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Der hohe Besuch

Marylka hatte die Gewohnheit, in der Tür zu stehen, mit der Hand die tintenblauen Augen beschattend, bald der Sonne zugewandt, bald dem Winde und bald dem neckisch stiebenden Sande – als erwarte sie jemanden, der niemals kam. Ihr Blick war lauschend, als hätte sie den Anfang eines schönen alten Liedes gehört und hoffte jetzt, daß der Wind ihr den Rest zutragen werde.

Soweit der Blick reichte, lief nach Westen die gerade Landstraße. Weiß wie Fries gegen das rote Heidekraut. Hoch wölbte sich der Himmel, von Meer zu Meer ein einziges gewaltiges Blau, eine Riesenblüte, die sich jeden Morgen entfaltete und jeden Abend schloß. Die Wolken kamen und gingen. Bald jagten sie in Horden wie wilde Heere dahin – und der Sonnenuntergang nahm die Farbe des Blutes der Gefallenen an. Bald wie Herden schneeweißer Schafe, die eben geschoren worden sind und nun frierend umherzappeln, um nach ihrem warmen Pelz zu suchen. Bald bauten sie stolze Berge mit Wällen, Türmen und Zinnen. Bald stürzten sie zusammen und wurden zu Bergen mit ewigem Schnee auf dem Gipfel. Bald formten sie Riesengestalten, die, eingehüllt in lange, flatternde Mäntel, auf schnaubenden Pferden übers Meer stampfend zum Horizont hinausritten. Bald wurden sie umgeschaffen zu einem einzigen Antlitz, wie man es drinnen im Herzen ausdenken, aber nicht schildern kann, einem Antlitz, das mit Augen und Mund lachte und wie eine Blase barst und verschwand.

Marylka sah die Pfähle den friesweißen Weg entlang, jeden mit seinem Glockenspiel an der Spitze, alle verbunden durch den dünnen, glitzernden Draht, auf dem die Vögel sich wiegten. Wandte sie sich der Hütte zu, so sah sie das Schild des Telegraphenamts und die schwarze Tafel, worauf sie täglich mit Kreide die Wettermeldung niederschrieb.

Marylka hängt den Kaffeekessel übers Feuer. Um diese Zeit kommt die Post vorbei. Zweimal in der Woche in einem Wagen ohne Federn, sonst zu Fuß. Das Haar des Postboten ist schwarz und zottig wie eine Kapuze. Seine langen Schaftstiefel sind mit Nägeln beschlagen. An den Wintertagen, wenn es früh dunkel wird, erkennt Marylka ihn von weitem an dem Laut und an den Funken, die er hervorsprühen läßt. Immer macht er vor der Hütte halt; er weiß, daß Kaffee winkt, und sie weiß, daß Neuigkeiten winken. Dann kommt es auch vor, daß er ein Stück frisches Fleisch in einem blutigen Leintuch bringt, einen frischgebacknen Sandkuchen, ein paar Knäuel Wolle von Mutters fleißigen Händen oder die Nachricht, daß, so Gott will und das Wetter sonst danach ist, die Eltern sie am nächsten Sonntag besuchen werden.

Marylka hat genug zu tun. Die Tannen sind im Begriff, aus ihren Sonnenlöchern zu wachsen, wo sie drei Jahre lang gestanden und Kuckuck gerufen haben, und die Weiden reichen ihr bis an die Schultern und schwenken ihre dünnen Zweige, wenn sie sich nähert, als ob sie sie kennten. Sie hat kürzlich die ersten kleinen Obststräucher gepflanzt und denkt daran, Rosen zu pflanzen.

Gegen Abend tickt der Apparat: der alte Telegraphist will ein wenig plaudern. Oder einer von den Fischern klopft an die Tür und meldet, daß da und da ein Boot schwimmt. Marylka meldet weiter. Oder der Konsul berichtet von dem Fischfang in der vorigen Woche. Viel Neues geschieht nicht im Sommer. Aber Frühjahr und Herbst, wenn die Äquinoktialstürme dreimal an drei Tagen hintereinander über der Insel heulen, dann ist Marylka auf ihrem Posten. Dann schläft sie nur mit einem Auge und träumt mit zwei wachen Ohren. Es kommt auch vor, daß sie auf eigne Faust nach der Bake rennt. Mit dem großen Fernglas vor den Augen sucht sie ringsum den Horizont ab. Sieht sie etwas, so stürmt sie die Leitern hinunter, um den Konsul wachzuklopfen. Für die draußen auf dem Meere, die auf gefährlichen Gründen treiben, können die Minuten Leben oder Tod bedeuten.

Im dritten Sommer geschah etwas, das für eine Zeitlang die ganze Insel in Fieberspannung versetzte. Eines schönen Tages erfuhr der Konsul, daß die Insel im Lauf des Sommers Besuch von einem Prinzen von Geblüt bekommen werde, dem richtigen Bruder eines richtigen Fürsten.

Mit einem Inspektionsschiff gedachte Seine Hoheit die sämtlichen Fahrwasser des Reiches zu befahren und eine Menge entferntliegende Ortschaften zu besuchen, die sich nie von einer solchen Ehre hatten träumen lassen.

Die Bevölkerung vermochte nicht viel Gala für den Besuch zu machen; die Kirche erhielt einen Ockeranstrich im Innern und wurde außen gekalkt, der Amtsrichter bekam neue Vorhänge und die Frau Pfarrer ein neues Seidenkleid. »Es muß illuminiert werden!« sagte der Postmeister und ließ an alle Inselbewohner die Aufforderung ergehen, drei Lichte in jedes Fenster zu setzen und bei der Ankunft des hohen Gastes anzuzünden. Niemand kannte ja den Tag, aber es war am besten, beizeiten vorbereitet zu sein; drum stellten die Leute drei Kerzen in jedes Fenster, und dort standen die Lichte, wurden gelb und schmolzen in der Sommersonne. Der Schulmeister gab den Kindern den Rat mit nach Hause: man müsse es ausprobieren, ob die Kerzen hell genug brennten! Und man versuchte ein bißchen den einen und ein bißchen den andern Tag. In einigen Häusern waren die Stümpfe allmählich so klein geworden wie das äußerste Glied des Daumens. Wenn der Prinz jetzt nur bald kam!

Im Hause des Konsuls war alles auf den Kopf gestellt. Die Stuben prangten in vollem Staat, mit Tüchern auf den stets frischgescheuerten Fußböden. Die Speisekammer war mit feinen Eßwaren überfüllt, die man zu hohen Preisen aus der Hauptstadt verschrieben hatte. Der Konsul unterwies die Familie in Hofsitten. Seine Frau hatte das Pech, auf der Insel geboren zu sein, und konnte sich nicht verneigen. Es war schwer für ihn, ihr mit einem steifen Bein die rechte Grazie beizubringen. Das Dienstmädchen schlief mit Handschuhen an den Händen – weinend hatte sie sich geweigert, in Handschuhen zu servieren. Von zwei Übeln wählte sie so das kleinere. Es waren wollene Fausthandschuhe.

Die Kinder des Konsuls, die bei ihrer Mutter in die Schule gingen, wurden stündlich auf die Bake geschickt, obwohl der Konsul sagte: »Natürlich kommt der Prinz nicht wie ein Dieb in der Nacht!«

Marylka war von dem Fieber angesteckt worden. Eifrig las sie in ihrem Lexikon – alles, was da unter Prinz, König und Kaiser zu lesen war. Sie erwartete nicht, Seine Hoheit zu sehen zu bekommen, aber der Konsul hatte versprochen, ihr hernach alles zu erzählen.

Eines Tages brachte die Post dem Konsul einen Brief des Inhalts, daß Seine Hoheit der Prinz Magnus im Laufe der kommenden Woche auf der Insel an Land zu gehen gedenke, um die Verhältnisse und die Erforderlichkeit eines Hafens gerade an diesem Ende der Insel zu untersuchen.

Und zwei Tage später, gegen Mitternacht, sah der Konsul ein Schiff vor Anker. Es war das Inspektionsschiff, es war der Prinz. Zitternd stieg er von der Bake hinunter. Tastend öffnete er die Türen des Hauses und weckte seine Frau und die Dienstmagd: »Heute darf niemand schlafen! Jede Minute kann der Prinz hier sein!«

Der Tisch war während der beiden letzten Tage gedeckt gewesen, und der Fliegen wegen war Gaze darüber gelegt. Nun wurde die ganze lange Nacht gekocht und gebraten. Der Konsul half selber beim Öffnen der Büchsen. Er hatte Kaviar kommen lassen und Straßburger Gänseleberpastete und – das Allerfeinste – eßbare Schwalbennester. Das eine der schläfrigen Kinder wurde mit der Laterne in die Heide geschickt, um Glockenblumen und Margareten zu pflücken, das andere hinters Haus, um Champignons zu suchen. Der Konsul ging umher, memorierte seine Rede und erprobte die Illumination. Der Name des Prinzen strahlte in rotem Transparent, das einladend glühte wie das Schild vor einem Tanzlokal.

Es klopfte an Marylkas Tür. Der Konsul meldete das Schiff. Mit zitternden Händen kämmte Marylka ihr Seidenhaar, entzündete die Kerzen in ihren Fenstern und stellte sich vor der Hütte auf; dort blieb sie stehen, als die Sonne emporstieg und der Himmel sich auftat wie ein Rosenborn, um Seine Hoheit zu grüßen.

Langsam erwachte die Insel. Die Fahne wehte von der Bake. Da wußte man, der Prinz war gekommen – und in Tag und Sonne zündete man Licht an in allen Fenstern!

Bei Konsuls waren alle todmüde nach der durchwachten Nacht. Die Kinder schliefen auf Stühlen. Die Frau des Hauses trippelte mit hoch aufgeheftetem Schleppkleid umher, und das Mädchen weinte. Nur der Konsul bewahrte sein Lächeln um den Mund. Er hatte drei Orden auf der Brust.

Das Schiff lag auf demselben Fleck, als er gegen acht Uhr auf die Bake stieg; doch als er eine halbe Stunde später wieder hinaufwollte, sah er zwei fremde Herren in weißem Anzug und mit Offiziersmützen über die Heide kommen.

Solange sie lebte, vergaß die Frau des Konsuls nicht, daß sie den Prinzen im Schleppkleid und in Filzpantoffeln empfangen hatte. Sie entdeckte es erst, als sie sich verneigte. Der Prinz brachte tausend Entschuldigungen vor, weil er so früh komme, aber bis zum Abend habe er drei Feuerschiffe zu besuchen und wieder das Festland zu erreichen, wo ein alter Freund ihn zum Mittagessen erwarte. Er äußerte sich über die Schönheit und friedliche Stille der Insel: »Hier wäre ja der ideale Platz für ein Badehotel!« Die Frau des Konsuls errötete bis zu den Zehen. Gewiß hatte der Prinz die Pantoffeln gesehen! Sie verstand so gut, daß er sich nichts anmerken lassen wollte, und das machte die Sache nur noch schlimmer. Endlich sprang sie auf mit den Worten: »Verzeihung – meine hausfraulichen Pflichten! …« und weg war sie, Filzpantoffeln vorn und Schleppkleid hinten, während das »Aber bitte sehr, bitte sehr!« hinter ihr herklang und der Geruch von Gebratenem und Gebackenem durch die offene Tür hereinströmte. Der Prinz redete und redete, und wenn er schwieg, hörte man das Summen der Fliegen und das Ticken der Uhr. »Man sieht die Bake von weitem!« sagte der Prinz, und der Konsul machte den Eindruck, als erführe er diese unvergleichliche Wahrheit zum erstenmal.

Der Prinz sah auf seine Uhr: »Ja, dann müssen wir wohl aufbrechen, um uns den werdenden Hafen anzusehen!« Der Konsul mußte es sagen, jetzt oder nie: »Königliche Hoheit werden dem Hause doch die große Ehre erweisen, eine kleine, leichte Erfrischung einzunehmen …« Und der Prinz erwiderte lächelnd: »Tausend Dank, vielleicht wäre ein Gläschen leichter Wein gar nicht so übel!«

»Ja, ich meine, ich meinte … ein kleines Frühstück … eine … bescheidene Mahlzeit … ein Bissen Brot … was das Haus so in der Eile vermag …«

Der Prinz hatte eine Idee: »Glauben Sie mir, lieber Konsul, ich möchte herzlich gern, aber der Arzt hat mich für ganze fünf Wochen auf Fastenkost gesetzt. Milch und Zwieback ist meine hauptsächliche Nahrung … Trotzdem widerstehe ich der Versuchung nicht, ein Glas mit meinem lieben Wirt und seiner liebenswürdigen Gattin zu trinken!«

Und dabei blieb es. Eine Stunde später stach das Schiff in See. Die Frau des Konsuls war dem Weinen nahe, aber der Konsul lachte: »Herrgott, die guten Speisen können wir doch selber essen! Und wenn der Prinz Diät halten muß … Der arme Mann, er hat sicher Magenkrebs, du wirst sehen!«

Aber bevor man sich zu Tisch setzte, ging der Konsul ins Wohnzimmer, drehte und wendete den Stuhl, auf dem Seine Hoheit gesessen hatte, und schrieb die Begebenheit mit Wäschetinte unter den Sitz. Ferner ritzte er mit seiner Diamantnadel den Namen des Prinzen und das Datum in das Glas, aus dem der Prinz getrunken hatte, und wickelte es in Seidenpapier ein. Es sollte nicht mit andern profanen Dingen in die Spülschüssel wandern.

Das Mädchen wurde hinübergeschickt, um Marylka zu holen; diese stand gerade und träumte, der Prinz sei zu ihrer Hütte gekommen, aber die Tür sei zu niedrig gewesen, und er habe sich am Kopf gestoßen. Sie erhielt nun einen Bericht über alles, wurde eingeladen, auf dem Stuhl des Prinzen Platz zu nehmen, und durfte das Glas des Prinzen in der Hand halten. »Ich glaube wirklich, er hat sich bei uns ganz heimisch gefühlt, nicht wahr, Line?« Die Frau des Konsuls nickte mit aller Macht: »Gewiß, das glaube ich! Er wäre gern den ganzen Tag geblieben. Wie geradezu er ist! Man spricht mit ihm ganz wie mit jedem anderen …«

Für den Rest des Sommers und während des Winters unterhielt der Konsul alle, die es zu hören wünschten, von dem Besuch des Prinzen, und nach und nach wollte das, was er gesagt und getan hatte, gar kein Ende mehr nehmen. Schließlich war er bei Tagesgrauen gekommen und auf der Insel bis zu so später Abendstunde geblieben, daß der Konsul ihm eine Laterne hatte leihen müssen, damit er den Weg über die Heide zum Schiff finden konnte. Und die Frau des Konsuls nähte einen geblümten Bezug für den Stuhl, damit er von all dem Herumfingern nicht abgenützt würde.


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