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Als Widrin endlich festen Grund unter den Füßen fühlte, wagten seine erregten Gedanken gar nicht daran zu glauben. Er warf sich auf das Gesicht und klammerte sich an die Erde, beständig voll Angst, daß sie die Macht besitze, ihn hinabzuziehen. Er mußte Meilen und aber Meilen gelaufen sein – doch das Schreien ertönte noch immer. Er hielt die Hände vor die Ohren, es half nichts. Er riß Grasbüschel aus und stopfte sie in die Ohrmuschel. Das Schreien war da, es klebte in seinem Gehirn fest.
Er lag mit geschlossenen Augen da, aber hinter den Lidern sah er die gemarterten Gesichter der versinkenden Kameraden. Er bohrte die geballten Hände in die Augen, bis ihm rote und grüne Funken aus der Dunkelheit entgegenstoben. Hinter den Funken sah er die Menschen sinken und sinken, sah die ausgestreckten flehenden Arme, sah die brechenden, blutunterlaufenen Augen.
Wahnsinnig vor Entsetzen, begann er zu brüllen, zu heulen wie ein Wolf, um die Rufe zu übertäuben, um zu vergessen, was er sah. So heulend schlief er endlich ein.
Er mußte über die Felder gekrochen sein, mußte ein einsam grasendes Pferd gefunden haben, mußte in einer verlassenen Hütte Wasser gefunden haben, um seinen gräßlichen Durst zu löschen, mußte durch die feindlichen Vorposten geschlüpft sein. Er wurde bewußtlos aufgefunden und in ein provisorisches Lazarett geführt. Die Klagerufe der Verwundeten hielt er für das Notgeschrei aus den masurischen Sümpfen.
Es vergingen Monate, ehe er die Nervenerschütterung überwand, die ihm fast den Verstand gekostet hätte. Und als er soweit geheilt war, hatte er nur ein Verlangen: Rache!
Er wollte vorwärts, dahin, wo gekämpft wurde, wo getötet wurde. Der Mensch Widrin war ein Raubtier geworden, das Blut roch. Und er trat in die Reihen der Gemeinen ein.
Die Schrecken der masurischen Sümpfe hatten den Gedanken an Ida Witt aus seiner Seele gestrichen. Er war ein Phantast gewesen, ein Wahnsinniger. Jetzt war es vorüber.
Aber das Schicksal war stärker als er. Es machte ihm Spaß, mit Widrin zu spielen wie die Katze mit einer Maus. Noch zweimal sollte er durchdrungen werden von Süße und Schmerz, sollte verzehrt werden von der Sehnsucht, die nie still zu werden scheint.
Was kümmerte er sich um abgebrannte Dörfer, um Vieh, das den Hungertod auf den Feldern starb? Was scherte er sich um Frauen, die mit Säuglingen auf den Armen, stumm wie die Toten, schattenhaft durch schneeschwere Wälder flüchteten, über zugefrorene Flüsse, über Bergpässe einer Freistätte entgegen, deren Richtung ihnen ebenso unbekannt war wie das Schicksal, das ihre Lieben betroffen hatte!
Daß die Kameraden ringsumher umsanken, daß er sich daran beteiligte, sie während des hastigen Vorrückens unter die Füße zu treten, rührte ihn nicht mehr als der Anblick der Käfer und Schnecken, die sein Fuß in den sommerlichen Wäldern zermalmt hatte. Er trug in seinem Innern ein Bild aus Hölle, gegen das alles andere ein Kinderspiel war. Sein Herz war wie in einen Eisblock eingefroren.
Er hatte viele Gefangene gemacht und war nun damit beschäftigt, Tote und Verwundete aufzusammeln, die der fliehende Feind hatte hinterlassen müssen. Man zog den Toten die Stiefel ab zur Verwendung für die Lebenden. Widrin gelangte zu einem jungen Offizier, den er tot glaubte. Als er im Begriff war, ihm die beinahe festgewachsenen Stiefel auszuziehen, – seine eigenen hingen in Fetzen – ging ein Zucken durch den Körper des Mannes. Er schlug die Augen auf und starrte Widrin verwirrt an. Es war Vollmond – Vollmond wie damals – und Widrin taumelte zurück.
Wo hatte er früher denselben erstarrten Blick gesehen? Woher kam diese Ähnlichkeit?
Noch ein Zucken, und der Mann war tot.
Andreas Widrin blieb stehen. Etwas Unerklärliches band ihn an diesen toten Feind, etwas, das ihn erbeben machte, etwas, das seine Augen zittern machte und ihm die Kehle zusammenschnürte. Hastig, als sei er ein Leichenschänder, tasteten seine Hände auf der Brust des Toten herum. Was wollte er? Was suchte er?
Jetzt hatte er die Brieftasche gefaßt. Ohne sich um den Ruf der Kameraden zu kümmern, daß er sich beeilen solle, barg er die Brieftasche unter seinem Mantel. In einiger Entfernung, im Schutz eines Gebüsches, öffnete er sie. Das Mondlicht war stark genug, um dabei lesen zu können. Aber er kam gar nicht zum Lesen. Zwei Photographien waren aus der Tasche herausgefallen. Die eine von einer Frau, die er nicht kannte, die andere von Ida Witt.
Der Eisblock um sein eingefrorenes Herz schmolz. Es erwachte zu neuer Wonne, zu neuem Weh. Er hatte ein Gefühl wie der Unglückliche, der seinen eigenen Namen vergessen hat und plötzlich einen anderen ihn rufen hört. Jetzt war Ida bei ihm, er konnte die geliebten Züge Tag und Nacht vor Augen haben.
Aus dem Inhalt der Brieftasche ersah er, daß der Verstorbene Idas Bruder, Erwin Witt, war. Lange schwankte er, ob er den Brief an sie in seinem eigenen Namen schreiben solle oder mit einer fingierten Unterschrift.
Der Brief und die Brieftasche wurden abgesandt – in Andreas Widrins Namen.
Er war wieder Mensch. Das Raubtier in ihm war leblos wie der Mann, von dessen Brust er das Bild der Geliebten genommen hatte.
Der Kanonendonner wirkte nicht mehr wie Wein in seinen Adern. Der Krieg hatte die Anziehungskraft für ihn verloren. Er wünschte jetzt nur noch, ausgestreckt auf dem Rücken zu liegen und zu träumen, mit Idas Bild in den Händen. Erst wenn jemand von hinten mit dem Bajonett stach oder ihm einen Schlag mit dem Büchsenkolben gab, um ihn an seine Pflicht zu erinnern, besann er sich darauf, wo er war.