sie nicht glauben. Und nun sehe ich ein, daß es mir erging wie ihr, obwohl ich wußte, daß es Wirklichkeit war. Ich schob die Wahrheit von mir – weil es so weit weg war. Wenn ich von Leichen hörte, die in haushohen Haufen lagen und mit Petroleum übergossen und verbrannt wurden, damit der Gestank die Gegend nicht verpesten solle, so rührte das mein Herz nicht so sehr wie das Schicksal einer Romanfigur, das sich in meiner Nähe abspielte. Wenn ich von Hunderttausenden las, die in China den Hungertod starben, wenn ich las, wie Männer und Frauen an den Wegen lagen und sich nicht mehr aufrichten, nicht mehr die Hände ausstrecken konnten, oder wie sie ihr Jammergeschrei zum Himmel erhoben, oder wenn ich las, wie die Überlebenden die Ernte des nächsten Jahres vernichteten, indem sie, um ihren Hunger zu stillen, das Korn auf den Feldern ausrissen, wenn es eben erst aus dem Boden aufgesproßt war – dann machte das keinen so tiefen Eindruck auf mich, als wenn ich hier die kleinen Kinder der armen Juden den Abfall aus den Kehrichteimern heraussuchen und verzehren sah. Das war zu weit weg. Wohl fühlte ich die Frostschauer des Grauens mich durchbeben – wie wenn ein Fenster aufspringt und ein Sturmwind die Lampe auslöscht – sobald sich mir der Gedanke aufdrängte: »Wenn das hier geschähe!« Aber ich beruhigte mich immer dabei, daß es ja so weit weg sei.
Ich war nicht auf den Krieg vorbereitet, wie ich nicht auf den Tod vorbereitet war, deswegen wurde es mir so schwer zu sagen: Dein Wille geschehe, nicht der meine!
Kinder, die friedliche Stadt Eurer Kindheit ist in Feindeshand. Ihr würdet sie nicht wiedererkennen. Ich wünsche und bitte, daß Ihr nie – auch nicht, um Euch nach den Gräbern Eurer Eltern umzusehen – hierher kommt. Laßt die schönen Bilder der Erinnerung in Euren Herzen auf ihrem Platz hängen! Dies ist die Bitte einer Mutter.
Seinerzeit hinderte ich Euch daran, dem Manne das letzte Lebewohl zu sagen, der meine Jugend so gut und meine Einsamkeit so reich machte; ich wollte nicht, daß das Grauen des Todes Euch die Erinnerung verschleiern sollte. So will ich Euch nun mit meiner letzten Kraft gegen die Enttäuschung beschirmen, die ein Wiedersehen mit der Vaterstadt Euch bringen muß. Gelobt mir, o gelobt mir, Kinder, nie wieder hierher zu kommen! – – –
Hier ist es jetzt still, und es ist Nacht. Öffne ich aber das Fenster und steht der Wind darauf, so höre ich den Lärm vom Markt her. Gestern abend schlachteten sie Ochsen in der Rathaushalle, wo Ihr tanztet, während wir Mütter an den Wänden entlangsaßen und zusahen.
Verzeihet mir, Kinder, wenn ich ein Unrecht gegen Euch begangen habe. Das Familiensilber ist nicht mehr. Der Wert war ja nicht groß, aber ich weiß, daß Eure Herzen mit Liebe daran hingen. Doch konnte ich nicht anders handeln, nein, ich konnte nicht.
Maruschka war ausgegangen, um Einkäufe zu machen. Ich wollte das Haus nicht mit Vorräten anfüllen. Das kommt mir vor, als wollte ich von Blinden stehlen. Maruschka versuchte, hinter meinem Rücken zu handeln. Unterm Bett hatte sie Beutel mit Mehl und Gries verborgen, aber eine Maus nagte ein Loch, und es sickerte heraus, so daß ich das Lager entdeckte. Da mußte Maruschka es den Armen hinabtragen, die in den Straßen herumschleichen und mit den Augen betteln.
Das Erzählen geht mir langsam vonstatten, ich bin umständlich, aber das macht das Alter, und meine Gedanken wandern so weit umher, während ich schreibe.
Da kam Maruschka heim, vor Schrecken bebend. Sie war meinem alten Doktor begegnet, der auf dem Wege zu mir war, um zu erzählen, der General verlange ein ungeheures Lösegeld im Laufe von vierundzwanzig Stunden, sonst würde er nicht für die Stadt einstehen. Ihr wißt ja, Kinder, daß als die Kosaken zum erstenmal über den Fluß ritten, eine grenzenlose Panik entstand. Über die Hälfte von der Bevölkerung der Stadt flüchtete. Der liebe Gott beschütze alle, die draußen in den Bergen umherirren, ohne Essen, ohne Dach überm Haupt! Die Huzulen haben ihnen wohl nach Kräften geholfen, aber ach, sie leiden selbst Not. Sie haben ihre Pferde, ihren einzigen und liebsten Besitz, aus Mangel an Futter schlachten müssen. Dies erzähle ich Euch, damit Ihr verstehen könnt, wie der Gedanke an die große Geldsumme die Zurückgebliebenen erschreckte. Nur die Armen und sehr wenig andere, die, wie ich, das Haus nicht verlassen konnten, waren noch in der Stadt. Ich sammelte, was ich an Geld und Wertpapieren besaß, wohl wissend, daß die Opferbereitschaft des einzelnen hier von entscheidender Bedeutung werden konnte. Unser guter Bürgermeister ging selbst von Haus zu Haus mit seinen Helfern, die ganze Nacht ging er. Er bat nicht nur um Geld, sondern auch um edles Metall, und alles wurde in Säcke gestopft und gleich mitgenommen.
Eine Nacht ist lang für den Schlaflosen, aber kurz für den, der sich vor dem Morgengrauen ängstigt. Diejenigen, die etwas abzugeben hatten, gaben willig. Ich weiß von Jüdinnen, die die Ringe von ihren Fingern sägen und sich die goldenen Zähne ausbrechen ließen, um die Stadt vor dem Bombardement zu bewahren. Entsinnt Ihr Euch noch der Gitte Raffael, von der man sagte, sie sei so geizig, daß sie sich nicht das Essen gönne? Alle die Perlen und edlen Steine, die sie in ihrem Haar versteckt hatte wie Eier in einem Nest, zupfte sie wieder heraus und gab sie hin. Ich hatte keine Perlen, da gab ich das Silberzeug.
Und dann, Kinder, war das Ganze nur eine Laune des Generals. »Ich brauche euer Geld nicht! Mein Kaiser ist reich! Ich wollte euch nur einen Schrecken einjagen! …« Er handelte wohl nach der besten Überzeugung, aber für mich war es, als wenn erwachsene Leute kleine Kinder mit Dunkelheit und Gespenstern bangemachen. Alle erhielten ihr Geld und ihre Wertsachen zurück, aber ich konnte mich nicht entschließen, mein Silberzeug zu behalten. Alles Überflüssige ist unerlaubt heutzutage – und Silberzeug war ja zu aller Zeit ein Luxus.
Die Lampe brennt wie sonst. Maruschka schläft, aber sie schreit im Schlaf. Neulich war sie aus, um Brot und Eier zu kaufen, da stach einer von den Kosaken mit seinem Bajonett nach ihr, sicher nicht, um ihr ein Leid anzutun, aber sie kann nicht darüber hinwegkommen. Das junge Ehepaar unter uns floh, als der Feind sich zum zweiten Male näherte, und wir sind allein im Hause. Ich habe den Schlüssel zur Wohnung und gehe jeden Tag hinunter und begieße die Blumen. Noch ist die Wohnung unangetastet. Aber wie lange?
Es ist so viel von Verrat die Rede gewesen! Entsinnt Ihr Euch noch, Kinder, wie wir vor ein paar Jahren von der sonderbaren Sitte sprachen, die sich mehr und mehr unter den Bauern ausbreitete, daß sie ihre Toten in den Bergwäldern begruben? Entsinnt Ihr Euch noch des Leichenzuges, dem wir auf unserem Ausflug begegneten? Er war so hübsch mit allen den roten Farben. Wir kamen an mehreren hölzernen Kreuzen vorüber, die über solchen Gräbern errichtet waren. Jetzt sagt man, daß jedes Kreuz eine Niederlage von feindlichen Waffen bezeichnet. Nicht der Verrat macht mein Herz so schwer und müde schlagen, denn diese Leute handeln ja in der Arglosigkeit ihrer Unwissenheit, sondern der Gedanke an den Haß, den der Verrat erzeugt, und an die Ungerechtigkeit, die er im Gefolge hat. Schuldiges und unschuldiges Blut wird ohne Unterschied vergossen – es hat ja dieselbe Farbe.
Jeden Tag gehe ich auf meinen Andachtsplatz hinaus; von dort sehe ich die Sonne sinken. Noch ist der Grabesfriede unverletzt, kein Stein ist umgestoßen, kein Hügel zertreten. Ich fühle mich gleichsam als Wächter über die stillen Wohnungen der Toten gesetzt. Die Glücklichen, die das Grauen des Krieges nicht zu erleben brauchten!
In diesen armseligen Gegenden war die Natur ernst und feierlich, zuweilen aber beleuchtete sie das Lächeln der Gottheit. Jetzt ist es, als habe Gott sein Antlitz verhüllt und sich von den Menschen abgewandt, die es nicht verstanden, Frieden miteinander zu halten.
Wenn die Dunkelheit hereinbricht, gehe ich zurück, unangetastet gehe ich an den trunkenen Kosaken vorüber – machen das meine grauen Haare und der Gedanke an die Mütter, die sie zurückliehen?
Es ist viel geschehen, seit ich zuletzt schrieb. Maruschka ist nicht mehr. Ich bin ganz allein. Es ahnt mir, daß dies mein letzter Brief sein wird, aber niemand kennt den Tag, ehe die Sonne untergeht. Teure, geliebte Kinder, ich will nicht zögern, Euch zu sagen, was mir auf dem Herzen liegt. Jetzt rast der Krieg über die Lande. In jedem Hause sitzen Witwen oder Mütter, die allein blieben. Alle warten sie auf den Frieden, hoffen darauf. Aber, Kinder, der Friede bedeutet keinen Frieden. Nach dem Frieden kommt die Schreckenszeit des Hasses. Des Hasses zwischen den Völkern.
Könnte ich, o, könnte ich Eure Seele vor diesem Haß schützen. Könnte ich Euch begreiflich machen, daß der Haß schlimmer ist als das Blutvergießen!
Die Brücke über den Fluß ist gesprengt. Die Überreste des zertrümmerten Bogens sind wie zwei Arme, die sich vergebens nacheinander ausstrecken. Jeder, der sich in der Dunkelheit und nichts ahnend auf die Brücke hinausbegibt, muß rettungslos in den Fluß stürzen. Aber so klug sind die Menschen, daß sie bemüht sind, den Schaden so schnell wie möglich auszubessern. Von beiden Seiten bauen sie nach der Mitte zu, bis sich der Bogen schließt und die Brücke wieder sicher ist.
Die Brücke zwischen den Ländern ist gesprengt. Ihr werdet es kaum erleben, zu sehen, wie sich der Bogen wieder ganz schließt. Aber Ihr könnt das Eure dazu beitragen. Reicht die Planke Eures Willens nur einen einzigen Zoll, so habt Ihr doch eine gute Tat vollbracht.
Auch ich habe von den Grausamkeiten gehört und gelesen, die der Feind an Frauen und wehrlosen Verwundeten begangen hat. Aber ich glaube nicht an die Grausamkeit der Menschen. Jetzt bin ich alt, und ich bin niemals einem Menschen begegnet, von dem ich sagen könnte: Sein Herz war mit Grausamkeit angefüllt. Aber der Krieg zeitigt kranke Gemüter. Der Blutnebel des Krieges blendet viele Augen, die sonst so klar sahen. Glaubt mir, Kinder, der Krieg ist grausam, nicht die Menschen sind es. Ich sehe ja dieselben Kosaken, die Sadagora niederbrannten und die armen Juden mit Peitschenschlägen forttrieben, ich sehe sie stehen und die Hände erfrorener Kinder reiben und sie in ihren Pelz nehmen, um sie zu wärmen.
Der Haß entsteht aus Worten. Aus Worten, die so gefährlich sind wie Streichhölzer in den Händen von Kindern. Kein Feuer und keine Pest greift um sich wie der Haß, und keine Seuche ist schwerer auszurotten. Der Haß dringt in die Muttermilch hinein und vergiftet die unmündigen Seelen.
Ich sitze in einem Trümmerhaufen. Meine Hand zittert, aber nicht vor Furcht. Das schwere Geschütz macht die Erde erbeben. Sollten dies meine letzten Worte an Euch sein, geliebte Kinder, so vergesset sie nicht, sondern traget sie immer bei Euch: helft, die gesprengte Brücke zwischen den Ländern wieder aufzubauen! …
Gott beschütze Euch, wie er mich beschützt hat. Darum bittet