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Aglaja

Ida wußte, daß die Fürstin heimgekehrt war, aber in den letzten Tagen hatte so überwältigend viel auf ihr gelastet, daß sie nicht die Zeit finden konnte, auch nur zu fragen, wie die Reise verlaufen sei. Jetzt klingelte Nadja sie an und bat sie, so bald wie möglich zu kommen. Sie sprach in flüsterndem Ton, als ob niemand hören dürfe, daß sie telephonierte.

Erst am nächsten Tage fand Ida Zeit, nach dem Palais zu gehen. Sie dachte daran, Nadja und Aglaja zu bitten, ihr behilflich zu sein, die jungen Mädchen in die Museen zu führen und ihnen die Stadt zu zeigen.

Der alte Thaddäus öffnete ihr. Seine Augen waren verweint oder übernächtig, aber er antwortete nicht auf Idas fragenden Blick. Seine Dienerwürde verbot ihm, Fremde über den Kummer der Familie zu unterhalten.

»Durchlaucht ist in ihrem Arbeitszimmer, aber …« Ida war gewöhnt, unangemeldet hineinzugehen. »Was gibt's denn, Thaddäus?« »Ich weiß nicht, ob gnädiges Fräulein durchkommen können … Wir haben …« Er räusperte sich: »Wir haben Gäste …«

Im selben Augenblick kam Nadja. Sie hatte eine langärmelige blaue Schürze an, die bis an die Füße reichte. Thaddäus sah, daß seine Anwesenheit nicht gewünscht war, und entfernte sich. Nadja machte keine Miene, Ida hineinzuführen.

Sie begann in fliegender Eile zu reden, als wenn jemand auf sie warte und sie bange sei, nicht alles sagen zu können, ehe sie unterbrochen wurde: »Hilf mir, den Mut aufrechtzuhalten! Mama ist mit achtzig Alten aus den Dörfern hier angekommen … Sie wohnen hier. Wie, kannst du selbst sehen! Aber Mama … die arme, arme Mama! Alles ist abgebrannt … in die Luft gesprengt … Alles! Alles!« Sie nahm sich gewaltsam zusammen und erzählte ein wenig ruhiger: »Aglaja und ich ahnten es und versprachen einander, tapfer zu sein. Wir wollten es Mama nicht gern noch schwerer machen. Aber nun, vorgestern, bekam Aglaja einen Brief … Er ist es nicht, glaube ich, es ist die Mutter! Sie hat ihn dahin gebracht, Aglaja aufzugeben … Und nun liegt Aglaja krank … Hier stehen wir mit all den Alten, die weinen, wenn nicht eine von uns fortwährend um sie ist. Sie sind wie kleine Kinder … Viele von ihnen wollen nicht im Bett liegen, sie sind daran gewöhnt, auf dem Fußboden zu schlafen. Wir müssen ihnen beim Aus- und Ankleiden behilflich sein und auch beim Essen … Das macht ja alles nichts, wenn nur … wenn nur Mama es aushält! Sie hat ja auch die Speisungen zu besorgen. Und alle die Menschen, die mit ihr sprechen wollen. Mama kann nicht nein sagen. Sie reibt sich auf … Und nun Aglaja … Ich bin so schrecklich bange, daß Aglaja etwas geschieht …«

Ida hatte Nadja noch nie so aufgeregt sprechen hören. Sie unterbrach sie: »Nadja, gib mir die Hand darauf, daß du wenigstens nicht zusammenbrichst! Für deine Mutter garantiere ich! Wir müssen sehen, daß wir Aglaja eine Zeitlang wegschicken, vorher aber will ich mit ihr reden. Kann ich jetzt zu ihr hineingehen?«

Nadja bat: »Warte nur, bis ich den Alten vorgesetzt habe!« Und sie nahm Ida mit hinein.

Ida hatte in dieser Kriegszeit viele Palais sich in Lazarette verwandeln sehen, aber kein Anblick war ihr so sonderbar erschienen wie der dieser alten Bauernfrauen, die ihre Hütten in Laura Anastasias Sälen aufgeschlagen hatten. In den drei Empfangsalons war eine doppelte Reihe von Feldbetten aufgestellt, an deren Ende Stühle und Sofas standen. Dort saßen die Alten, die meisten barfüßig, die schwieligen, wettergebräunten Füße auf tiefen, kostbaren Teppichen, in plumpen, bunten Röcken, unter denen die groben Hemden herausguckten.

Ida dachte, wie das der Fürstin ähnlich sah: Statt den vergoldeten Stühlen noch einen schützenden Bezug überzustreifen, hatte sie die Überzüge entfernen lassen, damit sich die Alten an dem Gold und den Farben erfreuen konnten. Nun halfen Aglaja und Ida, die sie ja schon vom Gut her kannten, den alten gebrechlichen Wesen in den Speisesaal hinein. Auf den langen Tischen blitzten die altmodischen Samowars, aus deren Schornsteinen es dampfte wie aus kleinen Lokomotiven. Die Mädchen fingen an, den Tee einzuschenken, den sie glühend heiß aus großen Spülkannen tranken. Nadja füllte Suppe auf, eine Suppe mit Linsen und eingeweichtem Brot, wie sie es in ihrer Heimat gewöhnt waren. Und bald klang es, wie wenn eine Schar durstiger Hunde an einem Dorfteich Wasser schlabbert. Die meisten Alten hatten Servietten vorgebunden, und trotzdem kleckerten sie noch auf das Tischtuch und in den Schoß und über die Hände. Einige mußten gefüttert werden wie kleine Kinder. Aber auf den runzligen Gesichtern lag ein herzlich milder Ausdruck – es war klar: sie fühlten sich zu Hause, und Nadjas Anwesenheit machte sie sicher. Sie plauderte unaufhörlich mit einer förmlich gellenden Stimme, damit die vielen Schwerhörigen sie auch verstehen konnten. Und jedesmal, wenn sie etwas sagte, das sie belustigte, knurrten und seufzten sie und sahen sich um, ob auch die Nachbarn und die Gegenübersitzenden die amüsante Geschichte verstanden, die die kleine Prinzessin erzählte. Für die Alten waren Nadja und Aglaja beständig »die kleinen Prinzessinnen«.

Nach der Suppe bekamen sie Reis mit Äpfeln gekocht und mit Zucker darüber. Ida mußte lächeln. Dieses Gericht war eine ständige Nachspeise in allen Kinderhorten, und die kleinen Kinder dort und die alten Kinder hier verschlangen es mit dem gleichen geräuschvollen Wohlbehagen.

Noch eine Kanne Tee, und Nadja klatschte in die Hände: »So, jetzt machen wir einen tüchtigen Mittagsschlaf!«

Ida fand es ganz in der Ordnung, daß Nadja und die Mädchen die Alten in die Betten legten und die Decken über sie breiteten. Sie hätte fast gerufen: »Vergiß auch nicht den Lebertran!« So groß war die Ähnlichkeit zwischen ihnen und den Kleinen, die unter ihrer Obhut standen.

Nadja geleitete Ida bis an Aglajas Tür, ging aber nicht mit hinein. Ida klopfte, und als niemand antwortete, trat sie leise ein.

Aglaja lag im Bett, es war kein Blutstropfen mehr in dem weißen Gesicht. Nur die Augen starrten schwarz und bodenlos hinaus in den Kummer, der sie betroffen und ihr die Lebenskraft genommen hatte. Ida setzte sich auf den Rand des Bettes: »Aglaja, ich komme nicht deinetwegen, sondern um deiner Mutter und deiner Schwester willen.« Aglaja sah zu ihr auf und versuchte zu lächeln: »Glaubst du nicht, daß ich mir selbst gesagt habe, ich muß um ihretwillen darüber hinwegkommen? Das Schreckliche ist ja, daß ich weiß, ich kann es nicht. Ich kenne meine eigene Natur. Ich könnte mich für einen Tag, vielleicht für eine Woche, zusammennehmen, aber dann …«

Ida beobachtete sie. Sie sprach die Wahrheit. Das Todeszeichen war auf diese weiße Stirn geschrieben, der Todesschatten lag schon über den müden Augenlidern. Ida schauderte. Hier konnte nur einer helfen, und der konnte nicht herbeigeschafft werden.

»Aglaja, du denkst daran, von uns zu gehen?«

Aglaja nickte: »Ich muß von euch gehen. Es hängt nicht mehr von meinem Willen ab. Das andere ist stärker.«

»Darf ich den Brief sehen?«

Aglaja reichte ihr den Brief mit einer Bewegung, die deutlicher als Worte zeigte, wie tief der Schlag getroffen hatte – keine Heilkraft vermochte die Wunde zu schließen.

Ida las:

 

Reims, 1914.

Meine liebe Aglaja!

Aus den Zeitungen und Telegrammen wirst Du gesehen haben, welch schändlicher, himmelschreiender Vandalismus an unserer schönen Stadt begangen worden ist. Du hast Dich wohl damit getröstet, daß Krieg Krieg ist, und daß so etwas unvermeidlich ist.

Natürlich messen weder Gaston noch ich Dir einen Teil der Schuld bei, aber Du mußt verstehen können, daß nach dem, was jetzt geschehen ist, es mit seinem Stolz als Sohn und mit dem meinen als Mutter unvereinbar sein würde, die Verbindung mit einer Familie fortzusetzen, die im Bündnis mit unseren Todfeinden steht.

Daß ich Dich bei unserem kurzen Zusammensein sehr liebgewonnen hatte, und daß mein Sohn Dich von ganzem Herzen liebte, brauche ich Dir wohl nicht zu versichern. Und ich will nicht unterlassen, hinzuzufügen, daß Du mir jetzt ebenso teuer bist wie zuvor, aber es gibt höhere Rücksichten als die persönlichen Sympathien und Antipathien des einzelnen.

Ich hätte meinen Sohn, wenn es sich um sein Glück gehandelt hätte, der Tochter eines Mannes geben können, der in der Übereilung oder aus Notwehr einen Mord begangen hätte, aber ich kann keine Schwiegertochter anerkennen, deren Volk freiwillig, ja mit Wollust, teil daran nimmt, alles zu morden und zu schänden, was mir und meiner Familie seit Jahrhunderten heilig und teuer ist.

Gaston würde, falls er zu Dir hielte, ein für allemal das Recht verscherzt haben, mein Sohn genannt zu werden. Ich würde ihm meinen letzten Segen verweigern und auf meinem Sterbebette ihn nicht sehen. Aber es ist nicht so weit gekommen, daß ich vor die Wahl gestellt werde. Was er hier gesehen und durchlebt hat, das hat seinen Charakter gestählt und seinen Stolz wachgerufen. Er nimmt lieber ein tiefes Leid auf sich, als daß er sein Land verrät.

Deine Familie ist, soviel ich weiß, noch älter als die unsere, aber deswegen ist die unsere nicht geringer, und wir wollen die Ehre des Namens nicht beflecken.

Mit Kummer erhielt ich im Sommer die Nachricht von Eurer Verbindung; seit 1870 hat sich mein Herz mit Abscheu von allem abgewandt, was die deutsche Sprache redete, aber Deine gewinnende Persönlichkeit und Deine große Güte und Liebe für Gaston besiegten meinen Widerstand.

Von dem Augenblick an, als die schändliche Kriegserklärung Frankreich traf, sah ich ein, daß es früher oder später zu einem Bruch zwischen ihm und Dir kommen mußte.

Daß unser kleines Familienschloß in Ruinen liegt, daß die deutschen Vandalen die Gegend auf die schändlichste Weise ausgeplündert und ausgesogen haben, darüber könnte ich vielleicht hinwegkommen. Aber daß Männer, die sich Menschen nennen wollen, kalten Herzens das Haus beschießen, das der Allmächtige zu seiner Wohnung erkoren hat, davon kann ich nicht absehen, das kann ich nicht vergessen.

Während des letzten Bombardements hielten wir uns in einem Keller auf. Wir saßen dort im Dunkeln, wohl zwanzig Menschen, die letzten Tage ohne andere Nahrung als ein paar Flaschen Wein. Wir wurden durch ein reines Wunder gerettet.

Das erste Wort, das Gaston zu mir sagte, als wir uns wieder draußen im Licht befanden, war: »Mutter, schreibe du in meinem Namen an Aglaja und gib ihr mein Wort zurück!« Mehr wurde nicht darüber geredet. Ich wartete zwei Tage. Gestern fragte er: »Mutter, hast du daran gedacht zu schreiben?« Und ich antwortete: »Heute sende ich den Brief ab!«

Es würde mir eine Beruhigung sein, wenn ich hörte, daß er in Deine Hände gelangt ist, und daß Du die Sache so ansiehst wie wir.

Ich wünsche Dir alles Gute für die Zukunft und bitte Dich, Deiner Mutter meinen besten Gruß zu überbringen.

Lebewohl, Aglaja!

Deine
Marguerite le Lys.

 

Ida gab ihr den Brief zurück und fragte, nicht so sehr, weil sie hoffte, eine Bestätigung ihrer eigenen Gedanken zu erhalten, sondern weil sie eine andere Antwort ersehnte: »Glaubst du nicht, daß Zeit und Arbeit dir darüber hinweghelfen werden?«

Aglaja erwiderte: »Ida, die Menschen sind so verschieden. Wenn Mama oder Nadja einen Kummer hätten, könnten sie sich daraus herausarbeiten. Ich habe nicht gelebt, bis ich Gaston begegnete, oder vielmehr, ich weiß jetzt, daß mein Leben vor jener Zeit wertlos für mich gewesen ist. Ohne ihn kann ich nicht leben. Er hat mich nie so geliebt wie ich ihn, sonst könnte er mich jetzt nicht lassen. Er hat schon früher geliebt. Ich liebe zum ersten- und zum letztenmal … Was hat Mama nicht durch den Krieg gelitten! Würde es einen Unterschied für sie oder für mich machen, wenn Gaston ein Russe wäre? Und ihm ist eine Kirche, ein Haus, das Menschen gebaut haben, mehr als ich! …«

Ida Witt betrachtete Aglajas Hände, das einzige an ihr, das ums Leben zu kämpfen schien. Sie krallten sich in das Bettuch, als suchten sie einen Stützpunkt, als hofften sie mitten in der Haltlosigkeit auf eine Rettung.

»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«

Aglaja nickte: »Mama weiß, daß ich die Wahrheit rede. Aber Mama ist gewöhnt, alles von sich zu fordern, deshalb stellt sie große Forderungen an andere.«

»Du willst doch nichts Übereiltes tun?«

Aglaja wandte Ida den Blick zu: »Sei nicht bange! Ich unternehme nichts, ehe mir Mama nicht die Erlaubnis gibt. Es muß kommen, wenn sie sieht, daß ich nicht die Kraft habe zu leben.«

»Du liebst deine Mutter und deine Schwester? Und du willst ihnen trotzdem einen solchen Kummer bereiten?«

Aglaja setzte sich aufrecht im Bett hin, aber Ida mußte den schlanken Körper heben, der sein eigenes Gewicht nicht mehr zu tragen vermochte. »Ida, ich habe ein Gefühl, als wären hundert Jahre vergangen, seit ich den Brief bekommen habe, und jedes Jahr war so lang, so entsetzlich lang … Wie lange soll ich noch warten?«

Ida sagte tonlos: »Ich will mit deiner Mutter reden …«

Sie ging wieder, vorüber an den alten Frauen, die so friedlich bei herabgelassenen Vorhängen in ihren Betten lagen und schliefen, zu der Fürstin hinein. Diese saß an ihrem Arbeitstisch. Die letzten Tage hatten sie sichtlich mitgenommen.

Ida trat dicht an sie heran: »Ich komme von Aglaja!« Die Fürstin zuckte zusammen: »Sagen Sie mir, was ich tun soll! Ich bin bereit, den Versuch zu machen, nach Frankreich zu reisen. Ich will mich vor ihrer Schwiegermutter demütigen, aber …«

Ida schüttelte den Kopf: »Das würde nichts nützen …«

»Aber was dann?« Ida zögerte einen Augenblick: »Ich sehe einen Ausweg – einen Versuch … wenn Sie es wagen würden, ein hohes Spiel zu spielen!«

Ida dachte an etwas, das sich in Jena zugetragen hatte, als sie ganz jung war, und das einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht hatte, als sie es zufällig erfuhr. Zwei junge Leute hatten sich aus Liebe geheiratet, aber nach einem Jahr, als die junge Frau nach der Geburt des ersten Kindes im Wochenbett lag, kam der Mann eines Abends nach Hause, setzte sich auf den Rand des Bettes und sprach mit seiner Frau über ihr Glück. Plötzlich zog er einen Revolver heraus und schoß sich durchs Herz. Kein Mensch erfuhr jemals, ob er nach ruhiger Überlegung oder in einem Anfall von Geisteskrankheit gehandelt hatte. Die junge Frau wollte sterben. Sie war das einzige Kind ihrer Mutter, aber die Mutter konnte es nicht ertragen, die Leiden ihrer Tochter anzusehen. Da bat sie ihr Kind: »Versprich mir, noch ein halbes Jahr zu leben. Wenn du dann noch so denkst wie jetzt, will ich dich nicht daran hindern zu sterben!« Die Tochter versprach es, und als das halbe Jahr vergangen war, hatte die Liebe zu dem Kinde den Schmerz über den Verstorbenen besiegt. Sie war gerettet.

Während Ida dies ruhig und schlicht erzählte, faltete die Fürstin ihre Hände, als bete sie. Dann erhob sie sich, langsam und beschwerlich, und ging auf die Tür zu. Ida trat ihr in den Weg: »Haben Sie die Kraft und den Mut?«

Da richtete die Fürstin sich stolz auf: »Wenn ich Söhne hätte wie meine Schwester, müßte ich sie, ohne zu klagen, alle hergeben. Aglaja ist nur eins von den Opfern des Krieges … eines unter den vielen.«

Sie stand hoch und aufrecht da; als sie aber die Hand auf die Türklinke legen wollte, sah Ida sie unsicher tasten, und im nächsten Augenblick sank die Fürstin schwer zu Boden. Die Ohnmacht währte nur wenige Sekunden, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt, und mit einem Lächeln das Ida niemals vergaß, sagte sie: »Sorgen Sie dafür, daß uns niemand stört! Wenn ich Ihrer bedarf, werden Sie doch gleich kommen?« Die Fürstin ging zu Aglaja hinein.

Als Ida gehen wollte, kam Nadja zu ihr: »Du hast gesehen, daß ich Konstantin liebe, das weiß ich. Wenn ihm ein Unglück zustoßen sollte, darf Mama niemals erfahren, daß er mir mehr war als ein Vetter …«

Kurz nach Mitternacht klingelte die Fürstin Ida an: »Kommen Sie, wenn es Ihnen möglich ist!«

Ida hatte diese Aufforderung erwartet und hatte einen Wagen vor dem Hause halten. Thaddäus öffnete ihr: »Durchlaucht lassen Fräulein Witt bitten, ins Eßzimmer zu gehen, um die Alten nicht zu stören. Durchlaucht werden sofort kommen.«

Und die Fürstin kam sofort. Es lag ein seltsamer, überirdischer Glanz in ihren Augen. Die Stirn war mit Schweißtropfen bedeckt: »Es ist vorbei … Sie schläft …«

Ida wollte gerade ausrufen: »Gott sei Dank, dann ist sie gerettet!« als sie das sonderbare Starren im Blick der Fürstin gewahrte. Sie sprach nicht, sie wartete ab. Die Fürstin reichte ihr einen Brief, ein zusammengefaltetes und mit Bleistift beschriebenes Stück Papier. Auf der umgebogenen Außenseite stand geschrieben: »An Mama.« Mit zitternden Händen faltete Ida den Brief auseinander und las:

 

Meine geliebte Mama!

Es war so richtig von Dir gedacht. Wenn ich die beiden Monate leben konnte, um die Du batest, konnte ich es überwinden und weiter leben. Und ich gab Dir das Versprechen, das ich jetzt breche … Du wirst nicht böse sein, das weiß ich … Ich weiß ja, Du hast mich so lieb, daß Du mir den langen Schlaf gönnst, nach dem ich mich sehne. Der Versuch mit den beiden Monaten würde entsetzlich für uns alle werden und nutzlos. Ich habe so viele Pulver genommen, daß ich nicht mehr erwache. Aber wenn Du diesen Brief findest, ehe es zu spät ist, und Du mir nicht erlauben willst, von Dir und Nadja zu gehen, so kannst Du ja einen Arzt rufen … Aber, Mama, geliebte Mama, ich bitte Dich, es nicht zu tun. Ich habe Euch so unsagbar lieb, und es macht mir die letzten Augenblicke so schwer, daß ich Euch einen solchen Kummer bereiten muß. Glaube mir, wenn ich die Kraft hätte, ich bliebe bei Euch.

Mama, meine Gedanken sind so müde. Laß mich schlafen … Solltest Du Gaston jemals sehen, so sage ihm … nein, sage ihm nichts. Er kann ja nichts dafür, daß ich so schwach bin.

Wenn ich nun den Kopf aufs Kissen lege, will ich mir einbilden, daß Du noch neben meinem Bett sitzest und mir über die Stirn streichst und sagst: »Ich will ja nicht, daß mein kleines Mädchen leiden soll.«

Lebewohl, geliebte Mama. Es war so schön im Sommer auf dem Gut. Nun ist das Gut nicht mehr, und nun ist Gaston fort, und bald bin ich auch fort.

Ich bewundere Dich, Mama, und ich liebe Dich. Mein letzter Kuß gilt Dir.

Aglaja.

 

Die Fürstin nahm den Brief aus Idas Händen, legte ihn in seine ursprünglichen Falten zusammen und barg ihn unter ihrem Kleide. »Ich fand den Brief zwei Stunden, nachdem Sie gegangen waren; sie muß ihn geschrieben haben, als ich gerade zu einer Versammlung fortgerufen wurde …«

Ida fragte – sie wollte die Frage nicht stellen, wenigstens jetzt nicht, aber sie mußte es tun –: »Und Sie haben nicht nach einem Arzt geschickt?« Die Fürstin sah Ida mit demselben leuchtenden, seltsam verklärten Lächeln an: »Wie konnte ich? Wie konnte ich den Schlaf stören, der ihr so wohltat? Ich habe bis jetzt bei ihr gesessen. Ich habe ihr die Stirn gestreichelt, wie sie es wünschte … Vielleicht war es ihr bewußt, daß ich da war …«

Ida verstand die furchtbare Größe, die hinter diesen stillen Worten lag, und fast ohne es zu wissen, glitt sie auf die Knie nieder und barg ihr Antlitz in dem Schoß der Fürstin.

»Kommen Sie!« Sie gehorchte und folgte der Fürstin durch Nadjas Zimmer, wo die kleine Lampe vor dem Heiligenbild brannte. Nadja schlief.

Aglaja lag mit aufwärts gewandtem Gesicht, anscheinend schlummernd. Eine Andeutung eines Lächelns umspielte die blutlosen Lippen. Die Hände lagen flach ausgestreckt auf der Bettdecke, sie erzählten von dem Kampf, der zu Ende gekämpft war, mehr als Aglajas ruhiges Antlitz.

Die Fürstin flüsterte: »Mein kleines Mädchen! Mein liebes kleines Mädchen!« Dann gingen sie hinaus. Ida fragte: »Soll ich zum Arzt gehen?« Die Fürstin antwortete: »Sagen Sie ihm, es sei das Herz gewesen! … Um Nadjas willen!« Und in einem liebkosenden Ton, der Ida durch Mark und Bein ging, fügte sie hinzu: »Es war ja auch das Herz … Es war ja das Herz …«

Ida dachte plötzlich praktisch: »Setzen Sie auch Gaston le Lys' Namen unter die Todesanzeige … Der Leute wegen!« Und die Mutter beugte das Haupt.

»Kann ich sonst nichts tun?« Die Fürstin schien abwesend zu sein: »Eine jede Mutter hat die Verantwortung für die Kinder, die sie in die Welt setzt, aber ich kann am Tage des Gerichts ruhig dastehen. Diese letzte Liebestat bezahle ich mit meinem Herzblut und bei lebendigem Leibe …« Ihr Antlitz ward wieder verklärt von einem wunderbaren, schmerzvollen und erhabenen Lächeln. »Ist es nicht gut zu wissen, daß meine kleine Aglaja jetzt Frieden hat?« – –

Zwei Tage nach Aglajas Tode klingelte es am späten Abend an Idas Haustür. Es war Nadja mit einem dichten Schleier vor dem Gesicht. Ihre Stimme klang hohl und angsterfüllt, als sie bat: »Kann ich allein mit dir sprechen? Wenn du Besuch hast, komme ich lieber später wieder.«

Ida fragte nicht erst, was sie so spät bei ihr wolle, sondern führte sie in ihr Schlafzimmer, den einzigen Raum des Hauses, der nicht von den Freunden in Anspruch genommen war. Und Ida ging hinein und gab ihnen ein Zeichen, daß sie sich sofort und geräuschlos entfernen möchten. Wenige Minuten später war das Haus leer. Ida begab sich mit Nadja ins Wohnzimmer und ließ die vor Kälte Zitternde am Kamin Platz nehmen. Als sie den Schleier lüftete, sah Ida sofort, daß etwas sich begeben hatte, seit sie heute morgen bei der Fürstin gewesen war.

»Mama weiß nicht, daß ich hier bin. Sie glaubt, daß ich schlafe. Du bist der einzige Mensch, der mir helfen kann. Kannst du es nicht, so kann es niemand. Und ich bedarf der Hilfe, jetzt, sofort, ehe es zu spät ist …« Sie zog einen Brief aus der Tasche, und Ida sah, wie ihre Hand zitterte: »Vor diesem Kummer muß Mama bewahrt werden. Wenn es in Menschenmacht steht, darf sie nie erfahren, daß dieser Brief gekommen ist …«

Ganz instinktiv, mit Blitzesgeschwindigkeit hatte Ida erraten, daß der Brief von Gaston le Lys war. Es währte Sekunden, ehe sie sich genügend sammeln konnte, um den Brief zu lesen. »Er kam, während Mama dabei war, Aglaja einzukleiden … Gott sei Dank, daß Thaddäus ihn mir gab … Das hätte Mama nicht überlebt …« Und Ida begriff, daß Nadja wußte, was voraufgegangen war, obgleich niemand es ihr hatte erzählen können.

Gaston le Lys' Brief war gleich nach Absendung des Briefes seiner Mutter geschrieben, wie in angstvollem Vorahnen, daß dieser eine verhängnisvolle Wirkung auf die Geliebte haben könne. Aber der Brief hatte sich auf seinem Wege über die Schweiz einige Tage verspätet – und diese zufällige Verspätung hatte Aglaja das Leben gekostet.

Er bat Aglaja, er flehte sie an, den Brief der Mutter als ungeschrieben zu betrachten und ihm zu verzeihen. Er habe in einem Anfall von Geistesverwirrung gehandelt, hervorgerufen durch die Panik des Bombardements und den mehrtägigen Aufenthalt in dem dunkeln Keller. Er beschwor Aglaja, nicht an seiner Liebe zu zweifeln, denn die sei stärker als Familiengefühl, Vaterlandspflicht, Ehre – stärker als alles.

Ida nickte: »Selbstverständlich darf deine Mutter diesen Brief niemals sehen! Willst du ihm schreiben, oder soll ich es tun?« Nadja bat leise: »Willst du es tun? – ich fürchte, mein Brief würde es noch schwerer für ihn machen …«

Ida schrieb. Sie dachte nicht darüber nach, was sie sagen wollte. Der Brief schrieb sich selbst. Und sie wußte, wenn Aglajas Verlobter ihn in die Hände bekommen hatte, würde er so handeln, wie sie es von ihm erbat. Sie verlangte, daß er einen anderen Brief an die Fürstin schreiben und darin seiner Reue Ausdruck verleihen sollte, so daß sie glauben mußte, die Reue sei erst bei der Nachricht von Aglajas Tode in ihm erwacht.

Ida war kurz und knapp wie immer, wo viel auf dem Spiel stand. Als sich aber die Tür hinter Nadja geschlossen hatte, brach sie zusammen.


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