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Glorias zweiter Brief

Liebste, süßeste,
aber schrecklich vernünftige Evelyn!

Könntest Du Dir vorstellen, daß Du den Metropolitan Tower dazu brächtest, mit der Spitze nach unten und dem Boden in der Luft zu balancieren? Oder einen Stein, » Stars spangled Banner« im Takt zu singen? Und ich schwöre Dir, das würden Kleinigkeiten sein im Vergleich dazu, mich jetzt zur Rückkehr zu bewegen.

Ich glaube fast, daß Du mich überhaupt nicht kennst. Sollte ich mir einen Krieg entgehen lassen? Ich, die ich weder ein Erdbeben noch Cholera oder eine Entführung erlebt habe! Nein, Schwesterchen, so dumm bin ich denn doch wirklich nicht!

Laß Du Harold nur all sein überflüssiges Geld für Telegramme verschwenden! Ja, laß ihn nur vier irische Schutzleute herübersenden – von denen zu zweihundertfünfzig Pfund lebendem Gewicht –, um mich zu holen. Ich stehe nicht für ihre Nasen und Ohren ein, aber für meine Nägel und Zähne garantiere ich – weißt Du noch, wie ich ein Glas durchbiß, nur weil ich wütend wurde?

Lebend bekommt Ihr mich nicht, und übrigens auch nicht tot. Eher vermache ich meine schlanken Glieder einer Leimsiederei. Man kocht nämlich Leim aus alten Knochen, falls Du es nicht wissen solltest!

Nur einmal in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen wie jetzt, nämlich als der Dampfer die Anker lichtete und ich mit meinen sechs Monaten und Harolds Kreditbrief in der Tasche dastand.

Ich sage nicht, daß ich nicht zurückkomme, wenn die sechs Monate um sind – das hängt davon ab, ob der Krieg vorbei ist. Also wenn Harold Einfluß hat, kann er ihn ja gebrauchen!

An das bißchen Krieg zwischen Serbien und Österreich hätte ich mich keinen Deut gekehrt. Von Serbien weiß ich nur, daß sich die Leute dort nicht jeden Tag baden, und daß die meisten ihren eigenen kleinen zoologischen Garten mit sich auf dem Körper herumtragen. Erst als die anderen Länder sich in die Haare gerieten, schmeckte ich Blut. Hier meint man, daß binnen kurzem ganz Europa in Flammen stehen wird. Darauf laure ich. Ich habe mir schon einen feinen kleinen Krimstecher gekauft. Kannst Du Dir eine Vorstellung von mir machen, auf einem Hügel stehend, »die Walstatt überschauend, die rot ist vom Sonnenuntergang und von dem Blut der Gefallenen!«

Und dann bin ich deutsch geworden! Das geschah in einem Nu, eine förmliche Bekehrung. Wenn ich mich jemals mit einem von Harolds gleichen verheirate, bin ich ja gezwungen, Amerikanerin zu werden, aber zurzeit bin ich so deutsch, daß, wenn ich stürbe, Du eine Landkarte von Deutschland in mein Herz eingeritzt finden würdest – und eine schreckliche Menge schwieriger unregelmäßiger Verben, in deren richtiger Anwendung ich mich übe. Ich bin so stolz darauf, daß Großpapa ein echter Deutscher war! Ich bin überzeugt, ich würde ebenso stolz auf ihn sein, wenn er Hundescherer oder Schornsteinfeger gewesen wäre. Im übrigen ist Tierarzt ja auch gerade nichts Vornehmes.

Süße Evelyn, ich habe ein Gefühl, als hätte ich Champagner in den Adern – extra dry. Wäre ich ein Mann, so solltest Du sehen, wie ich mit einem Säbel in der einen und einem Gewehr in der anderen Hand auszöge und die Feinde zu Dutzenden erschösse. Jetzt sehne ich mich am meisten nach einer belagerten Stadt, wo man Ratten ißt und die Pest bekommt.

Ich schrieb Dir einen langen Brief über meinen Besuch bei der Fürstin, wo ich mit zwei lebenden Prinzessinnen zusammen war – ich hatte sie, wie Du weißt, in Thüringen getroffen – und mit einem noch echteren Prinzen – nämlich mit einem, der einen König zum Vater hat –, und dann hast Du den Brief nicht bekommen! Das Schlimmste ist, daß ich ihn vielleicht verloren habe oder auch, ich habe ihn ohne Adresse in den Briefkasten gesteckt, das ist ja meine alte Schwäche. Aber ich kann sehr wohl begreifen, daß Du nun in derselben Angst um mich umhergehst, wie Mrs. Walsh um ihren Kardinal, als der auf das Dach gestiegen war.

Ich schmiere alles mit Bleistift ins Tagebuch nieder – hauptsächlich wenn ich in der Badewanne liege, denn dann habe ich am meisten Zeit. Eins von Harolds Mädels kann es später mit der Maschine abschreiben – für die Enkel. Ich glaube wirklich, meine Tagebücher sind ebenso interessant – und ungefähr ebenso geistreich – wie die der Madame, wie hieß sie doch noch, Du weißt, die Tagebücher, die uns Mademoiselle immer vorlas, damit ich lernen sollte, »formvollendete Briefe« zu schreiben?

Aber es nützt Dir ja nicht, daß ich mein Tagebuch hier habe, da wird es wohl am besten sein, wenn ich mich aufopfere und Dir wieder ein wenig von meinem Besuch bei Nadja und Aglaja erzähle. Du weißt ja, wie wir uns anfreundeten, und dann luden sie mich natürlich auf ihr Gut ein, und ich sagte natürlich ja. Wenn auch nur aus dem Grunde, daß ich gern eine Fürstin in der Nähe sehen wollte.

Stellst Du Dir nicht eine Fürstin mit einem Diadem auf dem Kopf vor und mit einem Pagen, der ihr die Schleppe trägt? Kannst Du Dir eine Fürstin mit langen Schaftstiefeln und einem Strohhut denken?

Es wird am besten sein, nicht von ihren Kleidern zu reden. Ich glaube, daß sie sie nicht nach Maß nähen lassen, sondern, daß sie sie irgendwoher aus einem Geschäft bekommen, so ähnlich wie die Magasins in der vierzehnten Straße. Die Fürstin bekommt freilich auch Kleider von Worth – aber die sind nur für die Hoffeste in Wien. Ich hatte gar keine Verwendung für alle meine feinen Toiletten, und da ich keine Lust hatte, herumzugehen und auszusehen wie ein Aushängeschild für ein Pariser Haus, ließ ich den ganzen Garderobenkoffer unausgepackt und begnügte mich mit meinen Tennisanzügen und ein paar »kleinen« Kleidern.

Die Dienstboten küssen einem die Hand und machen einen Knicks bis ganz auf den Fußboden – ich denke mir, so muß es in alten Zeiten, als man noch Sklaven hatte, bei den besseren Familien in den Südstaaten gewesen sein. Allzu sauber sind die Dienstboten auch gerade nicht, aber der Schmutz steht ihnen ganz gut.

Wir waren ein Sammelsurium von Gästen mit den halsbrecherischsten Namen, ich ließ sie mir alle aufschreiben, so wie sie buchstabiert und wie sie ausgesprochen werden. Die Bauern schlafen nicht in Betten, sondern an der Erde auf Heu und Stroh und auf Fellen; aber sie haben richtige Gärten um ihre Häuser herum. Die Fürstin besitzt Petroleumquellen. Genug, um einer jeden ihrer Töchter – selbst wenn sie zwölf hätte – einen Herzog zu kaufen – auch wenn sie nicht schon an sich so hochvornehm wäre.

Sie verstehen nicht zu kochen, nicht so wie wir in Amerika, und sie pfropfen alles voll von scharfen Gewürzen, so daß man nicht weiß, ob man Fisch oder Fleisch oder Kuchen ißt.

Den größten Teil des Tages verbrachten wir auf dem Pferderücken, auf den drolligsten alten Sätteln, gestickt und mit Metallbeschlägen. Sie reiten auf eine andere Weise als wir.

Mein neuster » beau«, Leutnant von Treschau, Helwig von Treschau, war die ganze Zeit da. Sie sind so sonderbar, diese Deutschen, sie nehmen alles so buchstäblich. Aufs Flirten verstehen sie sich gar nicht.

Aber mir ist das einerlei …

Kannst Du Dich noch des anderen entsinnen, über den ich Dir von der Mitternachtsonnenreise aus schrieb? Der mit einer Lorelei in den Augen herumging. Gaston le Lys hieß er. Er ist jetzt mit Aglaja verlobt; ich habe niemals jemand so verliebt gesehen wie die beiden. Das ging im Galopp!

Und dann war da die sonderbarste Erscheinung, die Du Dir denken kannst, eine Schullehrerfrau hoch oben von einer kleinen Insel. Der Mann ist Dichter und sieht gewaltig gut aus. Sie hat genug Haare, um ein ganzes Sofakissen damit zu stopfen, aber ihre Manieren! Sie hatte noch nie im Leben Eis gegessen, und als sie den ersten Löffel voll in den Mund bekam, spuckte sie es in die Serviette aus! Sie biß vom Brot ab und umfaßte es mit beiden Händen wie die Neger, wenn sie eine Wassermelone verzehren. Aber großartig war sie. Ich nannte sie Brunhilde. Sie hat einmal den Prinzen vor dem Ertrinken gerettet, obgleich sie selbst nicht schwimmen konnte. Es wurde mehr Wesens von ihr gemacht als von sonst jemandem.

Aber die eigentliche Hauptperson war doch die Opernsängerin. Sie hat nicht im Metropolitan gesungen, folglich kennst Du sie nicht. Welch eine Stimme! Um die Toten aufzuerwecken. Oder vielmehr um sie zu hören, wenn man im Sterben liegt. Ich bat sie, mir zwölf Stunden zu geben, aber sie sagte, sie wollte mir statt dessen lieber zwölf Stunden etwas vorsingen. Sie gehört zu den Leuten, die alle Menschen um den Finger wickeln – und man läßt sich wickeln.

Aber am besten von allen hat mir Fränze Vogt gefallen, die aus Thüringen. Sie war die einzige, die sich zu kleiden verstand, und die einzige, die Englisch fast ohne Akzent sprach. Puppenfüßchen und Hände, von denen man direkt einen Abguß machen und im Museum ausstellen könnte. Und dann war da ein kleines darling von Mutter, von der man nicht begreifen konnte, daß sie sich hatte verheiraten dürfen. Ihr Mann war Marineoffizier, und ihre beiden kleinen Kinder tanzten ebensogut wie die Duncan, obgleich sie es gar nicht gelernt hatten.

Da war keine Spur von Etikette, nicht die Bohne! Aber, da waren Ahnenbilder!!! Die Familie der Fürstin muß sicher bis zur Sündflut zurückreichen. In welchem Jahr war die übrigens? Und ein großer Park mit uralten steinernen Bänken, und Kisten, die wie Badewannen aussahen, und zwischen den Bäumen Marmorfiguren ohne Köpfe.

So, jetzt weißt Du genug davon …

Als der Krieg anfing, der kleine mit Serbien, war ich in Dresden. Mir fiel ein, daß da eine Madonna ist, die man gesehen haben muß, wenn man in Europa gewesen ist. Die Leute waren genau so, als wenn man in einem Ameisenhaufen herumstochert. Aber später, als Deutschland Kriegserklärungen nach Osten und Westen aussandte, als wären es Einladungen zu einem Hofball, da war ich in Berlin, und dort bin ich heute noch. Zwei Nächte habe ich nicht geschlafen. Das ist so wahr, wie ich hier jetzt sitze und an meine allerliebste Schwester schreibe. Alle Menschen sahen so aus, als hätten sie eben ein Wunder erlebt; so glänzten ihre Augen, auch die der Arbeiter und der armen Leute. Herr von Treschau ist natürlich mit. Er ist ja Offizier, auch sein Bruder ist mit. Der Vater war General, und die Mutter ist die Schwester der Fürstin und hat mehr Ähnlichkeit mit einer Fürstin als diese. Ich war dort zu Tische gerade an dem Tage, als die Antwort auf Deutschlands Ultimatum an Rußland kommen sollte. Wir saßen bei Tische wie in einer Kirche, und ich kam mir so überflüssig vor wie ein Pelz im Sommer. Aber Du mußt nicht glauben, daß die Generalin ein Wort darüber geredet hätte, wie schrecklich es sei, daß die Söhne vielleicht totgeschossen werden sollten …

Ich weiß nicht recht, was ich will. Da ist so vieles, wozwischen man wählen kann. Am meisten lockt es mich, Spionin zu werden, aber dazu ist mein Deutsch nicht gut genug, obgleich sie alle sagen, daß es großartig ist. Weibliche Flieger wollen sie nicht haben. Um Krankenpflegerin zu werden, bin ich nicht verliebt genug. Ich begreife nicht, warum sie nicht, statt Kanonen und Bajonette zu gebrauchen und all das andere, was so roh ist und außerdem solchen Haufen Geld kostet, lieber die Soldaten im Ju-Jitsu ausbilden.

Leutnant von Treschau schickte mir einen Strauß roter Rosen an dem Tage, als er abreiste, aber ohne ein Wort, nur mit einer Karte. Ich glaube, er hat erwartet, daß ich ihn bitten sollte, sich mit mir zu verheiraten.

Evelyn, wenn Du mir versprechen willst, Harold den übrigen Teil des Briefes nicht zu zeigen, will ich Dir etwas anvertrauen: Ich war in der Nacht, als er abreiste, auf dem Bahnhof – mit einem dicken Schleier … Und als ich nach Hause kam, weinte ich so lange, daß ich schließlich aufstehen und meine Augen baden mußte, um nicht ganz blind zu werden. Glaubst Du nicht auch, daß das Liebe ist? Nun fange ich wieder zu weinen an. Lebewohl, Evelyn, ich bin aber doch so glücklich. Ja wirklich. Ich bin glücklich.

Ein tüchtiger Soldat braucht doch nicht getötet zu werden, nicht wahr?

Es liegt etwas in der Luft hier, was ich nicht erklären kann, als wenn alle Menschen eine Familie wären. Nämlich auf der Straße kam ein Regiment Soldaten vorbei, die sangen. Neben mir stand eine junge, arme Frau. Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht, aber auf einmal standen wir Hand in Hand da, so wie Du und ich, wenn wir zum Großpapa sprechen, und da lehnte sie den Kopf an meine Schulter, und wir weinten alle beide.

Und eine andere erzählte mir, als wir Unter den Linden standen und die Kriegstelegramme lasen: »Ich hab' drei Söhne mit! Der Jüngste hat einen Klumpfuß, sonst wäre er auch mitgegangen!« Wildfremd. Wenn sie hören, daß Großpapa Deutscher war, ist es, als hätten sie ihn gekannt, so freuen sie sich. Eine fragte, ob ich nicht einen Deutschen heiraten wollte, und da antwortete ich, ich wollte mich niemals verheiraten, aber wenn ich mich verheiratete, mühte es ein Deutscher sein.

Und das ist wahr. Aber er freit wohl nie wieder, und wenn ich freie, sagt er wohl nein. Er ist sehr stolz. Ich will seine Mutter oft besuchen, und bei ihr riecht es so nach Militärtuch, und auf der Diele hängt einer von seinen Mänteln.

Evelyn, was soll ich nur tun?

Deine dumme Schwester
Gloria.

Nachschrift:

Findest Du nicht auch, daß Helwig ein schöner Name ist?


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