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Sechstes Kapitel.

»Die Welt liegt vor dir, darfst nur wählen!«.


Ohne Zweifel sind viele unserer Leser auf Reisen hin und wieder an eine Stelle gekommen, wo sich der Weg gabelförmig teilte und sie, der nötigen Ortskenntnis entbehrend, nicht wußten, welche Richtung sie einschlagen sollten. Dies ist ein Fall, der sich auch oft in Romanen zuträgt, und auch wir stehen jetzt an einem solchen Scheidewege. Die Frage lautet: sollen wir dem kleinen Joey folgen oder dessen Eltern? Wir glauben, daß man bei einer derartigen Wegspaltung in der Regel den breitesten wählt, weil man ihn für eine Fortsetzung der Landstraße hält. Wir richten uns nach demselben Grundsatze, und da der Held unserer Geschichte von weit größerer Wichtigkeit ist als die Nebencharaktere, so folgen wir dem Schicksale des kleinen Joey.

Sobald er das Gewehr an einer Stelle abgeworfen hatte, wo es von einem Vorübergehenden leicht aufgefunden werden konnte, eilte er der Landstraße zu, auf welcher er so hurtig als möglich weiter ging; auch war es noch nicht einmal Tag, als er sich bereits zehn Meilen von seinem Geburtsorte befand. Mit dem Grauen des Morgens verließ er die Landstraße und schlug die Feldwege ein, dabei stets eine parallele Richtung verfolgend, um immer weiter von der Heimat abzukommen. Erst nachdem er fünfzehn Meilen zurückgelegt hatte, fühlte er sich so ermattet, daß er sich niedersetzen mußte, um sich ein wenig zu erholen.

Von dem Augenblicke an, da er das Elternhaus verließ, hatte sich Joey mit einer einzigen, ausschließlichen Idee beschäftigt; er wollte nämlich durch seine Entweichung den Verdacht von seinem Vater ablenken und zugleich sich der Verfolgung entziehen; nun er aber diesen Zweck erreicht und sich gewissermaßen sicher gestellt hatte, bedrängten andere Gedanken seinen Geist. Zuvörderst glitten die Auftritte der letzten paar Stunden in rascher Reihenfolge an ihm vorüber – er dachte an den toten Mann und betrachtete seine Hand, um sich zu überzeugen, ob auch alle Blutspuren entfernt wären; dann trat ihm der Zustand seiner Mutter, als er seine Hütte verließ, vor die Seele, und die Erinnerung daran erpreßte ihm bittere Thränen. Endlich stellte er Betrachtungen über seine eigene Lage an: Was sollte er thun – wie konnte sich ein zwölfjähriger Knabe, der in die Welt hinausgestoßen worden war, fortbringen? Dies führte ihm den Umstand ins Gedächtnis, daß ihm seine Mutter Geld gegeben hatte; er steckte die Hand in die Tasche und überzählte seinen Reichtum. Dieser bestand aus einem Pfund und sechzehn Schillingen in Silber – für ihn eine große Summe. Sobald er ruhiger wurde, begann er seine weiteren Schritte zu erwägen; wohin sollte er sich wenden? Nach London. Er wußte freilich, daß dies ein weiter Weg war; aber je weiter von der Heimat, desto besser für ihn. Außerdem hatte er viel von London erzählen hören, namentlich, daß dort jedermann Beschäftigung finden könne. Er nahm sich daher vor, nach London zu gehen; bisher war er auf dem rechten Wege gewesen, und sobald er mit sich einig war, stand er auf und pilgerte weiter. Freilich durfte er sich die nächsten paar Tage nicht auf der Landstraße blicken lassen, und er fühlte sich nicht wenig verlegen, wie er es wohl angreifen sollte, um sich Lebensmittel zu verschaffen, die ihm bereits jetzt schon sehr gelegen gekommen wären; und außerdem, was für Auskunft sollte er von sich geben, wenn er befragt wurde? Solcher Beschaffenheit waren die Gedanken unseres kleinen Helden, während er seinen Weg verfolgte, bis er zu einem Flusse kam, und da das reißende, tiefe Wasser ein Hinüberwaten nicht rätlich erscheinen ließ, so sah er sich genötigt, nach der Landstraße umzubiegen und zu seinem Übergange sich der Brücke zu bedienen. Ehe er über die niedrige, steinerne Böschung kletterte, blickte er umher, und da er niemand bemerkte, so sprang er in den Fußweg und wanderte der Brücke zu, wo er plötzlich eines alten Weibes mit einem Korbe voll brauner Kuchen ansichtig wurde, die wie Pfefferkuchen aussahen. Überrascht und kaum wissend, was er sagen sollte, fragte er, ob nicht ein Kärrnerfuhrwerk des Weges gekommen sei.

»Ja, Kind, aber es ist schon um eine gute Meile voraus«, sagte die Alte; »Du mußt daher hurtig gehen, wenn Du es noch einholen willst.«

»Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin hungrig; verkauft Ihr von Euren Kuchen?«

»Ja, mein Kind; für was sollte ich sie sonst machen? Drei für einen Penny – 's ist wohlfeil genug.«

Joey tastete in seiner Tasche, bis er ein Sechspencestück gefunden hatte, zog es heraus und verlangte von der alten Frau, sie solle ihm Kuchen dafür geben; dann nahm er die Ware unter den Arm und lief, so schnell er konnte, von hinnen. Sobald er das Weib aus den Augen verloren hatte, machte er sich wieder in die Felder und verzehrte unter einem Busche die Hälfte seines Vorrates. Dann setzte er seine Reise bis gegen ein Uhr fort, um welche Zeit er, erschöpft von der Anstrengung, seine Kuchen vollends verzehrte und sich zum schlafen unter eine Getreidefehme legte; er hatte jetzt einen Weg von zwanzig Meilen hinter sich. In der Hast seiner Flucht und bei den vielen Gedanken, welche sein Gehirn beschäftigten, hatte Joey gar nicht an den Weg gedacht, sonst würde er sich wahrscheinlich einen sichereren Schutz als die Leeseite eines Garbenhaufens ausersehen haben. Er hatte noch keine Stunde geschlafen, als der Wind umschlug und es zu schneien begann; demungeachtet schlief er fort und würde wahrscheinlich nie wieder erwacht sein, wenn nicht ein Schäfer mit seinem Hunde des Weges und zufälligerweise dicht an der Fehme vorbeigekommen wäre. Joey war schon mit einer halbzolldicken Schneeschicht bedeckt, und der Schäfer würde wohl, ohne ihn zu bemerken, vorbeigewandert sein, hätte ihn nicht der Hund durch das Scharren seiner Pfoten wieder bloßgelegt. Nicht ohne Mühe gelang es dem Manne, unseren Helden aus seiner Erstarrung zu wecken; halb tragend, halb schleppend brachte er ihn über etliche Felder, bis sie vor einer Dorfschmiede anlangten, und erst jetzt ließ sich von Joey sagen, daß er wieder zur Besinnung gekommen war. Hätte er noch ein paar Stunden länger geschlafen, so wären wir wohl der Mühe überhoben gewesen, unserem Leser die Geschichte unseres kleinen Helden mitzuteilen.

Er wurde an die Esse geschleppt, deren Feuer unter dem Blasebalge hoch aufspritzte, und der Einfluß der Wärme rief ihn bald wieder völlig ins Bewußtsein. Nun wurden ihm Fragen über seine Person und seine Heimat vorgelegt, welche er in der Weise beantwortete, wie er sich's zuvor ausgedacht hatte. Sein Vater und seine Mutter waren ihm nun eine weite Wegstrecke voraus; er wollte nach London gehen, war aber müde geworden und unter der Fehme eingeschlafen; dabei bat er, man möchte ihn doch unverweilt ziehen lassen, weil er sonst seine Eltern nicht wieder zu finden wisse.

»Ah, sie sind Dir also vorangegangen?« versetzte der Schäfer. »Nun, Du wirst sie ohne Zweifel einholen.«

Die Frau des Schmiedes, welche Zeuge des Auftrittes gewesen, brachte etwas warmes Ale herein, womit sich Joey völlig wieder zu Kräften half. Inzwischen fuhr ein Frachtwagen vor der Thür an und machte an der Esse Halt.

»Ich brauche ein Hufeisen für meine alte Mähre, guter Freund«, sprach der Fuhrmann. »Währt's lange?«

»Keine fünf Minuten«, versetzte der Schmied. »Ihr geht nach London?«

»Ja.«

»Da ist ein armer Knabe, den seine Eltern irgendwo zurückgelassen haben. Ihr macht Euch wohl nichts daraus, ihn auf Euren Wagen zu nehmen?«

»Weiß nicht; schätze wohl, die Bezahlung werde ich mir in der andern Welt holen müssen?«

»Wenn Ihr sie verdient, wird sie gewiß genug sein«, bemerkte der Schmied.

»Nun, ich denke, 's wird meinen Rossen nicht darauf ankommen«, versetzte der Fuhrmann, Joey ansehend. »Komm nur mit, Bürschlein – kannst Dich oben über den Frachtgütern aufs Stroh setzen.«

»Komm zuerst zu mir herein, Kind«, sagte das Weib des Schmiedes; »Du mußt ein bischen kräftigere Kost mit auf den Weg nehmen. Während Du den Huf beschlägst, John, will ich für den Knaben Sorge tragen.«

Die Frau setzte Joey einen Teller mit übrig gebliebenen Kalbsknöchelchen vor, und unser Held begann ohne Zögerung seine Arbeit.

»Hast Du auch Geld?« fragte die Frau.

Joey, welcher glaubte, man erwartete von ihm Bezahlung, antwortete, als er einen Schilling aus seiner Tasche zog und ihn auf den Tisch legte:

»Ja Madam, so viel hab' ich.«

»Gott behüte, Junge, für was hältst Du mich, daß Du meinst, ich werde von Dir Geld annehmen? Du hast noch einen weiten Weg nach London, obgleich es Dir so gut geworden ist, eine Fahrgelegenheit zu finden. Weißt Du auch, wo Du hingehen mußt, wenn Du dort anlangst?«

»Ja, Madam«, versetzte Joey, »ich hoffe Arbeit in den Ställen zu kriegen.«

»Nun ja, das könnte geschehen. Inzwischen aber wirst Du gut thun, Deinen Schilling zu sparen. Ich will sehen, ob ich nichts finde, um dieses Fleisch und Brot für Dich einzuwickeln, daß Du es unterwegs verzehren kannst. Bist Du jetzt wieder ganz warm?«

»Ja, ich danke, Madam.«

Joey hatte nun aufgehört zu essen und wärmte sich abermals vor dem Feuer. Nach kurzer Frist verabschiedete er sich jedoch unter herzlichem Danke von den menschenfreundlichen Leuten und begrub sich im Stroh unter der Plane des Wagens, während die gutherzige Schmiedsfrau ihm seine Lebensmittel an die Seite legte. Dann setzten sich die Pferde unter dem klingenden Schalle ihrer Glocken langsam und stetig in Bewegung. Joey, der sich wieder ganz erholt hatte, nistete sich in dem Stroh ein und wünschte sich Glück, daß er nunmehr wohlbehalten nach London kommen konnte, ohne weitere Verhöre bestehen zu müssen. Und so war's auch wirklich der Fall. Nach drei Tagen und drei Nächten befand er sich, ohne weitere Abenteuer und ehe er sich's versah, abends zwischen acht und neun Uhr in der Oxfordstraße.

»Weißt Du jetzt Deine Wege, Knabe?« fragte der Fuhrmann.

»Ich kann mich durch Fragen zurechtfinden«, versetzte Joey, »sobald ich zu einem Lichte komme, um die Adresse lesen zu können. Lebt wohl, ich danke Euch«, fügte er bei, herzlich froh, endlich aller weitern Fragen überhoben zu sein.

Der Fuhrmann drückte ihm, als sie vor dem Schloß und Bären vorbei kamen, zum Abschiede die Hand, und unser Held befand sich jetzt in der riesigen Hauptstadt allein.

Was nun anfangen? Er wußte es kaum – nur ein Gedanke wurde ihm klar, daß er nämlich eine Nachtherberge aufsuchen mußte. Er wanderte eine Zeitlang die Oxfordstraße auf und ab, aber die Leute gingen so schnell, daß er sich scheute, sie anzureden, bis endlich ein kleines Mädchen von sieben bis acht Jahren an ihm vorbei kam und ihm aufmerksam ins Gesicht sah.

»Kannst Du mir nicht sagen, wo ich ein Bett für die Nacht kriegen kann?« fragte sie Joey.

»Hast Du Nägel?« lautete die Antwort.

»Was meinst Du damit?« entgegnete Joey.

»Natürlich Geld! ei, Du bist auch gar zu grün.«

»Ja, ich habe einen Schilling.«

»Das reicht – komm mit mir; Du sollst bei mir schlafen.«

Joey folgte ihr in aller Unschuld und freute sich sehr über sein gutes Glück. Sie führte ihn in eine Nebengasse von Tottenham-Court-road, die nicht durch Lampen erleuchtet war – indes waren die Häuser groß und viele Stockwerke hoch.

»Nimm meine Hand«, sagte das Mädchen, »und gieb beim Auftreten acht!«

Von seiner neuen Begleiterin geführt, gelangte Joey vor eine weit offene Thüre; sie traten ein und stiegen auf einer dunkeln Treppe nach dem zweiten Stock hinauf. Sie öffnete eine Kammerthüre, wo Joey ungefähr zwanzig andere Kinder von so ziemlich gleichem Alter, Knaben und Mädchen untereinander, fand. Das Gemach war sehr geräumig; auf dem Boden lagen mehrere Betten umher. In der Mitte kauerten acht oder zehn der Insassen um ein Talglicht herum und sahen zweien von ihren Kameraden zu, welche mit einem Paket schmutziger Karten spielten; andere lagen umher oder schliefen auf den Betten.

»Dies ist mein Lager«, sagte das Mädchen; »wenn Du müde bist, kannst Du gleich hineinkriechen, ich gehe noch nicht zu Bette.«

Da sich Joey sehr ermattet fühlte, so ging er zu Bette; es war zwar nicht sonderlich rein, aber doch hatte er sich in der letzten Zeit an noch schlechtere Quartiere gewöhnen müssen. Ich brauche kaum zu bemerken, daß Joey in sehr üble Gesellschaft geraten war, denn die sämtliche Bevölkerung der Kammer bestand aus jugendlichen Dieben, die so lange in ihrem Gewerbe nach Beförderung trachteten, bis sie endlich nach Botany-Bay geschickt wurden. Es waren allerdings schon Versuche gemacht worden, diesen Pflanzstätten des Lasters Einhalt zu thun; indes leisteten gewisse philanthropische Personen einer derartigen barbarischen Neuerung Widerstand, und dem mosaischen Grundsatze gemäß, daß man das Zickelchen nicht in der Milch seiner Mutter sieden solle, erhielt die junge Brut Schutz. Man ließ sie rettungslos verwildern und zur vollen Zeitigung kommen, bis sie reif für die gesetzlichen Strafen waren.

Joey schlief ganz trefflich, und als er des anderen Morgens erwachte, fand er, daß seine kleine Freundin nicht mehr zugegen war. Beim Ankleiden machte er die weitere Entdeckung, daß sein Geld bis auf den letzten Heller Flügel bekommen hatte. Er wagte es, bei ein paar Knaben, welche angekleidet auf anderen Betten lagen, über diese unangenehme Thatsache sich zu beklagen; diese lachten ihn jedoch aus, nannten ihn einen Grünschnabel und bedienten sich noch anderer Ausdrücke, aus denen Joey mit einem Male erkannte, in welcher Gesellschaft er die Nacht zugebracht hatte. Nach einigem Wortwechsel warfen ihn drei oder vier zur Kammer hinaus, und Joey befand sich mit leerem Magen, ohne einen Heller in der Tasche, auf offener Straße.

Wie klein auch in Vergleichung mit dem Ganzen, giebt es doch keinen Teil der Welt, in welchem man mehr zu essen und zu trinken, gemächlichere Wohnungen oder eine größere Fülle von Bequemlichkeiten aller Art findet, als in der Hauptstadt von England, vorausgesetzt, daß man die Mittel besitzt, sich dieselben zu verschaffen; aber ungeachtet dieses Überflusses an allem wird es wohl an keinem Orte schwerer, seinen Anteil an Lebensbedürfnissen abzukriegen, wenn man zufälligerweise mit einem leeren Beutel geplagt ist.

Joey trat da und dort in einen Laden, um Beschäftigung zu suchen, wurde aber überall abgewiesen. In dieser Weise verbrachte er den ersten Tag, und als die Nacht einbrach, legte er sich hungrig und ermattet auf die steinernen Treppen eines Portikus, um zu schlafen. Am andern Morgen erwachte er, schaudernd von Frost und fast vor Hunger aufgerieben. Er bettelte in den Hofräumen um etwas Speise, aber niemand zeigte sich willfährig. An einem Brunnen holte er sich einen Trunk Wasser. Das war alles, was er bekommen konnte, denn es kostete nichts. Wieder verging ihm ein Tag, ohne daß er einen Bissen über die Lippen brachte, und in der Nacht suchte der arme Knabe Schutz vor der Thüre eines reichen Mannes in Berkeley-Square.


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