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Einunddreißigstes Kapitel.

In welchem die Intrigue weiter verfolgt wird.


Des andern Tages begab sich unser Held, mit dem Briefe und den nötigen Anweisungen versehen, nach dem Gebüsche in der Nähe des Herrenhauses, den Schleiferkarren vor sich hinschiebend. Hier blieb er ruhig, bis er Miß Melissa den Kiesgang herunter kommen hörte; er wartete ab, bis sie auf der Bank Platz genommen haben konnte, ließ dann seinen Karren außen stehen, ging um das Gebüsch herum und trat auf sie zu. Als sie seiner ansichtig wurde, ließ sie das Buch, in welchem sie las, sinken.

»Nichts für ungut, Miß, haben Sie keine Scheren oder Messer zu schleifen?« fragte Joey, der, mit dem Hute in der Hand, eine Verbeugung machte.

Miß Mathews betrachtete Joey aufmerksam.

»Wer bist Du?« fragte sie endlich. »Vielleicht der Knabe, der gestern Nachmittag mit einem Scherenschleifer dieses Weges kam?«

»Ja, Miß, wir kamen hier vorbei«, versetzte Joey, sich abermals sehr höflich verbeugend.

»Ist er Dein Vater?«

»Nein, Fräulein, sondern mein Onkel; er ist nicht verheiratet.«

»Dein Onkel? Nun, ich habe eine Schere zu schleifen und will sie holen. Du kannst Deinen Karren herein holen, denn ich möchte sehen, wie Du's machst.«

»Mit dem größten Vergnügen, Miß«, sagte Joey und holte sein Rad. Er bemerkte, daß Miß Mathews ihr Buch hatte auf der Bank liegen lassen, weshalb er es an der bezeichneten Seite öffnete und den Brief hineinlegte. Er war kaum damit fertig, als er Miß Mathews und ihr Bäschen auf sich zukommen sah.

»Da ist die Schere; sorge dafür, daß sie gut schneidet.«

»Ich will mein Bestes thun, Miß«, versetzte Joey, der sich alsbald ans Werk machte.

»Treibst Du diese Hantierung schon lange?« fragte Miß Mathews.

»Nein, Miß, nicht sehr lange.«

»Und Dein Onkel – giebt der sich schon lange damit ab?«

Joey zögerte absichtlich.

»Ich kann da wahrhaftig nicht dienen.«

»Warum ist Dein Onkel nicht mit Dir?«

»Er mußte nach der Stadt, Miß – das heißt nach einer Stadt hier in der Nähe – Geschäfte halber.«

»Was für Geschäfte kann wohl ein Kesselflicker haben?« fragte Araminta.

»Ich glaube, er braucht einiges Schlaglot, Miß; er ist dessen viel benötigt.«

»Kannst Du schreiben und lesen, Knabe?« fragte Melissa.

»Ich, Miß, wie sollte ich das?« versetzte Joey zu ihr aufblickend.

»Seid ihr schon viel in dieser Gegend gewesen?«

»Ja, Miß, schon sehr oft. Der Onkel scheint diesen Strich zu lieben; wir bleiben sonst nirgends so lange. Die Schere ist jetzt fertig, Miß, und schneidet gewiß gut. Der Onkel hoffte nach seinem Zurückkommen einige Arbeit im Herrenhause zu finden.«

»Kann Dein Onkel schreiben und lesen?«

»Ich glaube, er kann's ein wenig, Miß.«

»Was bin ich Dir für die Schere schuldig?«

»Nichts, Miß; verzeihen Sie, aber ich möchte nicht gerne Geld von Ihnen annehmen.«

»Und warum von mir nicht?«

»Weil ich nie zuvor für ein so hübsches Frauenzimmer arbeitete. Wünsche guten Morgen, meine Damen«, sagte Joey, seinen Karren aufnehmend und ihn weiter rollend.

»Nun, Araminta, was sagst Du jetzt? Das ist kein Scherenschleiferjunge – er ist so gut gebildet und höflich, wie ich nur je einen Knaben sah.«

»Vermutlich hat er Dir ein Märchen aufgebunden, als er sagte, er könne weder lesen noch schreiben«, versetzte Araminta.

»Ich glaube es selber auch. Was mag wohl der Grund sein, daß er so schnell wieder von dannen ging?«

»Ich glaube, wir haben ihn durch unsere Fragen erschreckt. Ich bin doch neugierig, ob der Onkel auch kommen wird. Nun, Melissa, ich darf jetzt Deinen Vater nicht allein lassen; bleibe daher bei Deinem Buche.«

Mit diesen Worten schlug Araminta den Weg nach dem Hause ein.

Miß Mathews vertiefte sich eine Weile in Träumereien. Joeys Benehmen hatte sie fast eben so sehr in Staunen gesetzt, als was sie tags zuvor gehört hatte. Endlich öffnete sie das Buch und erblickte mit nicht geringer Bestürzung den Brief. Sie fuhr zusammen – betrachtete ihn – er war an sie adressiert. Anfangs zögerte sie, ob sie ihn öffnen sollte. Der Kesselflickerjunge mußte ihn hineingelegt haben – aber es war augenscheinlich kein Kesselflickersbrief; es mußte ein Billet doux sein, sie getraute sich erst nicht, es zu lesen. Aber es lag etwas so gar Anziehendes, etwas Romantisches in der ganzen Sache, wenn sich's am Ende, ihrer Vermutung gemäß, herausstellte, daß der Kesselflicker ein Gentleman war, der sich in sie verliebt und das Schleiferrad nur als Maske angenommen hatte. Wenn sie das Öffnen des Briefes nur vor sich selbst hätte entschuldigen können! Endlich fiel ihr ein: »Wer weiß – es kann eine Bittschrift von einem armen oder sonst unglücklichen Menschen sein. Lesen muß ich's jedenfalls.«

Wäre es wirklich eine Bittschrift gewesen, so hätte sich Miß Melissa in ihren Erwartungen schrecklich getäuscht gefühlt.

»Er spricht sich allerdings mit der größten Hochachtung aus«, dachte Melissa, nachdem sie den Brief gelesen hatte – »aber ich kann nicht darauf antworten, das ginge nicht an. Als Beleidigung kann ich's nicht aufnehmen – und ich bin überzeugt, es rührt von dem Kesselflicker her, obschon er sich nicht nennt. Ich weiß nicht, aber ich bin doch recht neugierig zu sehen, auf was dies hinaus will. Nein, es kann zu nichts führen, denn wie sollte ich einen Menschen lieben, den ich nie gesehen habe, und einem Fremden eine Zusammenkunft gestatten – davon ist gar keine Rede. Ich muß doch Araminta den Brief zeigen. Soll ich? Ich weiß nicht, sie ist gar so besonders, so gesetzt, und würde von Schicklichkeit und Klugheit reden. Sie ärgerte sich darüber und geriete recht eigentlich in ein Fieber – sie wäre ganz unglücklich. Nein, es würde grausam sein, ihr etwas davon zu sagen, denn sie härmte sich ab darüber; ich will ihr nichts sagen, bis ich es für unbedingt nötig halte. Es ist ganz die Hand eines Gentleman, und dazu der Stil zierlich, aber ich kann doch keine geheime Korrespondenz mit einem Kesselflicker anknüpfen. Ja, ich lasse mir's nicht nehmen, es ist der Kesselflicker. Wie sonderbar! Wie mag er wohl heißen? Und obendrein ein alter Familienzwist. Ei, das ist ja eine Geschichte wie bei Romeo und Julia, nur daß der Romeo zu einem Kesselflicker wird. Doch eine Maske ist so gut als die andere. Er gesteht seine Armut ein – das gefällt mir von ihm, denn es liegt Ehrlichkeit darin. Ei, im ganzen ist's weiter nichts, als eine kleine Unterhaltung für ein armes Mädchen, wie ich bin, das Jahr aus und Jahr ein nichts als Opodeldoc zu riechen kriegt. Ich will daher sehen, was das Ende davon sein wird«, dachte Melissa, indem sie von ihrer Bank aufstand, den Brief in die Tasche steckte und in das Haus zurückkehrte.

Joey verfügte sich zu Spikeman und berichtete den Verlauf.

»Das ist alles, was ich wünsche«, sagte Spikeman.

»Morgen darfst Du nicht hingehen, wir müssen's ein bischen nachwirken lassen. Wenn sie der Brief überhaupt interessiert, wird sie ungeduldig sein, mehr zu erfahren.«

Spikeman hatte recht. Melissa sah des andern Tages wohl hundertmal die Straße auf und ab und verhielt sich des Abends sehr schweigsam. Am zweiten Tag erhielt Joey weitere Weisung und brach mit seinem Karren nach dem Herrenhause auf. Als er um das Gebüsch kam, wo die Bank stand, hatte sich Miß Mathews bereits daselbst eingefunden.

»Ich bitte um Verzeihung, Miß; aber glauben Sie nicht, daß es Beschäftigung im Hause giebt?«

»Komm her, Bürschlein«, sagte Melissa, eine sehr würdevolle Miene annehmend.

»Ja, Miß?« versetzte Joey, langsam auf sie zugehend.

»Sage mir jetzt die Wahrheit, und Du sollst eine halbe Krone als Belohnung erhalten.«

»Ich höre, Miß.«

»Hast Du nicht vorgestern diesen Brief in mein Buch gelegt?«

»Einen Brief, Miß? Was für einen Brief?«

»Leugne es nicht, denn ich weiß wohl, daß es niemand anders gewesen sein kann. Wenn Du mir aber die Wahrheit vorenthältst, so laß Dir's zur Warnung gesagt sein: mein Vater ist eine Magistratsperson, und ich werde auf Deine Züchtigung antragen.«

»Man hatte mir aber verboten, etwas zu sagen«, entgegnete Joey, welcher sich stellte, als erschrecke er über diese Drohung.

»Das kümmert mich nicht – heraus mit der Farbe und zwar auf der Stelle!«

»Sie werden mir aber doch hoffentlich nicht zürnen, Miß?«

»Wenn Du mir die Wahrheit sagst, nein.«

»Ich weiß wahrhaftig nicht – aber ein Gentleman –«

»Was für ein Gentleman?«

»Ein Gentleman, der zu meinem Onkel kam, Miß –«

»Ein Gentleman, der zu Deinem Onkel kam – nun fahre fort!«

»Ich glaube, der hat den Brief geschrieben, aber ich weiß es nicht gewiß. Der Onkel gab mir den Auftrag, ihn irgend wohin zu legen, wo Sie ihn sehen könnten.«

»Ah so, ein Gentleman, sagst Du, habe Deinem Onkel diesen Brief gegeben, und Dein Onkel habe Dir befohlen, ihn mir zu bringen. Ist's so?«

»Der Onkel gab mir den Brief, aber ich denke, er wird Ihnen selbst alle Auskunft geben und auch sagen, wer der Gentleman war.«

»Ist Dein Onkel zurückgekommen?«

»Er kommt erst heute Nacht, Fräulein.«

»Weißt Du gewiß, daß Dein Onkel den Brief nicht geschrieben hat?«

»Ei, Miß, der Onkel einen solchen Brief schreiben – und an eine Dame, wie Sie – das wäre doch gar sehr sonderbar.«

»Allerdings sehr sonderbar«, versetzte Miß Melissa, nachdem sie sich eine Weile in Gedanken ergangen. »Nun, Knabe«, fuhr sie endlich fort, »ich muß und will wissen, wer so dreist war, mir diesen Brief zu schreiben. Da also Dein Onkel Kenntnis davon hat, so wirst Du mir ihn morgen herbringen, daß ich ihn befragen kann; er soll sich aber in acht nehmen und mich nicht mit Unwahrheiten berichten.«

»Ja, Miß, ich will's ihm vermelden, sobald er nach Hause kommt. Hoffentlich sind Sie mir aber nicht böse, Miß; ich dachte nicht, daß es etwas Unrechtes sei, einen so hübschen netten Brief in das Buch zu legen.«

»Nein, ich bin Dir nicht böse; Dein Onkel verdient eher einen Vorwurf. Ich erwarte ihn morgen um diese Zeit. Du kannst jetzt gehen.«


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