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Nahe dem Glück

Andreas Widrin hatte die Spielschulden seines Bruders mit fünf Jahren seines Lebens bezahlt – Jahren, die er lieber als Zwangsarbeitsgefangener in Steinbrüchen oder Minen zugebracht hätte.

Seit er vor fünf Jahren die grausamste Niederlage seines Lebens erlitt, hatte er jegliche Verbindung mit der Umwelt abgebrochen. Zu Anfang schrieben die Freunde ihm; da sie aber niemals Antwort erhielten, glitt er wie ein toter Mann aus ihrem Leben. Jetzt war er ganz einsam.

Die Anlage der Bahn unten in Ecuador erforderte seine ganze Kraft und Umsicht. Mit harter Hand führte er die Arbeit durch, aber er übte seinen Anteil an dem Werk wie eine Maschine ohne Seele aus. Nur wenn der Gedanke an sie, der er begegnet war, und die er verloren hatte, in ihm aufstieg, konnte ihn eine solche Verzweiflung ergreifen, daß er den Hahn des Revolvers spannte – jedesmal aber hielt ihn eine unsichtbare Hand zurück. Die der Mutter oder die ihre?

Das Leben, das seine Ingenieure und Arbeiter führten, gestaltete sich, wie er erwartet hatte, und seine Menschenverachtung steigerte sich in dem Maße, daß ihm ihr Anblick verhaßt wurde. Sie erschienen ihm wie Tiere, ohne die guten Eigenschaften der Tiere. Außerhalb der Arbeitszeit hielt er sich fern von ihnen. Entweder trieb er sich dann planlos umher, oder er lag, von trüben Gedanken gequält, in seinem Zelt.

Gleich Schakalen, die sich um Leichen scharen, folgte die niedrigste Hefe von Frauen der Expedition. Diese Elenden waren bis zum Stumpfsinn erniedrigt und ausgezehrt von Laster und Fieber. Die Großstädte hatten sie ausgespien, sie streiften umher wie herrenlose Hunde. Die Verachtung der Männer konnte sie nicht erröten machen, aber Widrins ernsthafter Blick, der durch sie hindurch sah, als seien sie Schatten, machte sie seltsam unruhig. Sie krochen vor ihm in ihrer demütigen Furcht, sie wedelten um einen freundlichen Blick.

Es geschah ein paarmal – und Widrin begriff, daß es sich um eine Verschwörung oder um eine Wette handelte –, daß eine von diesen Parias um die Abendzeit, wenn er heimkehrte, in seinem Zelt wartete. Da sah er sie an, bis sie die Hände vor ihr Gesicht schlug und hinausschlich. Aber Widrins Herz weinte, er hatte hinter der Erniedrigung und Schamlosigkeit die Seele des armen, nackten, leidenden Menschen geahnt.

Mehrere dieser Frauen waren dem Aussatz zum Opfer gefallen, der in jenen Gegenden sehr verbreitet war. Wurde das entdeckt, so jagte man sie fort, ohne sich um ihr weiteres Schicksal zu bekümmern. Eine von ihnen sah er wieder und wieder. Eine ihrer Hände war von der Krankheit verzehrt, und die andere war in der Auflösung begriffen, aber das Gesicht war noch verschont. Sie war ganz jung, kaum zwanzig Jahre alt. Er sah, wie sie von den Männern mit Steinwürfen weggejagt wurde; um die Abendzeit schlich sie sich trotzdem zwischen den Zelten herum und sammelte Abfall, um ihren Hunger damit zu stillen. Es wurde Widrin zur Gewohnheit, ihr mit den Augen zu folgen, und ihr Instinkt ließ sie den warmen Schimmer von Mitleid in seinem Blick spüren.

Eines Abends lag sie vor seinem Zeit, dem Tode nahe. Das Fieber hatte sich ihrer erbarmt. Widrin holte einen alten Teppich, breitete ihn über sie und goß ihr ein wenig Wein zwischen die vor Frost klappernden Zähne. Um Mitternacht ging er wieder zu ihr hinaus. Sie lag in Krämpfen. Da überwand er seinen Widerwillen, trug sie hinein und legte sie auf sein Lager. Nach einer Weile war der Krampf vorüber, und sie lag da und plauderte von ihrer Kindheit in Andalusien. Sie glaubte sich in einem Stiergefecht und weinte über die Pferde, die herumjagten, während die Eingeweide aus dem aufgerissenen Bauch hinterdreinschleppten. Ihre Mutter schalt und kniff sie in den Arm. Dann pflückte sie Trauben. Sie waren warm von der Sonne. Jetzt flocht sie sich rote Blumen ins Haar. Jetzt spielte sie mit einer Eidechse … Widrin saß da und wartete darauf, daß sie sterben werde. Die Augen waren fast gebrochen. Plötzlich machte sie eine umfangende Bewegung mit dem halbverfaulten Armstummel: »Du liebst mich! Du hast mich immer geliebt! Aber du hast es niemals gesagt. Sage es jetzt!«

Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Die Nacht war heiß und die Luft im Zelt unleidlich ekelerregend. »Warum sagst du es nicht? Sage es jetzt: Ich liebe dich!«

Widrin wiederholte die Worte, wie er den Schwur am Totenbette der Mutter wiederholt hatte: »Ich liebe dich!« Sie lächelte selig, dann packte der Krampf sie wieder. Eine Viertelstunde später war alles vorbei.

Einen Augenblick dachte er daran, die Leiche in das Bettuch zu hüllen und in die Nähe des Arbeitsplatzes zu tragen, aber nur einen Augenblick. Vor dem Zelt stand eine roh zusammengezimmerte Bank. Darauf legte er sich und fiel gleich in Schlaf.

Daß man über seine unerwartete Güte gegen die Aussätzige lästerte, war ihm gleichgültig, aber ein paar Tage darauf befiel ihn eine fürchterliche Angst: wenn sie ihn nun angesteckt hatte! Er erinnerte sich jetzt ganz bestimmt, daß sie ihn, als er sie hineintrug, mit dem eiternden Armstummel ins Gesicht geschlagen hatte; und er hatte gerade ein paar ungeheilte kleine Wunden durch Insektenstiche. Er wußte selber, daß er ein Werk der Barmherzigkeit ausgeführt hatte, aber das Gefühl, daß dies so entsetzliche Folgen nach sich ziehen könne, war der Tropfen, der den Becher zum Überfließen brachte. Es half nicht, daß die Ansteckungsfurcht sich als unbegründet erwies. Er stellte sich selbst eine Frist. Wenn er im ersten halben Jahr, das er wieder als »freier« Mann in der menschlichen Gesellschaft weilte, seinen Lebensüberdruß nicht überwand, so wollte er seinem Dasein ein Ende machen. Als er diesen Entschluß gefaßt hatte und sich klar darüber geworden war, daß er nicht umzustoßen sei, kehrte wieder Ruhe in seine Seele ein.

Nach beendeter Arbeit nahm er Abschied von Ecuador wie ein Mann, der, nachdem er ein Menschenalter im Zuchthaus verbracht hat, plötzlich begnadigt wird und nun außerhalb der Gefängnismauern steht, ohne zu ahnen, wohin er seine Schritte lenken soll.

Er schwankte, ob er die Gräber seiner Vorfahren besuchen oder nach Deutschland gehen sollte, um alle Möglichkeiten zu versuchen, »ihr« auf die Spur zu kommen. Aber die Angst vor einer neuen Niederlage war in ihm zu groß. So entschloß er sich denn, über Honolulu, Japan und China und mit der sibirischen Bahn durch Rußland nach Petersburg zu reisen. Diese seine Geburtsstadt hatte er schon vor fünf Jahren sehen wollen, als ihm das Eisenbahnunglück mit dem nachfolgenden monatelangen Spitalaufenthalt hindernd in den Weg kam.

Er kehrte im Hôtel de l'Europe ein und schlenderte von dort aus in der sommerheißen Stadt umher. Er merkte, daß die Gemüter in Erregung waren, daß etwas im Werke sei. Und als er die Zeitungen aufmerksam las, wurde ihm klar, was es war. Aber er war zu lange fern von der Menschheit gewesen, um sich etwas aus Politik und Kriegsgerüchten zu machen. Nur durchzuckte die Hoffnung, daß ein russischer Krieg jene Erhebung des Volkes beschleunigen könne, die sein Vater stets als unausbleiblich vorausgesagt hatte, flüchtig sein Gehirn.

Während er sich so in den Straßen herumtrieb, erblickte er einen Anschlagzettel mit einem Namen, der ihn stutzen machte. »Die weltberühmte Diva Gunhild von Payn« gab ein Gastspiel mit russischem Personal. Er lächelte bitter bei der Erinnerung an die Wette, deren Ausfall er niemals erfahren hatte. Sie spielte also wieder. Ja natürlich.

An der nächsten Straßenecke sah er einen neuen Anschlag, der das Gastspiel absagte.

Ein Gedanke, dessen tiefere Ursache er sich nicht klar machte, trieb ihn zum Hotel zurück, um Frau von Payns Adresse zu erforschen. Sie wohnte in demselben Gasthof wie er. Ohne zu wissen, was er von ihr wollte, sandte er ihr seine Karte hinauf. Frau von Payn nahm ihn an. Sie machte einen beunruhigten und zerstreuten Eindruck und hörte die Artigkeiten, die Widrin ihr zu sagen versuchte, nur mit halbem Ohr. Dann erzählte sie, daß sie noch am selben Abend abreisen wolle. Durch die Gesandtschaft habe sie ein Telegramm erhalten, daß sie sofort zurückkehren müsse.

Widrin sprang zu dem über, was während der ganzen Zeit in seinem Unterbewußtsein gebrütet hatte: ob sie in jener Sommernacht vor fünf Jahren mit im Zuge gewesen sei? Im selben Augenblick war sie lauter Leben. Ja, sie habe so weit nach vorn im Zug gelegen und geschlafen, daß sie infolge des Zusammenstoßes nur vom Sitz heruntergerollt sei. Ohne Riß oder Schramme sei sie davongekommen; aber vielleicht hatte sie gerade deswegen einen so unauslöschlichen Eindruck von den Schrecknissen, deren Zeugin sie dann später wurde.

Ihr ganzes Äußeres erfuhr eine Veränderung, während sie redete, und erst jetzt sah er die große Künstlerin in ihr. Aber er saß hier nicht, um ihr Mienenspiel zu beobachten. Fast unhörbar murmelte er, ob sie einige von den mitreisenden Damen kenne, die zu Schaden gekommen waren. Sie dachte eine Sekunde lang nach: »Soweit ich mich entsinne, keine andere als meine Freundin Ida Witt!«

Widrin war es, als sähe er im Mondlicht eine kleine schwarze Tasche mit den silbernen Buchstaben I. W. Das hatte er alle diese Jahre hindurch vergessen können!

Die Schauspielerin sah ihn erstaunt an: »Haben Sie Ida gekannt?« Er erwiderte: »Ich weiß nicht … Ich glaube, wir waren im selben Abteil!«

Sie beobachtete mit steigender Verwunderung die aschgraue Blässe, die sein mageres Gesicht entfärbte: »Wollen Sie einen Augenblick warten, ich habe ein Bild von ihr!« Sie eilte in das Nebenzimmer. Widrin war es, als würden Riesenglocken in seinem Kopf geschwungen. Dann ward es ihm schwarz vor Augen. Frau von Payn reichte ihm ein Glas Wasser, aber er schob es zurück: »Das Bild? … Wo ist das Bild?« Sie antwortete nicht gleich, sie hatte ein kleines rotes Reisekästchen geöffnet und wühlte zwischen Papieren und Bildern: »Hier habe ich alle die Briefe und Bilder, die etwas für mich bedeuten. Ich reise immer mit diesem Kästchen … Es ist nur ein ganz kleines Bild. Es wurde vor drei Jahren aufgenommen, als wir beide im Weißen Hirsch waren … in der Nähe von Dresden … in dem Sanatorium, Sie wissen ja … Sehen Sie hier …«

Widrin hielt das Bild in den Händen, dann lag er laut schluchzend über den Tisch gebeugt. Die Schauspielerin stand diesem heftigen Ausbruch ratlos gegenüber. Plötzlich schrie er fast: »Ist sie verheiratet?« Gunhild von Payn lächelte: »Nein, natürlich ist sie nicht verheiratet!« Sie wußte selbst nicht, warum sie das Wort »natürlich« gebrauchte. Es erschien ihr plötzlich so selbstverständlich, daß Ida Witt nicht verheiratet war.

»Geben Sie mir ihre Adresse!« Sie schrieb sie nieder und wunderte sich jetzt nicht darüber, daß er an ihr vorbeistürzte, ohne seinen Hut mitzunehmen. Er taumelte die Treppe hinab, hinaus und in einen Wagen hinein:

»Zur Telegraphenstation! Fahren Sie schnell!«


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