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Ida Witt hatte lange genug in Wien gelebt, und doch kannte sie nicht mehr von der Stadt als der Fremde, der seinen Weg mit Hilfe eines Reisehandbuches und eines Fiakers findet. Vielleicht fehlte es ihr an Ortssinn, vielleicht kam es daher, daß ihre Gedanken immer beschäftigt waren. Sie, die oft in einem ersten Gespräch die Leute zu bewegen vermochte, daß sie ihre innersten Gedanken verrieten, sie, deren Gedächtnis sie befähigte, sich jahrelang des Wortlauts einer Unterhaltung zu erinnern, war auf der Straße wie eine tastende Blinde. Kam sie aus einem Hause heraus, so wußte sie nie, ob sie rechts oder links gehen sollte, sie erkannte weder Straßen noch Plätze, sie achtete nicht auf das Menschengewimmel, und lief sie in der Eile gegen etwas und blieb stehen, um sich zu entschuldigen, so ahnte sie nicht, ob es ein Mensch oder ein Laternenpfahl war. Und doch war sie nicht kurzsichtig.
In der Regel fuhr sie, um Zeit zu sparen, aber nach Ausbruch des Krieges geschah es oft, daß kein Wagen in der Nähe war, und dann ging sie – die Ungeduld hinderte sie zu stehen und zu warten.
Jetzt suchte sie nach einem Kaffeehaus, an dem sie unzählige Male vorübergekommen war; als sie aber davor stand, war es ihr fremd wie ein Haus, das plötzlich aus der Erde in die Höhe geschossen ist. Das Lokal war bis zum Gedränge angefüllt. Es war eins der Häuser, die die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina besuchten, um über ihr Mißgeschick zu sprechen, und in der Hoffnung, etwas Neues aus ihren verschiedenen Heimatsgegenden zu hören. Es waren in der Hauptsache Männer, aber auch vergrämte Frauen, die kleine Kinder mit sich schleppten, sah man dort.
Die Luft war schwer von Tabak, starkem Kaffee und Menschen, die keine Gelegenheit hatten, ihr tägliches Bad zu nehmen. Ida bahnte sich einen Weg nach dem Büfett und verlangte, daß man die elektrischen Fächer in Gang setzte. Dann ließ sie sich in ein Gespräch mit den Zunächststehenden ein. Die Unterhaltung wurde bald auf polnisch, bald auf ruthenisch und bald auf deutsch geführt.
Ida hatte einen Brief von Marylka gehabt, die in ihrer Verzweiflung, weil sie seit Monaten nichts von der Schwiegermutter in Czernowitz hörte, Ida anflehte, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um Nachricht zu schaffen. Nun hatte Ida zufällig erfahren, daß in diesem Kaffeehaus hier ein Mann zu verkehren pflegte, der alle vierzehn Tage sich ganz im geheimen über Rumänien mit Briefen nach der Bukowina hineinschmuggelte und Antwort mit zurückbrachte. Er verlangte eine feststehende kleinere Summe für die Besorgung jedes Briefes, was Ida ganz in der Ordnung fand, nur wollte sie sich davon überzeugen, daß er zuverlässig war und nicht das Mäntelchen nach dem Wind hängte.
Man sprach in flüsterndem Ton von ihm. Niemand nannte ihn beim Namen. Offenbar war man sehr besorgt, ihn zu verlieren und damit die einzige Möglichkeit, zu erfahren, wie es um die Zurückgebliebenen stand. Endlich kam er. Ida sah ihn prüfend an. Ja, er war der, für den er sich ausgab. Ein kluger Mensch und ein Wagehals, für den das Geld eine geringere Rolle spielte als die Spannung. Ida übergab ihm den Brief und beauftragte ihn, wieviel Mühe es auch kosten möge, eine Antwort zurückzubringen.
Gerade als sie gehen wollte, stürzte eine zerzauste Frauensperson in das Lokal und schrie mit einer Stimme, die heiser und vor Angst gebrochen war: »Jadja! Jadja!« Es entstand ein augenblickliches Schweigen, gleich darauf aber begann die Unterhaltung von neuem. Ida fragte, was das zu bedeuten habe. »Nichts weiter! Sie rennt hier jeden Tag, um Jadja zu suchen! Niemand weist, wer Jadja ist. Es gehen so viele Jadjas verloren in dieser Zeit. Ihre Jadja ist fünfzehn Jahre alt, sagt sie. Verschwand an demselben Tage, als sie nach Wien kamen. Was nützt es, daß die Mutter wie eine Verrückte herumstürzt und nach ihr sucht! Schließlich wird die Frau noch wahnsinnig!«
Ida runzelte die Brauen. Wie viele Mütter liefen so herum und riefen nach ihren Töchtern? Es mußte etwas geschehen. Es mußte ohne Zögern gehandelt werden. Und während sie draußen auf der Straße bemüht war, ausfindig zu machen, ob sie um die erste, die zweite oder die dritte Ecke herum müsse, brütete ihr Gehirn einen neuen Plan aus, den sie am selben Tage zur Ausführung brachte.
Während sie noch dastand und sich umsah, kam ein alter Dienstmann mit blauroter Nase, nahm den Hut bis zur Erde ab und zeigte ihr die Richtung. Er begleitete sie die Straße entlang und fing an, über die Kriegsaussichten zu sprechen. Sie waren Freunde, die beiden. Er konnte nie vergessen, daß sie ihm eines Tages eine Handvoll roter Rosen zugesteckt hatte, weil sie ihn ein durstiges Pferd tränken sah. Sie bekam ja immer Blumen und verschenkte sie immer wieder an beliebige Menschen.
Aber später leistete er ihr einen Dienst, den sie niemals vergaß. Eines Abends hatte sie sich den Fuß vertreten, hatte es aber, wie immer, wenn es sich um einen persönlichen Unfall handelte, wieder vergessen. Und am nächsten Morgen war der Fuß so geschwollen, daß sie ihn nicht aufsetzen konnte. Sie wollte die Probe nicht versäumen und humpelte, den Stiefel an dem einen Fuß und einen seidenen Schuh an dem anderen, die Straße hinab in der Hoffnung, bald einen Wagen zu finden. Es war keiner da, aber sie ließ den Mut nicht sinken. Mehrmals wurde es ihr schwarz vor den Augen vor Schmerz; sie mußte den Schuh ausziehen und über den eisbedeckten Bürgersteig auf dem Strumpf weiterhumpeln. Da sah der alte Dienstmann sie. Ohne um Erlaubnis zu fragen, stellte er einen riesigen Filzschuh, den er aus der Tasche zog, vor sie hin, und sie steckte den Fuß hinein. Dann lotste er sie, den Arm um ihre Hüfte, bis an die nächste Haustür, wo sie sich niederließ, bis er einen Wagen beschafft hatte. Da gab sie ihm die Hand zum Dank und sagte, wenn er jemals ihrer für sich oder die Seinen bedürfe, würde sie stets für ihn zur Verfügung stehen.
Jetzt gingen sie die Straße hinab, und er sagte: »Die Sache ist ja die, daß man so gern helfen möchte, aber man ist ja so alt und abgearbeitet. Der Frau zu Hause geht es ebenso. Wir haben keine Kinder oder dergleichen, die wir hergeben könnten, und nun sitzen wir da und schämen uns vor uns selbst.«
Ida lachte laut auf: »Geben Sie mir Ihre Adresse! Sie sollen beide genug zu tun bekommen, und zwar schon in allernächster Zeit!« Der alte Mann hielt die Hand vor den Mund und flüsterte: »Sehen Sie, Mutter hat schon zwölf Paar Socken gestrickt und drei von diesen Wollschals, aber sie findet, daß das nichts ist. Sie meint, daß bloß die, die in den Krieg gehen und in die Lazarette, wirklich Nutzen schaffen, aber in den Lazaretten nimmt man ja bloß die jungen Menschen, obgleich die Alten viel mehr taugen, um des Nachts zu wachen, will ich Ihnen nur sagen!«
Ein Gedanke schoß durch Idas Gehirn. »Kann Ihre Frau kochen?« »Na und wie! Sie ist ganze sieben Jahre beim Grafen Thun in der Küche gewesen und hat fünf Küchenmädchen unter sich gehabt! Ich sollt' meinen, daß die kochen kann! Geben Sie ihr eine alte Stiefelsohle und einen Löffel Paprika, und sie macht Ihnen einen Gulasch, nach dem sich der Kaiser selbst den Mund leckt!«
Ida nickte: »Sorgen Sie dafür, daß Ihre Frau noch heute abend zu mir hinauskommt!«
Als sie in den Torweg einbog, lag die Frau des Pförtners auf den Knien und scheuerte die Fliesen. »Wie geht es mit den dänischen Decken?« Die Frau hob den Putzlappen mit steifem Arm in die Höhe: »Gott segne das gnädige Fräulein! Die Kinder sind gar nicht zu Bett zu kriegen, so arbeiten sie. Neulich nachts denk' ich, daß da Ratten sind, und da ist es Josef, der unter dem Federbett Zeitungen zusammenknüllt!«
Ida ward das Herz groß. Nie hatte sie geahnt, daß es so viel Liebe in den Menschen gab! Täglich hatte sie neue Beweise dafür. Josef war ein elfjähriger Krüppel, der weder gehen noch stehen konnte – jetzt diente er dem Vaterland, indem er Decken aus alten Zeitungen anfertigte!
»Haben Sie noch Papier genug, Frau Späth?« »Jesus Maria, Fräulein! Wir kriegen ja die Zeitungen aus allen Kaffeehäusern hier in der Nachbarschaft und dann noch die von den Leuten im Hinterhaus und im Vorderhaus. Und das haben wir dem gnädigen Fräulein zu verdanken! Die letzte Woche, als die Sammelwagen hier waren, konnten wir ihnen elf Decken mitgeben, fix und fertig! Josef zerknüllt die Zeitungen, um sie weich zu machen, und Toni legt sie in Schichten, und ich nähe sie … Und all die elf Bezüge hat Josef geschenkt, was sagen gnädiges Fräulein dazu?« Ida war fassungslos vor Staunen. »Ja, stellen Sie sich vor, da hat der arme kleine Kerl ganz heimlich Toni hingeschickt, daß sie ihm sein Briefmarkenalbum verkaufen soll. Ich dacht', er würd' sich eher von einem seiner Augen trennen …«
Ida stürzte an der Pförtnersfrau vorüber. Sie mußte sofort Josef sehen, der in dem engen Zimmer nach dem Hof hinaus sah und Zeitungen zerknüllte und dazu pfiff. »Josef, was höre ich von dir!« Sie küßte ihn auf die Augen. »Wenn ich General wäre, würde ich dich gleich zum Hauptmann machen!« Die klaren Augen des Jungen sahen in die ihren: »Die Mutter meinte, Sie würden böse werden, weil ich das Album verkauft habe, das Sie mir doch geschenkt hatten!«
»Nein, das meinte die Mutter wirklich nicht. Die Mutter ist ebenso stolz auf ihren Josef wie ich! Aber nun sollst du etwas hören. Morgen abend bekomme ich Besuch von einem Offizier, der unten in Serbien gewesen ist – einer von denen, die Brücken über die Flüsse schlagen, damit die Soldaten hinüberkommen können!«
»Die nennt man Pioniere!« erklärte Josef. Ida nickte. »Er hat einen Granatsplitter in den Arm bekommen und hat fünf Wochen im Spital gelegen, und nun soll er wieder hinaus. Aber morgen kommt er noch zu mir. Du kannst mir glauben, der hat was erlebt! Es war so kalt, und da war so viel Morast, daß er jeden Morgen, sobald er aus dem Bett gekommen war und die langen Stiefel angezogen hatte, in den Morast hinauswatete, bis eine ganze Schicht an den Beinen saß, dann stellte er sich ans Feuer und drehte und wendete sich so lange, bis der Morast zu einer ganzen Kruste zusammenbrannte. Das hielt dann die Kälte viele Stunden ab. Der kann erzählen! Was meinst du dazu, wenn ich dich einlade, hinüberzukommen und den ganzen Abend bei mir zu sein, so lange er da ist?«
Ida mußte sich abwenden. Der Ausdruck in dem Gesicht des Krüppels war so verklärt von Glück, daß es wirkte wie das Lächeln eines Sterbenden: »Und dann kann ich dem Vater das alles schreiben!«
Den ganzen Nachmittag saß Ida am Telephon.
Ringsumher in der Stadt waren jetzt Dutzende von Kinderhorten im Betrieb; jetzt wollte sie den ersten »Mädchenhort« gründen. Der sollte nicht nur für die Töchter von Flüchtlingen bestimmt sein, sondern auch für ganz junge Fabrikarbeiterinnen und Dienstmädchen, die der Krieg des Erwerbs beraubt hatte, und die sich jetzt in ihrem gezwungenen Müßiggang im Mittelpunkt der Stadt umhertrieben, um sich ein klein wenig Freude zu verschaffen, indem sie in die erhellten Schaufenster hineinguckten und die gutgekleideten Leute anstarrten.
Der Klang des verzweifelten Rufes: »Jadja! Jadja!« tönte ihr noch in den Ohren. Sie mußte diesen Mädchenhort noch heute gründen.
Aber es stellte sich heraus, daß es schwerer war, ein Lokal zu finden, als sie sich gedacht hatte. Das einzige, das man ihr anbot, lag in einer der Hauptstraßen, und sie wollte um keinen Preis zugeben, daß die jungen Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit dadurch einer täglichen Versuchung ausgesetzt wurden. Sie rechnete aus, daß sie im Notfall vorläufig ein paar große Räume im Palais der Fürstin entleihen könne, wo weder Bälle noch Mittagsgesellschaften stattfanden. Sie setzte telephonisch ihre Schülerinnen und Freunde in Bewegung, um Nähmaschinen, Mobiliar und Speisegerätschaften zu beschaffen. Das Geld würde sie selbst schon zusammenbringen.
Es war ihre Absicht, die Mädchen von einer fachlich ausgebildeten Kochlehrerin, mit Unterstützung der Frau des Dienstmannes, gründlich im Kochen unterrichten zu lassen. Außerdem sollten sie Anleitung im Schneidern, Weißnähen und im Putzmachen haben – nicht zum Erwerb, aber so, daß sie sich ihre eigenen Kleider nähen konnten. Sie sollten Vorträge und gute Musik hören, Ausflüge in die Umgegend, Besuche in Museen und Spitälern machen. Sie sollten so viel Anteil an den Freuden der Jugend haben, wie man ihnen verschaffen konnte. Dadurch wurden sie der Gefahr der Versuchungen entrückt.
Ida dachte einen Augenblick nach, dann telephonierte sie an ihre liebe Freundin Elsa Wiesenthal und bat sie, den jungen Mädchen Tanzunterricht zu geben. Elsas klingende Stimme tönte durch das Telephon: »Mit Vergnügen! Wann?« Und Ida mußte über sich selbst lachen, daß sie ohne weiteres eine solche Forderung an die vergötterte Tänzerin stellte, deren Unterricht unter anderen Umständen kaum mit Gold aufzuwiegen war. Aber der Krieg stellt alles auf den Kopf. Brachte der Krieg diesen jungen Menschenkindern keine andere Freude, so konnten sie sich wenigstens späterhin im Leben darüber freuen, Tanzunterricht bei einer der begnadetsten Künstlerinnen ihres Jahrhunderts gehabt zu haben. Ida sah im Geiste die Mädchen sich schon herumschwingen, so daß der ganze Saal in eine Staubwolke gehüllt war. Sie hörte ihr Lachen, und sie hörte Elsas Stimme, die wie das Streichen auf einem wunderlich fremden Instrument klang …
Gleich nach der Heimkehr hatte Ida dem Hauptausschuß ihren Plan entwickelt; er fand sofort Beifall – und man erzählte ihr Geschichten, die ihr einen Frostschauer am Rückgrat entlang jagten, Geschichten davon, wie die Arglosigkeit und Unwissenheit der jungen Mädchen ausgenutzt wurde.
Man wollte ihr noch am selben Abend eine Schar zur Auswahl senden. Kurz bevor sie kommen sollten, klingelte eine von Idas Schülerinnen sie an: sie sei so glücklich gewesen, ein großes, leeres Atelier zu finden, das wie ein Treibhaus mit Sonne sei. Mehrere kleinere Bodenzimmer gehörten mit dazu. Eine große Küche würde mit provisorischen Öfen, mit Gasherd wie auch mit Kohlenherd eingerichtet werden.
Aber nun entstand ein innerer Konflikt, mit dem Ida nicht gerechnet hatte. Als die jungen Mädchen im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren hereinzuströmen begannen, sah sie, daß einige unter ihnen bereits den unverkennbaren Stempel des Lasters trugen. Sie konnte es nicht verantworten, sie aufzunehmen. Die Ansteckungsgefahr war zu groß, die Verantwortung unüberwindbar. Mit blutendem Herzen sandte sie sie fort, und noch lange nachher hatte sie ein Gefühl, als habe sie die Hände von Ertrinkenden von sich gestoßen.