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Sechsundvierzigstes Kapitel.

In welchem sich unser Held darauf gefaßt macht, gehangen zu werden.


Joey bedauerte es nicht, wieder allein zu sein, denn zum erstenmale fühlte er, daß ihm Marys Entfernung eine Erleichterung gab. Er war über die sonderbare Entdeckung fast eben so verwirrt, wie die arme Mary: sein Vater ein großer Landbesitzer, einer der ersten Männer in der Gegend, in die besten Gesellschaften eingeführt und allgemein geachtet! Seine Mutter, wie er längst aus Marys Briefen wußte, gefeiert, gesucht, geliebt und bewundert! Wenn er schon als Kind den Entschluß gefaßt oder sozusagen das Versprechen gegeben hatte, die Last des Verbrechens auf die eigenen Schultern zu laden und seinen Vater in den demütigen Verhältnissen eines Wilderers zu schützen, um wie viel mehr war es nicht jetzt seine Pflicht, da derselbe, seit er so hoch gestiegen war, nur um so schwerer fallen, seine Schande und Schmach nur um so bitterer empfinden mußte!

»Nein, nein«, dachte Joey, »wollte ich ihn jetzt preisgeben und ihn der That beschuldigen, die ihn aufs Schaffot bringen würde, so hielte man mich nicht nur für seinen Mörder, sondern könnte mir auch nachsagen, ich hätte so gehandelt, um seine Besitzungen zu erben; man würde mich als einen Menschen betrachten, der aus Gier nach dem väterlichen Vermögen den Vater geopfert hat. Man würde mich verabscheuen, verdientermaßen verachten, und die Schande, daß mein Vater gehangen worden, erschiene als eine Kleinigkeit gegen den Vorwurf, daß der Sohn seinen Erzeuger dem Galgen überantwortete. Ich bin jetzt doppelt verpflichtet, meinem Entschlusse treu zu bleiben, mag da kommen, was da will, das Geheimnis soll mit mir sterben.«

Und Joey schlief in jener Nacht gesund.

Des andern Morgens kam Mr. Trevor in die Zelle.

»Ihre Schwester ist bei mir gewesen, Rushbrook«, begann er, »und auf ihr Gesuch komme ich, um Ihnen meinen kräftigsten Beistand anzubieten. Sie ist, wie ich höre, seitdem hier gewesen, und ich zweifle nicht, daß sie Ihnen gesagt hat, Sie dürften vor Ihrem Advokaten kein Geheimnis haben. Ihr Rechtsfreund ist in diesem Falle Ihr wahrer Freund; er hat die Verpflichtung, das, was ihm anvertraut wird, geheim zu halten, und wenn Sie mir erklärten, daß Sie des Mordes schuldig seien, so würde mich schon dieses Vertrauen allein bewegen, Ihre Verteidigung nur um so angelegentlicher zu übernehmen. Ich habe hier alle bei der Leichenschau abgelegten Zeugnisse und das gegen Sie ausgesprochene Verdikt; sagen Sie mir ehrlich, wie die ganze Geschichte zuging, und dann werde ich im stande sein, das Verdikt zu entkräften, da die Jury von dem wahren Verlaufe durchaus keine Kunde hatte.«

»Sie sind sehr gütig, Sir, aber ich darf nicht einmal gegen Sie mehr sagen, als daß ich bei meinem Ehrenworte versichern kann, ich bin unschuldig.«

»Aber so teilen Sie mir doch mit, wie es zuging!«

»Ich habe nichts weiter zu sagen und will mich auch auf nichts mehr einlassen, obschon ich Ihnen für Ihre Bemühung sehr verbunden bin.«

»Das ist höchst sonderbar. Die Zeugenaussagen sprechen stark gegen Sie – hat es mit denselben seine Richtigkeit?«

»Die Leute haben den Fall, wie er ihnen erschien, nach bestem Wissen beurkundet.«

»Und doch sind Sie nicht schuldig?«

»Ich bin's nicht; indessen werde ich mich darauf beschränken, meine Unschuld zu beteuern, und mein Schicksal der Jury überlassen.«

»Sind Sie von Sinnen? Ihre Schwester ist ein liebenswürdiges junges Frauenzimmer und hat mir großes Interesse eingeflößt; doch, wenn Sie unschuldig sind, so werfen Sie Ihr Leben geradezu weg!«

»Ich thue meine Pflicht, Sir; was Sie auch immer von meinem Betragen denken mögen, das Geheimnis stirbt mit mir.«

»Und für wen wollen Sie sich in dieser Weise opfern, wenn Sie – wie Sie behaupten und Ihre Schwester beteuert – nicht schuldig sind?«

Joey gab keine Antwort, sondern setzte sich auf die Bettstelle.

»Wenn das Verbrechen nicht durch Sie verübt wurde, wer könnte sonst der Thäter sein?« drängte Mr. Trevor. »Wenn Sie mir hierauf nicht antworten, will ich nichts mit Ihrer Verteidigung zu thun haben.«

»Sie sagten eben«, entgegnete Joey, »Sie wollten mich verteidigen, selbst wenn ich mich des Mordes schuldig erkläre, wollen aber nichts von mir wissen, weil ich mich für unschuldig erkläre und den Schuldigen nicht nennen mag. Ich finde das nicht sehr konsequent.«

»Ich muß Ihr Vertrauen haben, mein guter Freund!«

»Ich kann Ihnen unter keinen Umständen mehr schenken, als Sie bereits besitzen. Ich habe Sie nicht aufgefordert, mich zu verteidigen, und verlange überhaupt auch gar nicht, verteidigt zu werden.«

»Sie wünschen also, gehangen zu werden?«

»Nein, das nicht; aber ehe ich etwas verrate, will ich's lieber darauf ankommen lassen.«

»Das ist sehr sonderbar«, sagte Mr. Trevor und fuhr dann nach einer Pause fort: »Ich bemerke, man nimmt an, Sie hätten diesen Menschen, den Byres, getötet, als niemand anders zugegen war; man wußte, daß Sie mit Ihres Vaters Gewehr auszugehen pflegten, und des Försters Zeugnis bewies, daß Sie wilderten. Nun, das Zeugnis eines absichtlichen Mordes von Ihrer Seite ist nicht vorhanden; unmöglich erscheint es daher nicht, daß das Gewehr durch einen Zufall losging und daß Sie, erschrocken über das Vorgefallene, denn Sie waren damals noch ein Kind, aus Furcht davon gelaufen sind. Ich meine, auf diesem Wege ließe sich Ihre Verteidigung einleiten.«

»Ich feuerte überhaupt gar nicht auf den Mann«, sagte Joey.

»Aber wer schoß dann das Gewehr ab?« fragte Mr. Trevor.

Joey gab keine Antwort.

»Rushbrook«, fuhr Mr. Trevor fort, »ich fürchte, ich kann Ihnen nur von geringem Nutzen sein; in der That, hätten mich die Thränen Ihrer Schwester nicht bewegt, so würde ich mich gar nicht damit befaßt haben. Ihr Betragen erscheint so abgeschmackt, daß ich es gar nicht verstehen kann. Ihre Motive sind mir unerklärbar, und ich kann nicht anders glauben, als daß Sie das Verbrechen begingen, aber sich niemand anders anvertrauen mögen, sogar demjenigen nicht, welcher Ihnen als Freund an die Seite treten will.«

»Sie mögen von mir denken, was Sie wollen«, erwiderte unser Held. »Ich kann verurteilt und sogar hingerichtet werden; aber wenn auch alles dies geschieht, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen bei meiner Seele Seligkeit beteure, daß ich unschuldig bin! Ich danke Ihnen, Sir, danke Ihnen aufrichtig für das Interesse, das Sie mir erzeigt haben, und noch mehr dafür, was Sie mir von Mary sagten; aber wenn Sie auch einen Monat hier blieben, könnten Sie nicht mehr von mir erfahren, als ich Ihnen bereits eröffnet habe.«

»Nach einem solchen Zugeständnis wäre mein längeres Verweilen nutzlos«, sagte Mr. Trevor. »Um Ihrer Schwester willen muß ich eben zusehen, was ich aus Ihrer Verteidigung machen kann.«

»Tausend Dank für Ihre Freundlichkeit, Sir, die ich wahrhaftig nicht verkenne«, versetzte Joey.

Mr. Trevor faßte dann einige Minuten das Gesicht unseres Helden scharf ins Auge: es lag eine Klarheit und Ruhe darin, welche zu Gunsten seiner Unschuld und seiner edlen Gesinnung Zeugnis ablegte. Der Rechtsgelehrte seufzte tief auf und verließ die Zelle.

Seine nun folgende Rücksprache mit Mary war nur kurz; er setzte ihr die Schwierigkeit auseinander, die aus ihres Bruders Starrsinn entsprang, erklärte jedoch zu gleicher Zeit, er wolle sein Bestes thun, um ihn zu retten.

Mary trat nach diesem Besuche alsbald den Heimweg an. In Mrs. Austins Gemache angelangt, teilte sie ihrer Gebieterin mit, daß Mr. Trevor eingewilligt habe, Joeys Verteidigung zu übernehmen und daß dieser fest entschlossen sei, sein Geheimnis nicht zu offenbaren.

»Madame«, sagte Mary nach einigem Stocken, »es ist meine Pflicht, daß ich gegen Sie nichts verhehle, und ich hoffe, Sie werden mir nicht zürnen, wenn ich Ihnen sage, daß ich entdeckt habe, was Sie vor mir geheim zu halten suchten.«

»Was hast Du entdeckt, Mary?« fragte Mrs. Austin, dem Mädchen unruhig ins Gesicht blickend.

»Daß Joey Rushbrook Ihr Sohn ist«, entgegnete Mary niederknieend und die Hand ihrer Gebieterin küssend. »Verlassen Sie sich jedoch darauf, daß Ihr Geheimnis bei mir in guten Händen ist.«

»Und wie machtest Du diese Entdeckung, Mary? Denn ich will nicht versuchen, es zu leugnen.«

Mary erzählte nun ausführlich ihr Gespräch mit Mr. Trevor. »Er fragte mich«, sagte sie, »als Joeys Schwester, ob wir keine Verwandten hätten, und ich antwortete mit Nein, so daß er also keinen Argwohn hegen kann. Ich bitte um Verzeihung, Madame, aber Joey konnte ich diese Entdeckung nicht vorenthalten; ich hatte das Versprechen, das ich Ihnen gegeben habe, ganz vergessen.«

»Und was sagte mein armes Kind?«

»Vor dem Gerichtstage wünschte er Sie nicht zu sehen; aber wenn sein Schicksal entschieden ist, möchte er wohl, daß Sie ihn besuchten. O Madame! welch' ein schmerzliches Opfer! Und doch, ich kann ihm jetzt keinen Vorwurf mehr machen, denn er erfüllt eben seine Pflicht.«

»Ich fürchte nicht so sehr für meinen Sohn, Mary, denn er ist unschuldig, und das geht über alles; aber wenn mein Mann hört, daß dem armen Kinde der Gerichtstag bevorsteht, so weiß ich nicht, was die Folge sein wird. Wenn ich nur von ihm die Kunde fern halten kann – Gott weiß, daß er genug gelitten hat. Aber was sage ich – ich rede irre.«

»O Madame, ich weiß alles und kann mich weder durch Joey noch durch Sie blenden lassen. Ich bitte um Verzeihung, Madame, aber obgleich Joey mir nicht Rede stehen wollte, so sagte ich ihm doch, daß sein Vater das Verbrechen begangen habe. Antworten Sie mir nicht, Madame, sondern bleiben Sie stumm, wie es Ihr Sohn gewesen ist, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß nicht einmal die Folter mir meinen Argwohn entringen sollte.«

»Ich vertraue Dir, Mary, und vielleicht ist die Kunde, die Du erhalten hast, vorteilhaft. Wann findet der Gerichtstag statt?«

»Ich höre, daß die Assisen morgen vormittag ihren Anfang nehmen, Madame.«

»O wie sehne ich mich, ihn mit diesen Armen zu umfangen!« rief Mrs. Austin.

»Es ist in der That eine schreckliche Heimsuchung für ein Mutterherz, Madame«, versetzte Mary; »aber doch müssen Sie harren, bis er – –«

»Ja, bis er verurteilt ist! Allmächtiger Gott, habe Erbarmen mit mir! Mary, es ist wohl besser, wenn Du nach Exeter zurückkehrst; aber Du mußt mir jeden Tag schreiben. Bleibe bei ihm und tröste ihn. Möge der Gott der Gnade das Gebet einer unglücklichen und verzweifelnden Mutter erhören! Verlaß mich jetzt. Gott behüte Dich, mein teures Mädchen, Du bist mir wahrhaftig zum Troste geworden. Verlaß mich!«


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