Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Brief der Frau Professor Witt an ihre Tochter Lili

Unsere herzliebe Tochter!

Dein Vater hat mich gebeten, Deinen Brief zu beantworten, und da ich ihm niemals etwas abschlage, will ich ihn auch jetzt nicht im Stich lassen, obwohl ich weiß, daß er die richtigen Worte weit besser finden würde. Aber der Krieg hat ihn niedergebeugt, und seine Sehkraft hat sich verringert, so daß er jetzt alles diktieren muß.

Liebes Kind, es ist nur natürlich, daß Du mit Deinen Sorgen zu uns fliehst. Wir wollen ja nichts lieber, als Dir helfen und raten, aber unsere Macht reicht nicht aus, um eine solche Verantwortung auf uns zu nehmen. Eine übereilte Handlung von Deiner Seite kann zu unabsehbarem Leid für Dich und Deine Lieben führen. Wenn ich nun zu Dir rede, so gut, wie ein einfältiges Mutterherz es vermag, so geschieht es nicht, um Dich am Handeln zu hindern, sondern um Dich zu hindern, übereilt zu handeln. Das mußt Du verstehen und nicht zürnen über das, was ich zu sagen habe.

Es geschah auf Eures Vaters Wunsch, daß Ihr Kinder dazu erzogen wurdet, die ganze Welt als Euer Vaterland zu betrachten. Es gibt keinen besseren Patrioten als Deinen Vater, aber er hat immer ein Traumleben geführt, das ihm seine Umgebung gerade in dem Lichte erscheinen ließ, wie es für seinen sanften, nachsichtigen Sinn paßte. Für ihn gab es keine Grenzen zwischen den Ländern. Er fragte nicht nach Rasse, Glauben oder Nationalität. Und in unserer stillen Stadt scharten sich um ihn Schüler aus der ganzen großen Welt.

Ihr Kinder wart so verschieden von ihm wie von mir. Oft habe ich mich mit Staunen selbst gefragt, woher Ihr Eure Sehnsucht in die Ferne habt und Euer Verlangen nach allem, was neu ist. Jena bedeutete für Euch nicht die Heimat, in der Ihr wurzeltet, und wohin Ihr gehörtet, sondern den Ort, von dem man sich wegsehnte, wo die Koffer gepackt wurden, wo man zusammentraf, um neue Fahrten zu planen.

Ich war nicht blind für die Gefahr in Eurer Erziehung, aber ich war schwach – schwach aus Liebe. Und Euer Vater trat nicht mit Autorität auf, stellte keine Forderungen an Euch, er gönnte Euch wie allen anderen volle Freiheit unter eigener Verantwortung.

Ihr bewundertet ihn. Aber mehr, weil Ihr die Bewunderung anderer sahet, als weil Ihr ihn verstandet, und sein Lebenswerk blieb Euch immer im tiefsten Innern fremd und gleichgültig. Nur Ida las seine Werke und machte sie sich zu eigen, sie ist die einzige, die ein wenig Ähnlichkeit mit ihm hat. Seine wunderbare Bescheidenheit und Selbstlosigkeit bewirkte, daß ihn die Gleichgültigkeit seiner Kinder nicht verletzte.

Hätte ich alles eingesetzt, Euch hier zu behalten, Euch Genüge finden zu lassen an dem Teil der Welt, der sich in Jena abspiegelt, so wäre für uns alle vieles anders gewesen. Aber Ihr nanntet die Stadt Eurer Kindheit »die Schattenstadt« – und wir ließen Euch von dannen ziehen. Die Leitung des Heims fiel mir zu, und ich hatte große Verpflichtungen gegen das Genie an meiner Seite. Dies ist meine Entschuldigung, wenn ich die Pflichten gegen Euch versäumte. Unsere Verhältnisse waren niemals glänzend, und es gehörte große Berechnung dazu, um die Ausgaben mit den Einnahmen in Einklang zu bringen. Auch das war der Wunsch Eures Vaters: Ihr solltet nichts ahnen von den Opfern, die wir brachten, Ihr solltet nicht aufwachsen als Anbeter des goldenen Kalbes.

Mit Staunen und Unruhe sah ich aus Euren Briefen und aus Eurem Wesen, wie nur allzu leicht Ihr Euch überall anpaßtet. Dem Chamäleon gleich wechseltet Ihr die Farbe nach Eurer Umgebung. Ich erkannte Deine Freunde, Lili, aus Deiner Rede und Deinen Bewegungen, ehe Du sie genannt hattest. Alles färbte bei Dir ab. Oft mußte ich denken: hat Lili wohl eine eigene Persönlichkeit?

Während jenes Winters in Rom wurdest Du so beeinflußt von der Mystik und Schönheit der katholischen Lehre, daß du nahe daran warst, Deinen Glauben zu wechseln. Das nächste Jahr in Zürich warst Du absoluter Freigeist. Während des Zusammenlebens mit Skandinaviern wurde die Frauensache Dein Lebenszweck. Von dem Augenblick an, wo Du Rodolphe fandest, modeltest Du Dich um und wurdest die Frau, die er, der Franzose, als Gattin und Mutter für seine Kinder wünschte. Rodolphe ist Dir ein guter Gatte gewesen. Ein Mann von geringerem Wert hätte Dich herabgezogen. Du warst den Gesetzen der Einwirkung in höherem Maße unterworfen als die meisten. Und Du versuchtest nicht dagegen anzukämpfen.

In Rodolphes Adern fließt das Blut einer kultivierten Nation. Seine taktvolle Rücksichtnahme auf Deine Familie hat ihm für immer einen Platz in meinem Herzen gesichert. Aber ich sah, wie fremd er sich in unseren Kreisen fühlte. Die Bürgerlichkeit unseres stillen Provinzlebens verletzte etwas in dem Innersten seines Wesens. Wenn es niemals zu einem Zusammenstoß kam, so gebührt ihm in erster Linie die Ehre.

Rodolphe trug Dich auf Händen. Du warst ja sein eigenes Werk, der willige Ton, nach seinem Wunsche geformt. Aber Du wurdest eine Fremde für Dein Heim und für Deine Eltern. Ja, Lili, Dein eigener Vater sah Dich schließlich an, wie man ein schönes Bild ansieht, ohne daran zu denken, ob es Ähnlichkeit mit dem Original hat. Es erschien ihm so natürlich, daß Du Französisch sprachst, wenn Du uns mit Deinen Kindern und Deinem Mann besuchtest – wir waren ja von jeher gewöhnt, uns unter Menschen fremder Sprachen zu bewegen – wir machten Dir auch keine Vorwürfe, weil Du Deine Kinder Deine eigene Sprache nicht erlernen ließest. Aber, Lili – wenn Du mit unseren Dienstboten Deutsch sprachst, suchtest Du nach den Worten …

Du saßest in dem Heim Deiner Kindheit mit derselben lächelnden Überlegenheit bei Tische wie in einer Dorfschenke, wo man fürlieb nimmt. Es war Dir, dem Freigeist, etwas ganz Selbstverständliches, zu dem Glauben Deines Mannes überzugehen. Du, die Du Freiheit ohne Schranken genossen hattest, ließest Deine einzige Tochter im Kloster erziehen und sandtest Deinen einzigen Sohn in ein Internat. Im vergangenen Jahr, als Dein Vater Yvonne – sie zählte damals vierzehn Jahre – Goethes »Faust« schickte, schriebst Du einen entsetzten und empörten Brief, als wenn eine solche Lektüre ihre Seele verderben könnte.

Es ist kein Zufall, daß ich dies alles schreibe, das Du ja kennst; es hat seinen guten Grund, wie Du bald ersehen wirst.

Niemand von uns hatte mit dem Krieg gerechnet. Dein Vater am wenigsten von uns allen. Er, der Friedensapostel von Natur und Überzeugung, baute ja sein ganzes Dasein auf den Traum von einem ewigen Frieden auf. Er nahm mit derselben Freude Erwins russisch geborene Braut auf wie Deinen französischen Mann. Und nun – kämpft Erwin gegen das Volk seiner Gattin, und Rodolphe will sich als Freiwilliger gegen Dein Vaterland melden.

Sechzehn Jahre lang hast Du bei jeder Gelegenheit hervorgehoben, daß Deine Ehe glücklich sei. Sollte das alles plötzlich Einbildung sein? Ist Dein Mann plötzlich Dein Feind geworden? Sind Deine Kinder – die französischen, von einer deutschen Frau geboren, die sich willig französieren ließ – Dir jetzt fremd geworden? Du sagst, sie sprechen mit Verachtung von Deinem Lande. Aber, Lili, was hast Du sie von diesem Lande gelehrt? Wann bist du dafür in die Schranken getreten? Hast Du nicht überall und immer die Nation Deines Mannes auf Kosten Deiner eigenen hervorgehoben? War es nicht Dein Stolz, daß man Dich für eine geborene Französin hielt?

Kannst Du, darfst Du sagen, daß die Luft, die Du sechzehn Jahre lang mit Wohlbehagen eingeatmet hast, Dir jetzt auf einmal verpestet vorkommt? Scheidung! Glaubst Du damit Deinem Lande zu nützen? Glaubst Du damit die Herzen Deiner Kinder zu bekehren und sie zu Deutschen zu machen?

Entsinnst Du Dich noch der japanisch geborenen Frau des Gesandten, die Du einmal getroffen hattest? Als sie ihre Heimat als Gattin des fremdländischen Diplomaten verließ, sagte ihre Kaiserin zu ihr: »Mache Deinem Lande Ehre, indem Du Deine Pflichten gegen Deinen Gatten erfüllst. Eigne Dir seine Sprache und seine Sitten an! Verbirg die Gedanken an Japan im Innern Deines Herzens wie in einem Schrein mit sieben Schlössern!« Und Du warst begeistert über ihr Pflichtgefühl!

Frage Dich jetzt selber, welche Pflichten Du hast!

Du leidest nicht nur, weil sich Dein Mann gegen Dein Volk wendet, sondern weil Du auf einmal fühlst, daß man Dich mit Mißtrauen betrachtet, daß Du den Freunden in Deinem neuen Lande eine Fremde bist.

Glaubst Du, daß es für Erwins Frau leicht ist? Sie ist bei uns, und wir schirmen sie, so gut wir können. Aber wir sind nicht imstande, sie dagegen zu schützen, daß eine Unterhaltung stockt, wenn sie ins Zimmer tritt, wir können sie nicht davor bewahren, außerhalb der Einheit zu stehen, die unsere größte Stärke ist. Solange der Krieg währt, ist sie hier, so wie Du da, eine Beargwöhnte.

Sie fand es natürlich, wenn auch schmerzlich, daß Erwin mitging. Du betrachtest es als Verrat, wenn Rodolphe sich meldet. Hast Du Grund, geringer von Deinem Mann zu denken als von Deinem Bruder? Veranlaßten nicht dieselben Gefühle Erwin, seinen Taktstock niederzulegen, die jetzt Rodolphe beseelen?

Daß in dieser Zeit böse und bittere Worte zwischen Ehegatten verschiedener Nationen gewechselt werden, ist eins der unvermeidlichen Schicksale, die der Krieg im Gefolge hat. Die Menschen sind keine Engel, und ich darf wohl glauben, daß, wenn Rodolphe Dich verletzt hat, auch Du ihn wieder verletzt haben wirst. Solche böse und heftige Worte, die zu einem Zeitpunkt gewechselt wurden, wo alle von demselben Fieber angesteckt sind, bedeuten, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben, nicht mehr als der Schrei, den man im Traum ausstößt, oder die Schimpfworte, die Kranke oft dem Arzt zurufen, wenn ihnen die Schmerzen unerträglich erscheinen.

Weht nicht die Fahne des Roten Kreuzes über allen Völkern ohne Unterschied von Freund oder Feind? Melde Dich dort, Lili! Und halte Deinen Mann nicht zurück, das zu tun, was für ihn eine heilige Pflicht ist – oder sein muß. Kämpfe für die gute Sache, auf dem Fleck, den Du selbst gewählt hast, und wohin Deine teuersten Pflichten Dich rufen! Mache wieder gut, was Du Deinen Kindern gegenüber versäumt hast! Nimm Yvonne aus der Klosterschule! Laß sie das Leben sehen, das zu leben sie geschaffen ist! Eine schlechte Mutter, die jetzt glaubt, ihre Tochter zu beschirmen, indem sie sie den Schrecken des Krieges fern hält. Glaube mir, Lili, die Kriege der Zukunft werden von den Frauen abhängen!

Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Aber ich verlange ja nicht, daß Du auf meine Ratschläge hören oder sie befolgen sollst. Ich will Dir nur ans Herz legen, daß der abgeschossene Pfeil nicht zurückgerufen werden kann. Handle nicht übereilt! Solltest Du aber nach genauer Überlegung den Entschluß fassen, den Dein Brief andeutet, so steht Dir Dein Heim jederzeit offen, und die Liebe Deiner alten Eltern ist unerschütterlich die gleiche.

Es ist meine Hoffnung, daß Du Rodolphe diesen Brief lesen läßt, vielleicht wird es auch etwas in ihm wachrufen, worüber er bisher nicht nachgedacht hat.

Es ist wohl sehr fraglich, ob wir in der kommenden Zeit Briefe wechseln können. Dieser, das weiß ich, wird in Deine Hände gelangen. Sei aber im übrigen vorsichtig, damit Du niemand ins Unglück bringst!

Nimm, liebes Kind, die herzlichsten Gedanken von Deinen alten

Eltern.


 << zurück weiter >>