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Erstes Kapitel.

In welchem mehr das Bier, als etwas anderes, das Motto abgiebt.


In einer ungestümen, stürmischen Novembernacht des Jahres 1812 befanden sich drei Männer auf der Landstraße unweit des Dörfchens Graßford im Süden von Devonshire. Es war nahezu Vollmond; aber wilde Streifwolken und hin und wieder auch dichtere Massen zogen in rascher Aufeinanderfolge vor der Leuchte der Nacht dahin, so daß man nur selten, und auch dann nur für Augenblicke, die Landschaft deutlicher unterscheiden konnte. Der scharfe, schneidende Wind sauste in den sich beugenden, laublosen Bäumen, welche sich längs des Geheges zu beiden Seiten der Straße hinzogen.

Die gedachten drei Personen schienen in dem eine halbe Meile Englische Meile [ca. 800 m.] vom Dorfe abgelegenen Wirtshause, von wo aus sie eben aufgebrochen waren, etwas zu tief ins Glas gesehen zu haben: der eine von ihnen vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten, während die beiden andern, die man vergleichungsweise nüchtern nennen konnte, ihre Kräfte vereinigten, um ihren Begleiter zu unterstützen und ihn nach Hause zu bringen. So ging der Zug weiter, stets in Schlangenlinien von einer Straßenseite zur andern, die durch die Last des unbehilflichen Ceresdieners, d. h. Biertrinkers, veranlaßt wurden. Endlich gelangten sie an eine Brücke, welche über einen jener ungestümen Ströme führte, die in dieser Grafschaft so gewöhnlich sind. Wie infolge wechselseitiger Übereinkunft (denn es wurde kein Wort gesprochen) lehnten jetzt die beiden, welche weniger von der Trunkenheit erfüllt waren, den Körper des dritten gegen die Brückenböschung, um sich, neben dem fast leblosen Gefährten an das Gemäuer gelehnt, ein wenig zu verschnaufen. Der eine davon war ein hoher, schlanker Mann von ungefähr vierzig Jahren, in einem fadenscheinigen schwarzen Rock und in ein paar für seine Beine viel zu kurze Hosen gekleidet, über deren ursprüngliche Farbe sich schwer eine Vermutung hätte aufstellen lassen, während auf seinem Kopfe ein Hut saß, wie ihn die Geistlichen tragen, der aber vom langen Gebrauche gleichfalls nicht besser geworden war. Trotz der schlechten und unscheinbaren Kleidung lag aber doch in dem Äußern des Mannes etwas, was auf bessere Tage deutete, denn es war augenfällig, daß er sich früher in einer ganz andern Sphäre der Gesellschaft bewegt hatte. Vor einigen Jahren noch war er Lehrer an einer lateinischen Schule gewesen – eine Stelle, von der er ein hübsches Einkommen gezogen; aber die Liebe zum Trunk hatte ihn zu Grunde gerichtet. Jetzt war er Schulmeister in dem Dörfchen Graßford, wo er den Kindern der Einwohner für die mäßige Belohnung von wöchentlich zwei Pence per Kopf Unterricht erteilte. Sein unglücklicher Hang war ihm aber leider geblieben, und er hatte kaum sein Wochengehalt in der Tasche, als er sich auch schon beeilte, seine Sorgen und die Erinnerung an eine frühere, glücklichere Lage in der Bierschenke, von welcher die nächtlichen Gesellen eben her kamen, zu ertränken. Die zweite Person, welche wir dem Leser vorführen, war von ganz anderem Bau – klein und breitschulterig. Er trug Kniehosen, Gamaschen, Schnürstiefel, einen Rock von dickem Zwillich nach Jägerschnitt, und war von Gewerbe ein Hausierer.

»'s kommt mir doch sonderbar vor«, unterbrach der letztere endlich das Schweigen, indem er auf den Betrunkenen zu seinen Füßen niederblickte, »warum vom Aletrinken die Beine unbrauchbar werden; es heißt doch, der Spiritus steige zu Kopf und nicht in die Füße!«

»Ei«, versetzte der Schulmeister, an dem die Spuren der kürzlich gespendeten Libationen weit stärker bemerkbar waren als an dem Krämer, »auch das hat seine Gründe; denn seht, die Abweichung von der perpendikulären Richtung muß von dem Umstande ausgehen, daß der Kopf zu schwer ist – 's liegt auf flacher Hand; wenn dann der Schwerpunkt verrückt ist, so begreift Ihr wohl, daß die Füße zu leicht werden müssen. Hält man nun dies und das zusammen, je nun, so kann der Mensch eben nicht stehen – habt Ihr meine Demonstration kapiert?«

»Das Ale war gewaltig stark, und so, glaube ich, hat wohl alles seine Richtigkeit«, entgegnete der Hausierer. »Übrigens gießt man doch das Bier nicht in den Kopf oder in die Füße, sondern in die Eingeweide, die doch recht im Mittelpunkt des Menschen sind. Wie wollt Ihr damit zurecht kommen, Mr. Furneß?«

»Ach, Byres, Ihr sprecht von dem Residuum.«

»Hab' kein Wort davon gesprochen, und so wahr ich hier stehe, auch meiner Lebtage nichts davon gehört.«

»Das ist möglich; aber merkt jetzt auf: das Residuum, Byres, ist, was übrig bleibt.«

»So, das wäre das Residguim. Nun, wenn's das ist, so will ich nichts davon – 's ist nichts übrig geblieben, denn Ihr habt den Krug geleert.«

»Guter Byres, es ist klar, daß Ihr nie auf Schulen gewesen seid. Nun gebt acht: wenn ein Mensch eine gewisse Quantität Flüssigkeit in seinen Magen gießt, so steigen die spirituosen oder leichteren Teile nach seinem Kopf, wodurch dieser schwer wird. Begreift Ihr?«

»Ich nicht; wie könnte denn etwas Leichtes eine Sache schwer machen?«

»Ach, Ihr versteht eben nichts von der Sache; habt Ihr nicht einen Beweis vor Euch?« entgegnete der Schulmeister taumelnd und sich an der Brückenbrüstung haltend. »Betrachtet nur diesen unglücklichen Mann, der sich übersehen hat!«

»Nun, der ist freilich betrunken, aber ich möchte den Grund wissen, warum er's wurde?«

»Der Grund liegt im Trinken.«

»Das brauch' ich mir von keinem Narren sagen zu lassen.«

»Dann wozu solche Fragen? Schätz' wohl, es wäre besser, wir gingen weiter und brächten ihn zu seinem armen Weibe nach Hause, das auf ihn wartet, 's ist doch ein betrübtes und trauriges Ding, wie der Feind, den man in den Mund gießt, einem das Gehirn wegstiehlt.«

»Bei Rushbrook ist es schon mit einer halben Pinte geschehen«, versetzte der Hausierer; »er soll einmal eine Wunde in den Kopf gekriegt haben, und da nahmen sie ihm das halbe Gehirn heraus; daher kommt's auch, daß er eine Pension hat.«

»Ja, siebzehn Pfund jährlich, die alle Quartale ohne Abzug ausbezahlt werden, und er braucht nicht weiter als vier Meilen darnach zu gehen«, entgegnete Furneß. »Wie übel doch die Regierung ihre Mildthätigkeit an den Mann bringt! Arbeitet er etwas?«

»Nein: sein ganzes Geschäft ist trinken und den ganzen Tag im Bette liegen, während ich früh und spät auf sein muß, um dem jungen Volk für zwei Pence in der Woche Ideen beizubringen. Freund Byres, 's ist nicht alles Barmherzigkeit, was so aussieht. Ich hab' da eine Ansicht, es wäre ein gutes Werk, wenn wir diesen armen Tropf, so wie er ist, über die Brücke in den rauschenden Strom hinabwürfen – alle seine Sorgen hätten dann ein Ende.«

»Wir ersparen uns noch obendrein die Mühe, ihn nach Hause zu schaffen«, erwiderte Byres, der in der Stimmung war, auf den Humor seines noch betrunkenern Begleiters einzugehen. »Nun, Mr. Furneß, ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

»Warum sollte er auch leben? Ist er nicht ein Sinecurist – einer von den Blutigeln, welche sich von dem Schweiß und Blute der Leute mästen, wie die Sonntagszeitung sagt? Erinnert Ihr Euch nicht, was ich diesen Morgen vorgelesen habe?«

»Freilich, Mr. Furneß. Nun, was meint Ihr, sollen wir hinüber mit ihm?«

»Wir müssen's doch noch ein bischen bedenken«, versetzte der Schulmeister, indem er die Hand an sein Kinn legte und für eine Weile stumm blieb.

»Nein«, nahm er endlich die Rede wieder auf, »wenn ich's recht erwäge, so kann ich's doch nicht thun; er halbiert sein Bier mit mir. Keine Pension – kein Bier, das ist ein Satz und Folgesatz, der sich von selbst versteht. Es wäre undankbar von mir, wenn ich auf Euren Vorschlag eingehen wollte«, fuhr der Schulmeister fort, »und noch mehr – ich will ihn gegen Eure mörderischen Absichten bis aufs letzte verteidigen.«

»Ei, Meister Furneß, es scheint, Ihr spürt das Ale selber auch. Ihr habt ja den Vorschlag gemacht, ihn über die Brücke zu werfen, nicht ich.«

»Nehmt Euch in acht, was Ihr sagt«, entgegnete der Schulmeister. »Wollt Ihr mich des Mordes oder einer mörderischen Absicht beschuldigen?«

»Nein, durchaus nicht – nur daß Ihr den Antrag gestellt habt, ihn über die Brücke zu heben; und dabei bleib' ich.«

»Freund Byres, 's ist meine Ansicht, Ihr bleibt bei gar vielem, nur nicht beim beten; aber in Eurem gegenwärtigen Zustande will ich Nachsicht mit Euch haben. Kommt, packt auf, oder ich habe am Ende zwei statt einen nach Hause zu schleppen. So; nehmt ihn an dem einen Arme, ich will ihn an dem andern fassen und aufrichten, 's ist nur noch eine Viertelmeile nach seiner Wohnung.«

Byres, der, wie wir bemerkten, bei weitem der Nüchternste in der Gesellschaft war, hielt es nicht für der Mühe wert, dem Pädagogen zu antworten. Nachdem der letztere etliche Male gestrauchelt, hatten sie ihren Kameraden aufgerichtet, und nun ging's weiter.

Der Betrunkene schien das, was vorging, so weit zu merken, daß er mechanisch seine Beine bewegte, und in kurzer Zeit langten sie an einer Hütte an, deren Thüre der Schulmeister so tüchtig mit der Faust bearbeitete, daß sie in ihren Angeln rasselte. Eine schöne große Frau, die eine Kerze in der Hand hielt, schob den Riegel zurück.

»Dacht' ich's doch«, sagte sie, den Kopf schüttelnd, »die alte Geschichte! Jetzt wird er die ganze Nacht unwohl sein und vor Mittag nicht aufstehen können. Welch ein armseliges Leben, wenn man einen Trunkenbold zum Manne hat. Bringt ihn herein – ich danke Euch für Eure Bemühungen.«

»Das ist schwere und heiße Arbeit gewesen«, bemerkte der Schulmeister, sich auf einen Stuhl niedersetzend, nachdem die beiden Männer ihren Kameraden zu Bette gebracht hatten.

»Will's wohl glauben«, versetzte die Frau. »Darf ich Euch einen Tropfen Dünnbier vorsetzen, Mr. Furneß?«

»Ja, wenn Ihr so gut sein wollt, und dem Byres auch. Wie schade, daß sich Euer guter Mann nicht an Dünnbier halten mag!«

»Ja, wahrhaftig«, entgegnete die Frau, welche sich sofort nach dem hinteren Teile des Häuschens begab, und bald mit einem Krug Bier zurückkehrte.

Der Schulmeister leerte das Gefäß zur Hälfte und händigte es sodann dem Hausierer ein.

»Und mein kleiner Freund Joey – vermutlich eingeschlafen?«

»Ja, das arme Kind – und ich sollte auch schon in den Federn sein. 's hat schon zwölf geschlagen.«

»Nun, Mrs. Rushbrook, ich wünsche Euch gute Nacht. Kommt, Mr. Byres – Mrs. Rushbrook möchte zu Bette gehen.«

»Gute Nacht, Mr. Furneß. Gute Nacht, Sir, und vielen Dank!«

Schulmeister und Hausierer verließen die Hütte. Mrs. Rushbrook sah ihnen eine Weile nach und schloß dann sorgfältig die Thüre.

»Die wären jetzt fort«, sagte sie, als sie zu ihrem Gatten zurückkehrte.

Welches Erstaunen hätte aber nicht jeden andern Zeugen erfassen müssen, als Rushbrook, sobald sein Weib ausgesprochen hatte, auf seine Füße sprang und als ein schöner, sechs Fuß hoher, aufrechter Mann dastand, der keine Spur von Betrunkenheit verriet.

»Liebe Jane«, sagte er, »nicht leicht findet sich wieder eine solche Nacht, aber ich muß hurtig sein und darf keine Zeit verlieren. Ist mein Gewehr bereit?«

»Alles in Ordnung; Joey liegt auf seinem Bette, ist aber angekleidet und in einer Minute zur Hand.«

»So rufe ihn, denn die Zeit ist kostbar. Dieser betrunkene Narr Furneß wollte mich über die Brücke werfen. Ein Glück für sie, daß sie den Versuch bleiben ließen, sonst hätte ich ein ganz anderes Abfinden mit ihnen treffen müssen, um ihnen das Ausschwatzen zu verleiden. Wo ist Mum?«

»In der Waschküche. Ich will ihn und Joey sogleich herholen.«

Die Frau verließ die Stube, während Rushbrook Gewehr und Munition herunternahm und sich für seinen Ausflug vorbereitete. Nach kurzer Frist kam ein Schäferhund, der seiner Haft in der Waschküche erledigt worden war, herein und legte sich vor seines Gebieters Füßen nieder. Bald nachher erschien auch Mrs. Rushbrook mit Joey, einem schmächtigen, mager aussehenden Knaben von etwa zwölf Jahren, der für sein Alter sehr klein, aber augenscheinlich so rührig und behend wie eine Katze war. Niemand würde es ihm angesehen haben, daß er eben erst aus dem Schlafe geweckt wurde. Kein Gähnen, keine Spur von Trägheit – sein Auge war im Gegenteil so funkelnd wie das eines Adlers, als er sich rasch, aber ruhig einen Sack über die Schulter warf und nach einer Rolle Bindfaden griff, die er in der Hand hielt, bis sein Vater zum Aufbruche bereit wäre. Die Frau löschte die Lichter, öffnete sachte die Hausthür, sah sich draußen sorgfältig um und kehrte dann zu ihrem Gatten zurück, welcher mit einem leisen Pfeifen, das dem Knaben und dem Hunde zum Signale diente, das Haus verließ. Kein Wort wurde gesprochen: die Thür schloß sich leise hinter ihnen, und das Trio schlich verstohlen von hinnen.


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