Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Marylkas Sieg

Die Pilgerfahrt war beendet. Wenigstens glaubte Fränze das, als sie an Bord des kleinen Dampfers gingen, der sie nach Marylkas Insel führte. Fränze hatte ein Gefühl, als sei sie von außen wie von innen mit Seife gescheuert. Nichts von der Vergangenheit war mehr zurückgeblieben. Alles war Albert – nur Albert. Alle ihre schönen Erinnerungen waren zusammengeschrumpft wie die roten und blauen Gasballons, die man den Kindern zum Spielen gibt, und die am Tage nachher als kleiner Farbenklecks an der Decke des Zimmers festkleben.

Albert hatte nicht gesagt: »Du darfst der Vergangenheit nicht treu sein! Du darfst deine Erinnerungen nicht lieben!« Er hatte sie nur in die Hand genommen, sie vor ihr in die Höhe gehalten, und sie hatte sie zu Nichts werden sehen. Jetzt lagen sie wie tote Schmetterlinge im Staube des Weges.

Zuallerletzt hatte er gesagt: »Soll ich dir nicht beim Packen deines Koffers helfen, sonst bekommst du ja nicht Platz für all das, was wir unterwegs gekauft haben!«

Er wußte nichts von der dicken Schicht von Briefen, die zierlich zusammengebunden auf dem Boden des Koffers lagen, auch nichts von den gepreßten Blumen oder den Ballkarten oder den Photographien. Er konnte es nicht wissen, denn sie hatte es ihm nicht gesagt. Aber trotzdem war es, als habe er geahnt, daß gerade das alles so viel Platz einnahm.

Er hatte nicht gesagt: »Wollen wir den ganzen Plunder verbrennen?« Sondern im Gegenteil: »Ja, das ist nun das Allerwichtigste, dafür müssen wir Platz schaffen!« Und dadurch hatte er sie gezwungen zu erwidern: »Nein, das sind ja nur die alten Briefe, von denen du weißt; die können wir verbrennen!«

Er sagte nicht: »Das ist ein vernünftiger Gedanke!« Sondern: »Wenn du sie erst verbrannt hast, dann hast du sie ja nicht mehr, falls du dich später danach sehnen solltest!« Und sie hatte geantwortet, denn sie mußte immer auf seine Gedanken eingehen: »Ich werde mich nie danach sehnen. Ich mache mir nur etwas aus deinen Briefen. Verbrennen wir sie!«

Er sagte nicht: »Dann sind sie aus der Welt!« Sondern: »Liebes Herzchen, wenn du das nur nicht bereust!« So hatte er sie Schritt für Schritt dazu getrieben, daß sie die Briefe um jeden Preis verbrennen wollte.

Er sagte nicht: »Du sollst sie nicht wieder öffnen, ehe du sie verbrennst!« Sondern: »Wäre es nicht am klügsten, wenn du sie vorher noch einmal gründlich durchläsest?« Und natürlich hatte sie nicht eins der Bänder gelöst, sondern lachend und munter alle die Bündel auf die Kaminplatte geworfen und sie an allen Ecken angezündet.

Sie hatte den sehnlichsten Wunsch, die Asche aufzubewahren. Aber Albert hatte sich beeilt zu sagen: »Liebes Herzchen, die Asche wenigstens solltest du doch behalten. Ich will dir eine kleine silberne Urne schenken, in die du sie hineintun kannst!« Deswegen hatte sie jetzt nicht einmal die Asche mehr.

Aber glücklich war sie ja. Sie hatte nur ein Gefühl, als sei es ein klein wenig leer in ihrem Innern. Ihr Gewissen war so rein und sauber. Sie mußte an eine Schulgefährtin denken, deren Mutter eine solche Reinmachewut hatte, daß die Kinder die Schuhe wechseln mußten, sobald sie in die Stuben kamen, obwohl Zeitungspapier auf den Fußböden lag, um sie zu schonen.

Albert hatte auch einen großen, flachen Ring aus Gold gekauft. An dem sollten alle Schlüssel des Hauses, mit kleinen Elfenbeinschildern versehen, hängen, und der Ring sollte in einem Korb liegen, den Fränze am Arm tragen sollte, wenn sie umherging und Schränke und Schubladen nachsah. Fränze sah sich mit dem Schlüsselkorb herumtrippeln, und sie kam sich vor wie nahe an die hundert Jahre! Aber sie wurde gleich wieder jung, als er ihr vorschlug, einen der spanischen Tänze zu tanzen, die er auf seinen Reisen nach den Tabakplantagen in Mexiko gelernt hatte.

Dann zog sie ihre halsbrecherischen, hochhackigen Schuhe an, löste das Haar auf, steckte eine rote Rose hinters Ohr und tanzte mit ihm, während er leise dazu pfiff. Sie tanzten auf dem Teppich im Hotelzimmer, damit niemand sie hören sollte, bis sie in seinen Armen zusammenfiel wie ein kleines Bündel …

Jetzt waren sie also auf Marylkas Insel gelandet. Sie hatten Bernstein am Strand gesammelt und Erbsen und Schweinefleisch gegessen und in einem Bett mit Stroh zuunterst statt einer Matratze geschlafen. Fränze mußte aufrecht dastehen und die Wellen in Empfang nehmen, die ihr über den Kopf spülten. Und sie durfte nicht schreien. Hinterher rollte Albert sie so lange im Sande, bis sie wieder ganz trocken und glatt war. In ihrem Haar saß der Sand zu Pfunden fest; es war Alberts Sache, ihn wieder herauszubürsten.

Im Grunde, meinte sie, hätte er doch vielleicht einen etwas moderneren Badeort finden können, da er so für das Meer zu schwärmen schien. Aber als sie oben aus dem Dach gesessen und warme Apfelkuchen mit den Fingern gegessen und durch den Schornstein hinabgeguckt hatte, wo die Krugwirtin gerade flüssigen Teig in die sieben Vertiefungen der Pfanne goß, und sie im selben Augenblick ein Geräusch in der Luft hörte wie von vielen Vogelflügeln und dann einen wirklichen Zeppelin lang und rund und weiß unter dem Himmelblau dahinsegeln sah, da fand sie doch, daß Ostende im Vergleich hiermit ein Hundeloch sei.

Gegen Abend wanderte sie mit Albert über die Heide nach Marylkas Hütte, um ein Telegramm an den Vater und an die Fabriken zu senden. Seit Marylka die Rettungsmedaille in Gold mit eigenhändigem Brief von Seiner Majestät erhalten hatte und von dem Prinzen eine ellenlange Halskette mit seinem Bildnis in einem runden Medaillon, war Marylka eine der Sehenswürdigkeiten der Insel geworden. Und kein Badegast weilte mehr als eine Nacht unter dem Krugdach, ohne ihre Hütte zu besuchen – natürlich, um Telegramme aufzugeben …

Für Marylka war das Ganze ohne Bedeutung. Sie hatte ihre Pflicht getan und nichts weiter, als was jeder an ihrer Stelle getan haben würde. Ihr Sinn war nicht darauf eingerichtet, Raum für viele verschiedene Dinge auf einmal zu haben. Er war gleichsam ein leeres Zimmer mit weißgemalten Wänden und einem einzigen Stuhl mitten auf dem Fußboden. Der Stuhl wartete auf Hans Rudner, der kam und ging, aber niemals blieb.

Sie stand jetzt da und sah nach der Richtung hinüber, woher die Post zu kommen pflegte. Es war Sonntag, folglich war da eine Möglichkeit, daß auch »ein anderer« kam. Sie hatte eine neue Art Kuchen gebacken und sehnte sich nun danach zu erfahren, ob er das beachten würde, und ob der Kuchen ihm schmecken würde. Eine Rollwurst hatte sie auch in der Presse. Sie war mit Seide statt mit Bindfaden zusammengenäht. Sie war mit Liebe genäht, aber das wußte nur sie allein.

Fränze fühlte sofort, daß sie und ihr Mann nicht willkommen waren; aber Albert merkte nichts, denn er setzte sich an dem Tisch zurecht, als wollte er nie wieder aufstehen. Die Telegramme wurden abgesandt, und er rührte sich nicht.

Ob es weit bis zur Schule sei? Marylkas Nase wurde rot, und sie machte sich etwas zu schaffen, um die Hände zu verbergen. Ob der Schullehrer tüchtig und beliebt sei? Sah Albert denn nicht, daß das Telegraphenfräulein bis über beide Ohren verliebt war?

Er fragte und fragte. Marylka glühte und näherte sich der Tür, als erwarte sie jemand und wolle auf diese Weise den Gästen andeuten, daß hier der Ausgang sei.

»Es ist so warm hier, können wir die Tür nicht ein wenig öffnen?« sagte Fränze, um ihr zu helfen. Die Tür wurde geöffnet.

Fränze lauschte. Fränze erhob sich. Sie sah Albert an, aber der guckte in den Garten hinaus. Fränze lauschte, erst mit den Ohren, dann mit der Erinnerung, dann mit ihrer ganzen Seele. Sie achtete nicht auf Marylka, die in der Tür stand, die Sonne über dem dicken, goldigen Haar. Marylka aber achtete auf sie. Es gab nur einen Menschen in der Welt, der so lauschen konnte, wenn Hans Rudner die Flöte blies. Das kleine Märchenmädchen, das sich ihm versprochen hatte und eines schönen Tages weggegangen war, weil es einen anderen liebte. Ohne sich umzuwenden, war es gegangen.

Der Laut kam näher. Die Töne zitterten nicht. Sie klagten nicht. Rund und dunkel in der Farbe kamen sie durch die Luft geglitten. Sie rührten Fränze an, sie schlangen sich um sie, sie gingen in sie hinein.

Marylka stand wie eine Bildsäule. Sie wollte ihm zurufen: »Kehre um! Komm' nicht näher!« Aber sie vermochte es nicht. Albert Vogt hatte eine Zigarre herausgeholt und sie, ohne um Erlaubnis zu fragen, angezündet. Mit dem Anflug eines Lächelns beobachtete er die beiden Frauen dort an der geöffneten Tür.

Die Töne schwiegen. Eine klingende Männerstimme rief vom Wege her: »Hallo, Marylka!« Marylka wünschte, daß der Erdboden vor seinen Füßen bersten möge. Ja, sie wollte ihn lieber hinabsinken und für ewig verschwinden sehen, als daß er wieder leiden sollte, wie er früher gelitten hatte.

Der Schullehrer trat ein. Er hielt die Flöte in der einen Hand; die andere streckte er nach Marylka aus, sie nahm sie aber nicht. Wie mit Bleiloten gefesselt, hingen die Hände ihr an der Seite herunter. Der erstarrende Blick machte ihn zurückprallen. Jetzt erblickte er Fränze.

Man sagt, daß der Mensch, der seinen eigenen Geist sieht, sterben muß. Hans Rudner schien seinen eigenen Geist zu sehen. Fränze wurde noch kleiner, als sonst. Da war kein Mauseloch, in dem sie sich verbergen konnte.

Ihr Mann rauchte ruhig weiter und blies den einen blauen Ring in den anderen. Hans Rudner war Fränze gegenüber stehen geblieben. Sein Blick glitt von dem Strohhut, der mit einem Kranz von künstlichen Feldblumen umschlungen war, bis hinab zu ihren Füßen, die Schuhe aus Alligatorhaut bekleideten. Er sah hinauf, er sah hinab. Er maß die schmale Taille, die kleinen Schultern, die bangen Augen, das verzagte, schuldbewußte Lächeln, das nahe daran war, in Weinen umzuschlagen. Er betrachtete die kleinen, willenlosen Hände, die sich von dem Mann nehmen ließen, der es verstand, sie am festesten zu halten.

»Was willst du, Fränze?« Albert half ihr nicht, er war ganz von seinen Ringen in Anspruch genommen. »Was willst du von mir?«

Marylka wartete nicht länger. Gleich einem großen, schwerfälligen Tier, das lange gereizt wurde und endlich zum Angriff übergeht, sprang sie mit einem Satz zu Fränze hinüber: »So gehen Sie doch! Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihm die Seele aus dem Leibe quälen! Haben Sie ihn denn noch nicht genug gepeinigt! Gehen Sie, sage ich!« Und Marylka hob Fränze in die Höhe, als sei sie eine Puppe, und trug sie nach der Tür. Fränze war schneeweiß geworden, die Unterlippe hing ihr herab wie kleinen Kindern, die zu sehr eingeschüchtert sind, um zu weinen.

»Laß sie los, Marylka!« Die Stimme klang sehr sanft, aber doch wie ein Befehl, und Marylka gehorchte dem Herrn ihres Herzens; aber als sie Fränze losgelassen hatte, schlich sie zur Tür hinaus. Fort! Fort!

»Warum bist du gekommen, Fränze? Warum bist du jetzt gekommen? Ich habe auf dich gewartet! Ich habe nach dir gerufen! Meine Tage waren ein einziges Warten. Wenn ich zur Ruhe ging, flüsterte es in mir: Morgen kommt sie! Sie muß ja kommen! Und am Morgen sehnte ich mich nur, daß es Abend werden möge. Wenn es dunkel ist, pocht es an meine Tür. Wer ist da? Ich, Fränze, niemand weiter, deine kleine Fränze! …« Er fuhr sich über die Stirn. »Aber jetzt, Fränze, jetzt ist es zu spät. Ich habe dich aus meiner Seele ausgestrichen …«

»Herr Rudner!« Albert Vogt erhob sich nicht. Die letzten Ringe schwebten noch unter der Decke. Eine tiefe Röte übergoß das Gesicht des Schullehrers. »Herr Rudner, das kleine Mädchen, das da so verloren und elend steht, ist nicht gekommen, um Sie aufzusuchen. Sie ist auf der Hochzeitsreise. Ihr Mann ist der Missetäter. Er und kein anderer.«

Jetzt befand sich Fränze im Schutz des Armes, der sie gegen alles Böse und alle Gefahren beschützen konnte. Sie ließ sich auf Alberts Knie nieder, ohne daran zu denken, daß sie nicht allein waren.

»Sehen Sie, Herr Rudner, unsere kleine Fränze ist ein Märchen, aber sie ist auch eine kleine Evatochter. Und sie ist die Frau, die ich ganz für mich allein haben will. Deswegen habe ich die Brutalität begangen, die sie mir, wie ich hoffe, im Laufe der Zeit verzeihen wird. Ich habe das Märchen in Wirklichkeit umgesetzt. Ich habe alle die Seifenblasen zerstört, die sie in die Wolken hinaufblies. Fränze hatte Sie vergessen – so viele waren da! Aber sie gab mir ihre Tagebücher, und diejenige von den Seifenblasen, die mir am meisten zusagte, hieß Hans Rudner. Nun kannte ich meine kleine Evatochter zur Genüge, um zu wissen, daß eines schönen Tages irgendeine Blume oder ein Ton oder ein Duft sie an Sie erinnern würde, und dann hätte ich sofort einen Nebenbuhler gehabt, den ich nicht hätte bekämpfen können, weil die Phantasie der Frau ein Labyrinth ist, in dem sich kein Mann zurechtfinden kann. So zwang ich denn Fränze, mit mir und in der Wirklichkeit eine Rundreise zu machen, die sie sonst nach Monaten oder Jahren allein … und in Gedanken gemacht haben würde.«

Vogt hatte sich erhoben und ging mit ausgestreckter Hand auf Hans Rudner zu.

Fränze aber brach das Schweigen … Dieselbe unwiderstehliche Neugier, die sie als Kind veranlaßte, jegliches Spielzeug auseinanderzunehmen, um zu sehen, was darin sei, trieb sie zu fragen: »Haben Sie … die da lieb?« Hans Rudner sah sich um, als erwache er aus einem Traum: »Ich habe es bisher nicht gewußt … Aber als du … als Sie dort standen, wurde es mir klar, daß alles anders war … Ja … Das Märchen ist aus. Marylka ist die Wirklichkeit …«

Lächelnd fiel Albert Vogt ein: »Mein kleines Märchen ist so schrecklich eitel. Wenn Sie jetzt sagen, daß die Wirklichkeit viel tausendmal besser ist, liegt sie die ganze Nacht wach, und dann hat sie morgen Kopfweh und wird auf der Reise krank.«

 

Sie waren fort. Hans Rudner sah sie über die Heide von dannen wandern. Die roten und gelben Blumen auf Fränzes Hut schimmerten in der Sonne. Unwillkürlich griff er nach der Flöte und begann eine neue Melodie zu blasen, die ihm zum erstenmal einfiel. Sie wandten sich um und winkten ihm zu. Er fuhr fort zu blasen. Er blies, während er um die Hütte herumging, um nach Marylka zu suchen. Sie war nicht da. Er sah über die Heide hinaus. Von Osten her kamen schwere, gewitterschwangere Wolken langsam heraufgezogen. Von Westen her trieben die Sonnenuntergangswolken über den Himmel dahin, der jetzt wie ein flammender Purpur war.

Plötzlich schleuderte er die Flöte von sich und stürmte an den Strand hinab. Marylka lag da, den Kopf in einen Tanghaufen vergraben. An dem Zittern des Körpers sah er das heftige Schluchzen, das sie durchbebte.

Hans Rudner kniete nieder und flüsterte ihren Namen.


 << zurück weiter >>