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Vierunddreißigstes Kapitel.

Ist sehr lang, aber nötig für den Zusammenhang des Ganzen.


Da es diesen Abend schon spät war, so öffnete Joey das von Spikeman erhaltene Paket erst am andern Morgen. Er stand sehr früh auf, denn er fürchtete aufgegriffen zu werden, wenn er sich nicht beizeiten aus dem Staube machte. Das Paket enthielt einen Schlüssel, zwanzig Pfund Geld und ein Blatt Papier, auf welchem folgendes geschrieben stand:

 

»Mein lieber Junge!

»Wir müssen uns, wenigstens vorderhand, für eine Weile trennen. Ich habe Dir hinreichend Geld gelassen, damit Du Dich für die nächste Zeit durchbringen kannst, auch ein Blatt beigeschlossen, vermittelst dessen ich Dir den Schleiferkarren wie auch alles Hausgeräte, Bücher und dergleichen, kurz, was ich in meiner Wohnung zu Dudstone besitze, übertrage; den Schlüssel zu meinem Zimmer habe ich ebenfalls beigefügt. Ich rate Dir, an Ort und Stelle zu gehen und alsbald Besitz zu nehmen. Sobald ich Zeit habe, werde ich an die Hauswirtin schreiben und sie von meiner Verfügung in Kenntnis setzen; auch Du sollst einen Brief erhalten und erfahren, wie es mir geht. Natürlich kannst Du jetzt nach Gutdünken Dein Fortkommen suchen; jedenfalls habe ich Dich ein Handwerk gelehrt und Dir die Mittel gegeben, es fortzusetzen. Bleibst Du dabei, so wünsche ich nur, daß Du Dich seiner Zeit so erfolgreich vom Geschäft zurückziehen mögest, als ich es gethan habe. Wenn Du weißt, wo ich mich aufhalte, wirst Du mir hin und wieder schreiben. Verlaß Dich darauf, es steht keine Profession der eines Gentleman so nahe, als die eines wandernden Kesselflickers. Dein aufrichtiger

Augustus Spikeman.

N. S.

Ich habe noch etwas Geld zurückgelassen, von dem Du die in dem Bauernhause aufgelaufene Rechnung bezahlen magst.«

 

Unser Held wußte nichts besseres zu thun als Spikemans Rat zu befolgen. Er schrieb zuerst ein paar Zeilen an Mary, in welchem er sie aufforderte, sie möchte ihre Antwort nach Dudstone schicken; dann rechnete er mit seiner Wirtin ab und nahm den Schleiferkarren auf, um nach Dudstone zurückzukehren, wo jetzt seine Wohnung war. Da es ihm nicht sonderlich um Geldverdienst zu thun war, so hielt er sich unterwegs nicht auf, und am fünften Tage fand er sich vor der Thür des Wirtshauses ein, wo Spikeman seinen Karren einzustellen pflegte. Joey hielt es für rätlich, dem Beispiele seines vormaligen Prinzipals zu folgen, indem er der Wirtin sagte, daß er von demselben Auftrag dazu habe. Sobald es dunkel war, begab er sich nach der Stadt und klopfte an der Thür des Hauses, wo sich Spikemans Wohnung befand. Er teilte der Hauswirtin mit, Spikeman werde wahrscheinlich nicht mehr zurückkommen und habe ihm sein Eigentum überwiesen, wobei er ihr den Schlüssel zeigte.

Die Frau war mit dieser Auskunft zufrieden und ging die Treppe hinauf. Sobald er sich ein Licht angesteckt und sich heimisch gemacht hatte, warf er sich auf das Sofa, um Erwägungen anzustellen.

Es ist gar angenehm, Eigentum zu besitzen, und Joey hatte sich dessen früher nie rühmen können. Es war so wohlthuend, die Möbel, das Bett und die Bücher ansehen und sagen zu können: »Alles das gehört mir.«

Joey fühlte dies so lebhaft, als wohl irgend einer in einer ähnlichen Lage, und konnte es gar nicht satt werden, seine Habe zu betrachten.

Nachdem er durch die äußerliche Musterung zufrieden gestellt war, schickte er sich an, die Kommoden, Kasten und dergleichen zu öffnen. Es waren da viele Artikel, welche Joey nicht zu finden erwartete, ein schöner Vorrat von Bett- und Tischzeug, Spikemans sämtliche Kleider, denen er den Abschied gegeben hatte, als er nach London ging, etliche silberne Löffel und noch viele Kleinigkeiten – kurz, Spikeman hatte unserem Helden alles übertragen, wie er es verlassen hatte. Joey verwahrte sein Geld, ging zu Bette und schlief so herrlich, wie der größte Ländereienbesitzer des Königreichs. Als er des andern Morgens erwachte, begann er zu überlegen, was er nunmehr thun sollte. Er teilte Spikemans Ansicht nicht, daß ein wandernder Kesselflicker zunächst nach dem Gentleman komme, und fand auch kein sonderliches Behagen an dem Gedanken, sein ganzes Leben über den Karren mit sich herum zu schleppen; indessen war er doch mit Spikeman einverstanden, daß es ein Gewerbe sei, vermittelst dessen er sich seinen Unterhalt verdienen könne und das ihm immer eine Zuflucht biete, wenn kein besseres Auskommen zu finden sei. Sobald er sein Frühstück eingenommen hatte, setzte er sich nieder und schrieb an Mary, welcher er alles Vorgefallene wie auch seine Absichten für die Zukunft mitteilte. Nachdem er mit seinem Briefe zustande gekommen, kleidete er sich sauber an und ging aus, um die Witwe James zu besuchen. Beide Töchter, sowohl Miß Ophelia als Miß Amelia waren zu Hause.

»Nun, Master Atherton, wie geht's Ihnen? Und wo ist Mr. Spikeman?« fragten beide Mädchen in einem Atem.

»Der ist weit von hier!« versetzte Joey.

»Weit von hier? Ei, ist er denn nicht mit Ihnen zurückgekommen?«

»Nein; und ich glaube, er wird wohl nie wieder kommen. Als sein Geschäftsträger habe ich sein Eigentum in Besitz genommen.«

»Ei, was ist denn vorgefallen?«

»Ein sehr betrübendes Ereignis«, versetzte unser Held, den Kopf schüttelnd; »er fiel – –«

»Fiel?« riefen die beiden Mädchen.

»Ja, er fiel in Liebe und ist verheiratet.«

»Der Tausend!« rief Miß Ophelia, »denke man nur!«

Miß Amelia sagte nichts.

»Ja, und hat das Geschäft aufgegeben.«

»Er schien's sehr eilig zu haben, als er das letzte Mal herkam«, bemerkte Amelia.

»Und was gedenken Sie nunmehr anzufangen?«

»Ich bin nicht willens, schon jetzt seinem Beispiele zu folgen«, versetzte Joey.

»Das will ich glauben; aber was haben Sie im Sinne?« erwiderte Ophelia.

»Ich werde hier bleiben und seine weiteren Weisungen erwarten, denn ich hoffe, in Bälde von ihm zu hören. Ob ich meinen Aufenthalt in diesem Landesteile nehme oder die Sachen verkaufe und zu ihm ziehe, vielleicht auch mich nach einem andern Geschäfte umsehe, weiß ich selbst noch nicht; vermutlich wird's auf das letztere herauskommen, denn das Eisengeschäft und das damit verbundene Reisen gefällt mir nicht. Was macht Ihre Mama, Miß Ophelia?«

»Sie befindet sich sehr wohl und ist eben auf den Markt gegangen; aber nein, das hätt' ich nimmer erwartet, von Mr. Spikemans Verheiratung hören zu müssen. Wer ist denn seine Frau, Joseph?«

»Eine sehr schöne junge Dame, eine Tochter des Squire Mathews, die ein großes Vermögen besitzt.«

»Ja, die Männer sehen heutzutage immer nach Geld«, sagte Amelia.

»Ich muß mich jetzt verabschieden«, sagte Joey aufstehend; »ich habe noch einige Besuche zu machen und Erkundigungen einzuziehen. Guten Morgen, meine Damen.«

Man muß zugeben, daß die beiden Miß James nicht ganz so herzlich gegen Joey waren, wie früher; aber unverheiratete Mädchen hören's nicht gern, wenn ihre alten Bekannten jemand anders als sie heiraten. Man hat nicht nur einen Courmacher, sondern auch eine Aussicht weniger, und es muß bemerkt werden, daß es nur sehr wenige annehmbare junge Herren zu Dudstone gab.

Unser Held befand sich schon einige Tage in dem Städtchen, ehe er von Spikeman einen Brief erhielt. Endlich schrieb derselbe und teilte ihm mit, daß er wohlbehalten in Gretna angelangt (in der That gab es keinen männlichen Verwandten, der ihn hätte verfolgen können), und daß Hymens seidene Bande durch die eisernen des Schmiedes noch mehr befestigt worden seien. Er hatte drei Tage nachher an den Vater seiner Gattin geschrieben und ihm gemeldet, er habe ihm die Ehre erwiesen, seine Tochter zu heiraten, könne übrigens nicht genau sagen, wann er Zeit finden werde, die Heimat seiner Gattin zu besuchen, obschon er nicht säumen werde, sobald es ihm gelegen sei, vorzusprechen; er bitte für ihre Ankunft ein Gemach nebst einem geräumigen Ankleidezimmer bereit zu halten, da er diese Bequemlichkeit nicht missen könne; er wisse nicht, ob Mr. Mathews geneigt sei, das Landgut zu veräußern; da jedoch seine Gattin erklärt habe, sie wolle lieber dort als an irgend einem andern Orte wohnen, so habe er nichts dagegen, es Mr. Mathews abzukaufen, wenn sie unter annehmbaren Bedingungen einig werden könnten. Er hoffe, daß es mit seiner Gicht besser gehe, und unterzeichne sich als gehorsamster Augustus Spikeman. Melissa schrieb einige Zeilen an Araminta, erbat sich's als Gunst, sie möchte nicht versuchen, ihr Betragen zu bemänteln, sondern unablässig gegen sie schmähen, da dies die sicherste Methode sei, die Angelegenheiten zu einer baldigen Ausgleichung zu bringen.

An ihren Vater richtete sie bloß folgende Worte:

 

»Mein lieber Papa!

Sie werden sich freuen, wenn Sie hören, daß ich verheiratet bin. Augustus sagt, wenn ich mich wohl halte, wolle er bald kommen und Sie besuchen. Leben Sie wohl, lieber Papa! Ihre dankbare Tochter

Melissa Spikeman

 

Man kann sich denken, daß Spikemans und Melissas Briefe den alten Herrn in nicht geringe Wut versetzten; aber nichts konnte umsichtiger sein als der Plan, den Spikeman hierbei verfolgte. Es ist vergeblich, einen Mann, der beständig durch Krankheit aufgeregt ist, mit guten Worten beschwichtigen zu wollen, denn man kann darauf zählen, daß er darauf nur um so despotischer und unnachgiebiger wird. Hätte es Araminta versucht, seine Erbitterung bekämpfen zu wollen, so wäre es gleich fruchtlos gewesen; aber ihr willfähriges Eingehen auf die Bitte ihres Bäschens, beständig gegen sie zu schmähen, hatte die beabsichtigte Wirkung. Aramintas Tadel ließ ihm nichts mehr zu sagen übrig, und er fand deshalb keinen Widerstand, gegen den er seine Verwünschungen richten konnte. Auch der beleidigende Teil schmeichelte und hofierte ihm nicht, und als endlich Araminta den alten Herrn drängte, er solle Melissa nie wieder seine Thüren öffnen, so beschuldigte er sie selbstsüchtiger Absichten, warf ihr ein Becken an den Kopf und schrieb einen Brief, in welchem er Melissa aufforderte, zu kommen und seinen Segen zu holen. Nach der gedachten Kränkung weigerte sich Araminta, ihrem Onkel weitere Pflege zu leisten, und der alte Herr sehnte sich nur noch mehr nach der Rückkehr seiner Tochter, da er nun ganz den Launen seines Gesindes überlassen war. Araminta berichtete Melissa über den Stand der Dinge und bat sie, alsbald wieder zu kommen, was denn auch geschah und eine allgemeine Versöhnung zur Folge hatte. Als Squire Mathews fand, daß sein neuer Sohn sehr gleichgültig gegen Geldangelegenheiten war, so bestand er darauf, seiner Tochter ein Gut in Herefordshire als Morgengabe zu übertragen, was das junge Ehepaar neben Melissas eigenem Vermögen in sehr angenehme Verhältnisse versetzte. Spikeman forderte Joey auf, von Zeit zu Zeit, und wenn er Beistandes bedürfe, sich unverholen an ihn zu wenden; zugleich riet er ihm aber noch immer, das Gewerbe eines wandernden Kesselflickers fortzuführen, da es das unabhängigste sei.

Unser Held hatte kaum Zeit gehabt, den Inhalt von Spikemans Brief zu verdauen, als er ein großes Paket von Mary erhielt; sie war vom Schlosse abwesend gewesen und hatte deshalb nicht früher schreiben können. Vor drei Wochen hatte man ihr nämlich in Mrs. Choppers Auftrage mitgeteilt, die gute Frau sei sehr krank und werde wohl schwerlich wieder aufkommen, da sie einen Leberabszeß habe, welcher nach innen aufzubrechen drohe; Mary werde deshalb ersucht, sich wo möglich Urlaub zu verschaffen und nach Gravesend zu kommen, da Mrs. Chopper sie noch zu sehen wünsche, ehe sie stürbe. So ungerne auch Mary wieder nach Gravesend zurückkehrte, so fühlte sie sich doch gegen Mrs. Chopper zu sehr verpflichtet, um zu zögern; sie zeigte Mrs. Austin den Brief, teilte derselben mit, Mrs. Chopper habe wie eine Mutter gegen sie gehandelt, und erhielt den nachgesuchten Urlaub, worauf sie den Weg nach Gravesend antrat.

Mit Gefühlen tiefer Scham und Zerknirschung wanderte die arme Mary durch die Hauptstraßen der Stadt, nur scheue Blicke auf die Schauplätze ihres früheren Lebens werfend. Sie war sehr einfach gekleidet und hatte einen dichten Schleier über ihr Gesicht geworfen, um von niemand erkannt zu werden. Vor Mrs. Choppers Hause angelangt, stieg sie die Treppe hinauf und befand sich wieder einmal in dem Zimmer, in dem sie zum letzten Male gewesen, als sie Gravesend verließ, um ein neues Leben anzufangen; auch weiß der Leser, wie gewissenhaft sie ihren Vorsatz zur Ausführung brachte. Mrs. Chopper lag in ihrem Bette und schlummerte, als Mary leise die Thür öffnete. Die Merkzeichen des nahenden Todes lagerten auf ihrem Gesichte – ihre runde, wohlgenährte Gestalt hatte sich ganz abgezehrt – ihre Finger waren jetzt dünn und blutlos; Mary würde sie nicht erkannt haben, wenn sie ihr unter anderen Umständen begegnet wäre. Eine alte Frau saß in dem Gemache; sie stand bei Marys Eintritte auf, weil sie meinte, es sei irgend eine menschenfreundliche Dame, welche komme, um die Kranke zu besuchen. Mary nahm an der Seite des Bettes Platz und winkte der Wärterin, sie möchte hinausgehen, worauf sie ihren Schleier erhob und wartete, bis die Leidende erwachte. Mary hatte bereits zweimal die Kerze geschneuzt, um besser in dem Gebetbuche lesen zu können, das sie neben der Kranken fand, als Mrs. Chopper endlich ihre Augen aufschlug.

»Wie gar gütig von Ihnen, Madam!« sagte Mrs. Chopper, »und wo ist Miß – –? meine Augen werden mit jedem Tage trüber.«

»Ich bin Mary – die vormalige Nancy!«

»Ah, richtig! O, Nancy, nun kann ich in Frieden hinfahren! Ich dachte anfangs, es sei die menschenfreundliche Dame, die jeden Tag kommt, um mir vorzulesen und mit mir zu beten. Liebe Nancy, wie freut es mich, Euch zu sehen! Wie geht es Euch? Und was macht der arme Peter?«

»Als ich zum letzten Male von ihm hörte, war er ganz wohl, meine liebe Mrs. Chopper.«

»Wißt Ihr auch, Nancy, daß es mir ein Trost ist, zu finden, daß Ihr so ehrbar und unschuldig ausseht? Und wenn ich bedenke, daß ich selbst ein demütiges Werkzeug wurde, Euch auf diese Wege zu bringen, so ist mir's, als habe ich noch eine gute That gethan, durch die ich vielleicht Vergebung meiner Sünden finde.«

»Gott wird es Euch lohnen, Mrs. Chopper; ich sagte es damals und muß es jetzt wiederholen«, versetzte Mary, während die Thränen über ihre Wangen träufelten. »Eurem Beistande und der Kraft von oben hoffe ich's zu verdanken, daß ich auf dem Pfade der Gerechten fortwandle und so meine sündige Seele gerettet werde.«

»Gottes Segen über Euch, Nancy! – Ihr hattet nie ein böses Herz, wie ich immer zu sagen pflegte. Und wo ist jetzt Peter?«

»Er zieht im Lande herum, um sein Brot zu verdienen; er ist zwar arm, aber doch glücklich.«

»Gut, Nancy; es wird mit mir bald vorüber sein. Die Leute sagen, es könne mit jedem Augenblicke zu Ende gehen, vielleicht aber auch noch drei oder vier Tage dauern; ich habe daher nach Euch geschickt, um mein Haus bestellen zu können. Es giebt nur zwei Leute auf Erden, für die ich Sorge trage – nämlich Ihr und mein armer Peter, und all mein Eigentum gedenke ich Euch beiden zu hinterlassen. Ich habe für den Fall, daß Ihr nicht kommen solltet, bereits ein Papier unterzeichnet, aber nun Ihr da seid, will ich Euch alles mitteilen, was ich wünsche. Reicht mir aber zuvor von jenem Tranke.«

Mary las die Signatur, nahm dann von der Arznei ein Weingläschen voll und reichte es Madame Chopper, welche es trank, dann ein Papier unter dem Kissen hervorzog und fortfuhr: »Das ist das Blatt, von dem ich gesprochen habe, Nancy. Ich besitze ungefähr siebenhundert Pfund bei der Bank – es ist alles, was ich in zweiundzwanzig Jahren erspart habe, aber ehrlich erworbenes Gut. Es steht vielleicht noch mehr aus, aber ich wünsche nicht, daß es eingezogen wird. Arme Matrosen haben kein Geld übrig, und ich will ihnen alles erlassen. Sorgt für meine Beerdigung, Nancy, und sagt dem armen Peter, wie ich ihn liebte, und daß ich ihm alle meine Schuldbücher mit den quittierten und unquittierten Rechnungen vermache. Ich bin überzeugt, er wird eine Freude daran haben, denn er kennt die Geschichte einer jeden Gesamtsumme. Er wird oft hineinsehen und dabei an mich denken. Mein Hausgeräte könnt Ihr verkaufen, aber das Bumboot müßt Ihr William lassen; er ist gerade nicht sehr ehrlich, hat aber eine große Familie zu ernähren. Mit dem, was hier ist, liebes Kind, könnt Ihr anfangen, was Ihr wollt; vielleicht sind meine Kleider seinem Weibe recht, für Euch passen sie nicht. In der oberen Kommode liegt ein hübsches Häufchen Geld; es wird zureichen, mein Leichenbegängnis und den Doktor zu bezahlen. Das ist, glaube ich, alles, was mir auf dem Herzen liegt; aber sagt dem armen Peter, wie sehr ich ihn liebte. Der arme Mensch! Ich bin immer betrogen worden, seit er fort ist, aber das ist jetzt gleichviel. Nun, liebe Nancy, lest mir ein bischen vor. Ich habe mich sehr gesehnt, Euch an meinem Bette zu haben, daß Ihr mir vorlesen und für mich beten könnt. Ich möchte Euch noch einmal hören, ehe ich sterbe. Es wird mich glücklich machen, Euer Gesicht andächtig gen Himmel blicken zu sehen, und meine letzte Stunde erleichtern.«

Die arme Mary brach in Thränen aus. Nach einer Weile faßte sie sich wieder; sie sank an der Seite des Bettes auf die Kniee nieder, öffnete das Gebetbuch und erfüllte Mrs. Choppers Wunsch. Als sie glühend ihr inniges Flehen entströmen ließ, brach ihr hin und wieder die Stimme; sie mußte innehalten, um die Thränen wegzuwischen, die ihre Augen verdunkelten. Sie war noch so beschäftigt, als die Thür des Gemaches langsam aufging und eine Dame mit einem vierzehn- oder fünfzehnjährigen Mädchen leise ins Zimmer trat. Mary bemerkte sie nicht, bis sie gleichfalls neben ihr niedergekniet waren. Sie schloß ihr Gebet, stand auf und trat mit einer leichten Verbeugung von dem Bette zurück.

Obgleich von der Dame nicht erkannt, erinnerte sich Mary doch augenblicklich an Mrs. Philipps und ihre Tochter Emma, da sie, wie wir bereits bemerkt haben, einmal, obgleich von der Frau nicht erkannt, bei derselben in Dienst gestanden hatte.

»Dies ist das junge Frauenzimmer, nach dem Ihr Euch so sehr sehntet, Mrs. Chopper, nicht wahr?« sagte Mrs. Philipps. »Ich wundere mich nicht, daß Ihr ein so großes Verlangen nach ihr truget, denn sie scheint recht wohl geeignet zu sein, Euch in einer solchen Stunde Gesellschaft zu leisten. Ach, wie wenige giebt es, die an ein Sterbebett passen! Ich bitte, setzt Euch«, fuhr Mrs. Philipps gegen Mary fort. »Wie geht es Euch heute, Mrs. Chopper?«

»Es geht schnell mit mir zu Ende, liebe Madame, aber ich bin bereit, seit ich Nancy gesehen und von meinem armen Peter gehört habe. Er hat vor einiger Zeit Nancy geschrieben. Nancy, vergeßt nicht, meinen Peter zu grüßen.«

Emma Philipps, welche nun groß und schlank geworden war, ging alsbald auf Mary zu und sprach:

»Peter war ja der kleine Knabe, der sich bei Mrs. Chopper aufhielt. Ich traf ihn an der Landstraße, als er zum ersten Male nach Gravesend kam – ist's nicht so?«

Mary antwortete bejahend.

»Er kam zuweilen in unser Haus und begleitete mich sehr oft, wenn ich von der Schule nach Hause ging. Ich konnte mir nicht vorstellen, was aus ihm wurde, denn er verschwand mit einem Male, ohne sich zu verabschieden.«

»Er mußte fortgehen, Miß. Es war nicht seine Schuld; er war ein sehr guter Knabe und ist es noch immer.«

»Dann grüßt ihn von mir und sagt ihm, daß ich oft seiner gedenke.«

»Soll geschehen, Miß Philipps, und er wird sich sehr glücklich schätzen, wenn er hört, was Sie mir aufgetragen haben.«

»Wie könnt Ihr wissen, daß ich Philipps heiße? O, vermutlich hat's Euch die arme Mrs. Chopper gesagt, ehe wir kamen?«

Mrs. Philipps las nun der Kranken vor, wodurch der Unterhaltung zwischen Mary und Emma ein Ende gemacht wurde. Sie nahmen dieselbe nicht wieder auf. Sobald das Vorlesen vorüber war, verabschiedete sich Mrs. Philipps mit ihrer Tochter. Mary schlug sich neben Mrs. Chopper ein Bett auf. Gegen Mitternacht wurde sie plötzlich durch ein gurgelndes Geräusch geweckt; sie eilte nach dem Krankenlager und fand, daß Mrs. Chopper ersticken wollte. Mary rief die alte Frau zu ihrer Hilfe herbei; aber es war fruchtlos; der Absceß hatte sich entleert, und nach einigen Sekunden war alles vorüber. Tief von Schmerz ergriffen, drückte Mary ihrer alten Freundin die Augen zu und sank auf die Kniee, um für den hingeschiedenen Geist zu beten.

Der Rest der Nacht wurde in feierlicher Betrachtung und Erneuerung jener Gelübde verbracht, die das arme Mädchen bisher so gewissenhaft gehalten hatte und welche die Sterbebettscene so sehr zu kräftigen geeignet war. Aber Mary fühlte, daß sie auch Pflichten für andere zu erfüllen hatte und gab daher nicht lange einem nutzlosen Schmerze Raum. Sie mußte sobald als möglich zu ihrer nachsichtigen Gebieterin zurückkehren und war schon des andern Morgens geschäftig, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Am dritten Tage begleitete sie die Überreste ihrer alten Freundin zu Grabe, zahlte alle Rechnungen, las sich einige Gegenstände aus, die sie als Andenken zu behalten wünschte, und beschloß sodann, nicht nur das Boot, sondern auch sämtlichen Hausrat und die Kleider der Verschiedenen dem Fährmann Williams zu überlassen. Dadurch kam der Mann in die Lage, mit seinem Weibe das Geschäft für eigene Rechnung fortzusetzen und so seine Familie zu ernähren. Mary wußte, daß sie eigentlich kein Recht hatte, ohne Joeys Einwilligung so zu handeln, an der sie jedoch nicht zweifelte. Nachdem dies alles geschehen war, wußte sie nichts mehr zu thun als den Advokaten zu besuchen, der das Testament aufgesetzt hatte und der jetzt die nötigen Formalitäten mit ihr durchmachte, worauf sie eine Anweisung auf die Austins-Hall zunächstgelegene Zahlbank erhielt und so, nebst dem, was sich in den Kommoden vorfand, nach Abzug aller an sie gemachten Anforderungen mehr als siebenhundert Pfund zusammenbrachte. Sie hielt es für ihre Pflicht, vor ihrem Abgange Mrs. Philipps zu besuchen, um ihr für ihre Freundlichkeit gegen die Hingeschiedene zu danken. Auch machte ihr der Schritt um so weniger Bedenken, da sie nicht erkannt worden war. Sie wurde freundlich aufgenommen und errötete über das ihr gespendete Lob. Als sie ging, folgte ihr Emma Philipps, gab ihr ein silbernes Bleistiftrohr und bat sie, sie möchte es Peter als ein Andenken an seine kleine Freundin Emma überbringen. Des andern Tages langte Mary im Schlosse an und teilte zuvörderst Mrs. Austin mit, was vorgefallen war. In der Zwischenzeit waren auch die zwei letzten Briefe unseres Helden eingelaufen, weshalb sie sich niedersetzte, um schriftlich alle diejenigen Nachrichten zu melden, welche der Leser bereits erfahren hat; sie schloß mit der Bitte, Joey möchte mit seinem Karren aufbrechen und nach dem bei dem Schlosse liegenden Dorfe kommen, um seinen Erbanteil, das silberne Bleistiftrohr und die warme Begrüßung seiner adoptierten Schwester in Empfang zu nehmen. Joey war nicht lange unschlüssig. Er nahm sich vor, zu Mary zu gehen, schloß sein Zimmer ab, nahm aufs neue seinen Karren auf und befand sich bald auf dem Wege nach Hampshire.


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