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Einundzwanzigstes Kapitel.

Abermals ein Wechsel des Schauplatzes. Die Verwickelung schreitet fort.


Es wird nötig sein, daß wir für eine kleine Weile die Schicksale der Eltern unseres Helden verfolgen. Als Rushbrook und Jane das Dorf Graßford verließen, wußten sie noch nicht, wo sie ihren zukünftigen Aufenthalt wählen sollten, denn Rushbrook war es nur darum zu thun, so weit als möglich von dem Orte wegzukommen, wo das Verbrechen verübt worden war. Dies ist ein Gefühl, welches stets den Schuldigen bedrängt, obgleich ihm, wie weit er auch fliehen mag, der Stachel des Gewissens und das Auge des Allwissenden allenthalben nachfolgt. Jane ging es ebenso, aber der Grund davon lag in ihrer Angst um den Gatten. Vor ihrer Abreise hatten sie ihre ganze Habe in Geld umgesetzt, und nun zogen sie weiter, bis sie in dem Westbezirke von Yorkshire anlangten, wo sie sich endlich in einem kleinen Dorfe niederließen. Die Bevölkerung war spärlich, weshalb Rushbrook leicht Beschäftigung erhielt, und es vergingen einige Monate, ehe sich etwas Bemerkenswertes zutrug.

Seit der Mordnacht hatte Rushbrook nicht wieder gewildert und von Stunde an diesem Gewerbe völlig entsagt. Seine Bekanntschaft mit dem Weidwerk wurde jedoch entdeckt, und ein Gentleman, der in der Nachbarschaft Güter besaß, stellte ihn zuerst als Forstwart, dann aber als Förster an. In diesen Verhältnissen lebte das Ehepaar ungefähr ein Jahr, und Rushbrook erfreute sich der Zufriedenheit seines Prinzipals; verhältnismäßig war auch er selbst zufrieden (denn unmöglich bleiben einem Manne, der sich eines solchen Verbrechens bewußt ist, die Stunden des Kummers und der Gewissensqual erspart), und Jane trauerte noch immer im geheimen um ihr einziges teures Kind, als der Grundherr eines Tages Rushbrook auf eine Zeitungsankündigung aufmerksam machte, die folgendermaßen lautete:

 

»Wenn Joseph Rushbrook, der früher in dem Dorfe Graßford, Grafschaft Devon, wohnte, noch am Leben ist und den Herren Pearce, James und Simpson, Nummer 14 Chancery-Lane, seinen Aufenthaltsort bekannt machen will, so wird er etwas sehr Angenehmes erfahren. Sollte er jedoch mit Tod abgegangen sein und diese Ankündigung seinen Erben zu Gesichte kommen, so werden dieselben gleichfalls aufgefordert, an gedachte Adresse die betreffende Mitteilung zu machen.«

 

»Was soll ich daraus entnehmen, Sir?« fragte Rushbrook.

»Wenn Sie die aufgeforderte Person sind, so halte ich es für sehr wahrscheinlich, daß Ihnen von irgend einem Verwandten ein Legat vermacht wurde«, versetzte Mr. S... »Sind Sie damit gemeint?«

»Ja«, erwiederte Rushbrook, die Farbe verändernd, »ich wohnte vordem in Graßford.«

»Dann werden Sie gut thun, an die genannten Herren zu schreiben und Ihren Aufenthalt anzugeben. Ich will Ihnen die Zeitung überlassen.«

»Was hältst Du davon, Jane?« fragte Rushbrook, sobald sich Mr. S... entfernt hatte.

»Ich meine, er habe da vollkommen recht«, versetzte Jane.

»Aber, Jane, Du vergissest – es könnte ein Fallstrick sein. Vielleicht hat man etwas entdeckt von – – Du weißt, was ich meine.«

»Leider, und wollte Gott, daß wir es vergessen könnten! In diesem Falle glaube ich aber nicht, daß Du etwas zu besorgen hast. Auf Deine Ergreifung ist ja kein Preis ausgesetzt, sondern nur auf die meines armen Knaben, der jetzt in der weiten Welt umherirrt, und niemand wird sich durch das Festnehmen in Unkosten versetzen, wenn nichts dabei zu gewinnen ist.«

»Du hast recht«, entgegnete Rushbrook, nachdem er eine Weile überlegt hatte; »aber ach! ich bin so gar zaghaft geworden. Ich will schreiben.«

Rushbrook schrieb und erhielt als Antwort einen Brief mit zwanzig Pfund in Banknoten nebst der Aufforderung, unverzüglich nach London zu kommen. Er leistete Folge und fand zu seinem Erstaunen, daß er der gesetzliche Erbe eines Vermögens war, welches jährlich siebentausend Pfund Renten abwarf; daran knüpfte sich die einzige Klausel, daß er als nächster Verwandter den Namen Austin annehmen müsse. Nachdem er alle Einleitungen getroffen, die von den Advokaten als nötig erachtet worden, kehrte er mit fünfhundert Pfund in der Tasche nach Yorkshire zurück, um die Kunde seiner Frau mitzuteilen; er that dies mit einer Umarmung, worauf sie in Thränen ausbrach.

»Rushbrook, glaube nicht, daß ich Dir durch diese Thränen Vorwürfe machen will, aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß Du glücklicher sein würdest, wenn uns dieses Erbe nicht zugeflossen wäre. Du kannst Dir zwar das Leben jetzt doppelt angenehm machen, aber eben deshalb wird Dir auch Joeys Abwesenheit schmerzlicher sein als je. Oder glaubst Du, Du könntest glücklicher sein?«

»Meine liebe Jane, ich habe eben so gut als Du über die Sache nachgedacht, nach reiflicher Erwägung aber gefunden, daß wir jedenfalls jetzt sicherer sind. Wer würde hinter dem Gentleman Austin, der siebentausend Pfund Jahresrenten besitzt, wohl den Wilddieb Rushbrook suchen? Wer wird es wagen, ihn anzuklagen, selbst wenn Verdacht auf ihn fiele? Ich bin überzeugt, daß man mir in einer andern Grafschaft, unter einem andern Namen und in einer andern Stellung nichts anhaben wird.«

»Aber unser armer Knabe, wenn er je wieder zurückkommt – –«

»Wird gleichfalls vergessen sein. Er ist dann zum Manne geworden, trägt einen anderen Namen und wird nicht mehr erkannt werden. Man wird nicht einmal wissen, wie wir früher hießen.«

»Gebe Gott, daß es so komme, wie Du sagst! Was gedenkst Du aber jetzt zu thun?«

»Ich werde sagen, es sei mir ein Erbe von vier- oder fünfhundert Pfunden zugefallen, und ich wolle jetzt nach London übersiedeln«, versetzte Rushbrook.

»Ja, so wird's gut sein. Es giebt einen passenden Vorwand, dieses Dorf zu verlassen, und doch keinen Schlüssel zu unseren weiteren Schritten«, entgegnete Jane.

Rushbrook gab seine Stelle auf, verkaufte seine Möbel und verließ Yorkshire. Einige Wochen später bezog er sein neues Eigentum, ein prächtiges Herrenhaus, das in Dorsetshire gelegen war. Das Gerücht hatte sie bereits angemeldet; die einen sagten, der Erbe sei ein gemeiner Tagelöhner, andere machten ihn zu einem Mann von mäßigen Mitteln, und wie gewöhnlich wurde diesen beiden Angaben durch eine dritte widersprochen, welche den neuen Eigentümer zu einem Halbsoldleutnant beförderte. Es war Rushbrook gelungen, selbst den Sachwalter der Hinterlassenschaft über seine wirkliche bürgerliche Stellung im unklaren zu lassen, indem er angab, er habe von der Armee seinen Abschied genommen und beziehe von der Regierung Pension. Da nun einige der besten Familien in der Gegend bei diesem Geschäftsmanne Nachricht über die neuen Ankömmlinge einholten, um sich zu überzeugen, ob es auch Leute seien, die man besuchen könne, so fand das dritte der oben erwähnten Gerüchte allgemein Glauben. Wir haben bereits bemerkt, das Rushbrook ein schöner, großer Mann war, und wenn irgend eine niedrige Volksklasse sich besonders dazu eignet, erfolgreich in eine höhere Stellung verpflanzt zu werden, so ist dies bei Leuten der Fall, welche in der Armee gedient haben. Die gebückte Haltung bekundet den gemeinen Mann, die aufrechte den Gentleman. Die letztere ist bei der Armee eine notwendige Folge der Zucht und entspricht im Einklange mit guter Kleidung allen Anforderungen, so weit bloß die äußere Persönlichkeit in Betracht kommt. Wenn daher die Nachbarn Mr. und Mrs. Austin besuchten, nahm es sie nicht wunder, einen aufrechten, militärisch aussehenden Mann zu finden, wohl aber überraschte sie die schöne, sogar elegant aussehende Frau, welche sich anfangs nur ganz schüchtern benahm. Indes hatte Jane hinreichend Takt, gehörig acht zu geben und es anderen nachzuthun; ehe sie daher viele Monate in ihrer neuen Stellung verbrachte, würde man kaum geglaubt haben, daß Mrs. Austin in einer niedrigeren Sphäre geboren sei, als die war, in welcher sie sich jetzt bewegte. Austin war, wie früher, rauh und abgebrochen in seinem Wesen, zeigte aber dabei stets eine gewisse Zurückhaltung, die allerdings Folge einer inneren Scheu war, aber doch viel dazu beitrug, den Stempel der Gemeinheit zu verwischen. Zurückhaltende Leute werden selten als ungentlemanisch betrachtet, wie unliebenswürdig man auch derartige Charaktere finden mag, und nur allzu große Vertraulichkeit wird im allgemeinen für ein Kennzeichen schlechter Erziehung genommen.

Austin wurde daher geachtet, wenn auch nicht geliebt, während dagegen Jane, deren Schönheit jetzt durch Beihilfe des Putzes gehoben wurde und deren Antlitz durch die fortwährende, innere Trauer um den verlorenen Sohn einen Zug von sinnigem Ernste erhielt, verdientermaßen gleich geschätzt und geehrt wurde. Natürlich ging die Rede, Austin sei ein rauher Ehemann, und man bemitleidete die arme Mrs. Austin; dies ist aber immer der Fall, wenn eine Frau nicht zur Fröhlichkeit hinneigt.

Austin vergnügte sich auf seinen ausgedehnten Jagdgründen und hielt große Stücke auf einen schönen Wildstand. Nur inbetreff eines Punktes konnten sich seine Nachbarn nicht genug wundern: daß er nämlich, obgleich er ein tüchtiger Nimrod war, sich nie bewegen ließ, einen Wilddieb der Bestrafung zu überantworten. Man vertraute ihm auch das Amt eines Friedensrichters an, und da er in seinen Subskriptionen sehr freigebig war, so betrachtete man ihn als eine höchst wertvolle Erwerbung für die Grafschaft.

Seine Gattin wurde häufig eingeladen, aber man bemerkte unabänderlich, daß ihr Thränen in die Augen traten, so oft auf Kinder die Rede kam. Ehe sie sich noch ein Jahr in ihrer neuen Stellung befanden, hatte sie sich den nötigen Takt und die erforderlichen Kenntnisse angeeignet; sie hatten ihr Hauswesen aufs schönste eingerichtet, empfingen und erwiderten die Besuche der benachbarten Aristokratie und Gentry – kurz, sie waren so geachtet, als sie nur wünschen konnten. Aber fühlten sie sich dabei glücklich? Leider nein. Diejenigen, welche Austin um seine Güter beneideten, ließen sich wenig träumen, welche schwere Last seine Seele bedrückte – welcher verzehrende Kummer an seinem Leben fraß. Niemand konnte ahnen, wie gerne er auf alles verzichtet haben würde, wie bereitwillig er in seine dürftigen Verhältnisse und nach dem Dörfchen Graßford zurückgekehrt wäre, hätte er die schwarze That, die er begangen, von seinem Gewissen abwälzen und wieder einmal den Sohn an seiner Seite haben können. Und dann die arme Jane – ihre Gedanken beschäftigten sich Tag und Nacht nur mit einem Gegenstande – wo war ihr Kind? Die Nacht brachte ihr keine Ruhe, und stundenlang konnte sie während des Tages über ihrem herben Schicksale brüten. An den Orten des Frohsinns und der Heiterkeit, in ihren glücklichsten Augenblicken schrak sie zusammen – ein unablässiger Alp lastete auf ihr, und sie konnte ihres Lebens nicht froh werden. Um ihren Gatten war sie weniger bekümmert, denn sie wußte, wie zerknirscht er über die begangene Missethat war, wie bitter er sie seither immer bereut hatte und wie sie unablässig an seinem Leibe zehrte – ein Wurm, der nicht stirbt, sondern sich tiefer und tiefer einfrißt bis zur Stunde des Todes. Aber ihr Sohn – ihr edler, aufopferungsvoller kleiner Joey! Er und sein Schicksal, dies war der beständige Gegenstand ihrer Gedanken, und gerne würde sie ihren ganzen Reichtum mit dem Bettelstabe vertauscht haben, wenn sie nur das Kind als Führer zur Seite gehabt hätte. Und doch hieß es in der ganzen Grafschaft: Wie glücklich und zufrieden müssen die Austin's sein – man denke nur den so plötzlich erworbenen großen Reichtum! Doch Gott allein kennt die Geheimnisse der Menschenherzen.


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