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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

In welchem das Glück die Nase unseres Helden an den Schleifstein bringt.


Als die beiden Wanderer etwa drei Meilen zurückgelegt hatten, ließ Nancy von ihrer Eile nach, und sie knüpften ein Gespräch mit einander an.

»Wohin geht Ihr?« fragte Joey.

»Ich mache einen Zug mitten durchs Land, Peter oder vielmehr Joey, wie ich Dich in Zukunft nennen werde, da dies Dein wahrer Name ist – der Seesoldat sagte mir nämlich, Du heißest Joseph Rushbrook; ist's nicht so?«

»Ja«, versetzte Joey.

»Dann will ich Dich in Zukunft so nennen, denn ich mag nicht einmal einen Namen hören, der mich an den Schauplatz meines Elends erinnert. Auch Du mußt mich nicht wieder als Nancy anreden, Joey, der Name ist mir verhaßt; nenne mich Mary.«

»Ich will es, wenn Ihr's so wollt; aber ich kann mir gar nicht vorstellen, warum Ihr von Gravesend weglauft, Mary. Was habt Ihr denn im Sinne? Ich lief fort aus Furcht, aufgegriffen zu werden.«

»Und ich thue mehr, Joey, denn ich fliehe vor dem künftigen Zorne. Du fragst mich, was ich beabsichtige; ich will Dir mit den Worten des Katechismus antworten, den ich früher auswendig lernen mußte; ›ich gedenke ein neues Leben anzufangen, mich dankbarlich an Christi Tod zu erinnern und meine Nebenmenschen zu lieben.‹ Ich will einen Dienst suchen – jeder, wie gering und niedrig er auch sein mag, ist gut genug für mich. Ich will Kohlen auslesen für die Ziegler, Backsteine formen und alles thun, um mir ein ehrliches Auskommen zu verschaffen.«

»Ich freue mich sehr, Euch so sprechen zu hören, Mary«, versetzte Joey, »denn ich habe Euch immer sehr gern gehabt.«

»Ja, Joey, und Du warst der erste, der sich nach langer Zeit zu einem Liebesdienste gegen mich erbot. Ich habe es nie vergessen und diese Nacht etwas gethan, um es Dir zu vergelten.«

Nancy erging sich hierauf in einem umständlichen Bericht über alles, was zwischen ihr und Furneß vorgefallen. Joey, der hiervon keine Ahnung gehabt hatte, ersah daraus, wie haarscharf eigentlich sein Entkommen gewesen.

»Ich hätte mir's nicht träumen lassen, daß Ihr, während ich schlief, so viel für mich thun würdet«, sagte Joey; »aber ich bin Euch sehr dankbar, Mary.«

»Ich bin es von Dir überzeugt, also rede nicht mehr davon. Du siehst, Joey, er erzählte mir die ganze Geschichte und scheint der Meinung zu sein, daß Du den Mord begangen habest. Ich glaube es nicht und halte Dich einer solchen That unfähig, obschon vielleicht Dein Gewehr aus Zufall losgegangen ist.«

»Nein, Mary, ich bin nicht dabei beteiligt, weder aus Absicht noch aus Zufall; aber Ihr müßt mich nicht weiter ausfragen, denn ich würde das Geheimnis bewahren, selbst wenn man mich vor Gericht stellte.«

»Nun, so will ich versuchen, die Sache nicht weiter zur Sprache zu bringen. Ich habe meine eigenen Gedanken darüber, will sie aber jetzt fallen lassen. Es ist beinahe Tag, und wir sind eine gute Strecke gegangen; ich nähm's daher nicht übel, wenn wir uns setzten und ein wenig ausruhten.«

»Wißt Ihr, wie weit wir noch zu gehen haben, bis wir in eine Stadt kommen, Mary?«

»Wir sind nicht mehr weit von Maidstone; es liegt rechts von uns, aber es ist kaum rätlich, durch eine so große Stadt zu gehen, die so nahe bei Gravesend liegt. Außerdem kennen mich vielleicht einige Soldaten. Sobald wir an ein sicheres Örtchen kommen, wo wir einen Trunk Wasser finden können, wollen wir Platz nehmen und rasten.«

Nach einer weiteren Meile kamen sie an einen Bach, welcher den Weg kreuzte.

»Hier ist's nicht übel, Joey«, sagte Nancy; »wir wollen uns jetzt setzen.«

Es war inzwischen Tag geworden; sie tranken aus dem Bache und bedienten sich ihrer Bündel als Sitze.

»Nun, Joey«, sagte Mary (wie auch wir sie in Zukunft nennen wollen), »laß uns nachsehen, wie viel Geld wir haben. Mrs. Chopper drückte mir alles, was sie hatte, in die Hände. Gottes Segen über die gute alte Frau! Zähle es, Joey, es ist Dein Eigentum.«

»Nein, Mary, sie gab es her für uns beide.«

»Gleichviel, stecke es nur zu Dir; denn siehst Du, Joey, es könnte sich treffen, daß Du augenblicklich Reißaus nehmen müßtest, und dann ginge es nicht gut, wenn Du ohne Geld wärest.«

»Wenn ich aber so schnell aufbrechen müßte, würde ich ja alles mit mir nehmen, und ich könnte doch Euch nicht ohne Geld lassen, Mary. Wir wollen es daher unter uns teilen, zugleich aber das Geld als gemeinschaftliches Eigentum betrachten.«

»Gut, sei es so; denn wenn eines von uns unterwegs beraubt oder bestohlen würde, so entkommt doch vielleicht das andere.«

Sie teilten das Geld, und Joey steckte seinen Teil in die Tasche, nachdem er ihn zuvor mit einem Bindfaden zusammengeknüpft hatte. Mary versorgte den ihrigen an dem Orte, wo Frauenzimmer gewöhnlich Banknoten oder Liebesbriefe aufbewahren. Sobald dies geschehen war, öffnete Mary ihr Bündel, nahm ein Tuch heraus, das sie über ihre Schultern legte, kämmte sich die Locken aus und legte das Haar glatt an ihre Schläfe; dann entfernte sie die hellen Bänder von ihrem Hute und ersetzte sie mit einem einfachen Bande von brauner Farbe.

»So«, sagte sie; »nun, Joey, sehe ich jetzt nicht achtbarer aus?«

»Ihr seht netter und – –«

»– bescheidener aus, willst Du sagen, Joey. Nun, ich hoffe, in Zukunft meiner Außenseite zu entsprechen. Ich habe mich jetzt zu Deiner Schwester herausstaffiert, Joey, denn ich habe mir's bedacht, daß wir uns lästigen Fragen besser entziehen können, wenn wir für Geschwister gelten. Wir müssen eine Geschichte zusammenschmieden. Für was geben wir uns aus? denn wir dürfen doch nicht sagen, wer wir wirklich sind. Natürlich sehe ich mich um einen Dienst um, und Du thust ein gleiches; die Eltern sind gestorben, und der Vater war ein Bäcker. Das ist, soweit es mich betrifft, alles wahr, und da Du mein Bruder sein mußt, je nun, so bleibt keine andere Wahl, als daß Du Dich auch zu meinem Vater und meiner Mutter bekennst. So hätten wir keine lange Geschichte zu merken.«

»Aber es wird doch nicht gehen, daß wir sagen, wir kämen von Gravesend.«

»Nein, das brauchen wir nicht zu sagen und ebenso wenig zu einem Märlein unsere Zuflucht zu nehmen. Das Dorf, durch welches wir in der letzten Nacht kamen, heißt Wrotham; wir kommen also von dorther.«

»Aber wohin gedenket Ihr zu gehen, Mary?«

»Wir ziehen noch eine hübsche Strecke weiter. Jedenfalls sehen wir uns nicht früher nach einem Dienste um, als bis wir eine andere Grafschaft erreicht haben. Nun, wenn's Dir recht ist, wollen wir wieder aufbrechen, Joey, und uns nach einem Frühstück umsehen; ich werde da auch im stande sein, mein Kleid gegen ein anständigeres umzutauschen.«

Nach einer halben Stunde langten sie in einem Dorfe an und begaben sich in das Wirtshaus. Mary ging die Treppe hinauf und wechselte ihren Anzug. Sie hatte jetzt das Aussehen eines sehr hübschen und bescheidenen jungen Frauenzimmers, und niemand würde geglaubt haben, daß sie tags zuvor noch durch die Straßen einer Seestadt umherstrich. Wie sich denken läßt, blieben sie nicht mit Fragen verschont, worauf Mary antwortete, daß sie einen Dienst suche und ihr Bruder ihr das Geleit gebe. Nachdem sie ihr Frühstück genossen und ein paar Stunden ausgeruht hatten, nahmen sie ihre Wanderschaft wieder auf.

Sie reisten einige Tage mit großer Vorsicht und gelangten endlich in das Dorf Manstone in Dorsetshire, wo sie, wie gewöhnlich, in einem bescheidenen Wirtshause einsprachen. Hier änderte Mary ihre Absichten. Sie hatte sich um eine Stelle bemüht, die ihr nicht zuteil wurde, und gedachte jetzt wieder nach ihrer Heimat zurückzukehren.

Der Wirtin gefiel Marys hübsche Außenseite gar nicht übel, und auch Joey fand Gnade in ihren Augen, denn ungeachtet seines Matrosenanzuges stand er doch vermöge seiner Haltung und seines Benehmens weit über seiner angeblichen Stellung im Leben; sie sagte daher, wenn die Wanderer einige Tage hier bleiben wollten, so hoffe sie, ihnen Plätze verschaffen zu können. Am dritten Tage ihres Aufenthaltes im Dorfe teilte die Wirtin Mary mit, sie habe gehört, daß der Squire, welcher ungefähr eine Meile weit wohne, ein zweites Stubenmädchen brauche, und wenn ihr eine solche Stelle anstehe, dürfe sie nur zugreifen. Mary ging mit Freuden darauf ein, und Mrs. Derberough schickte die betreffende Meldung nach dem Herrenhause, worauf die Antwort erfolgte, das Mädchen möchte sich vorstellen. Demgemäß begab sich Mary, von Joey begleitet, nach dem Schlosse. Sie brachte daselbst ihr Anliegen vor und erhielt die Weisung, sie solle in der Gesindestube warten, bis man sie rufen lasse. Dies geschah nach etwa einer Viertelstunde; sie ließ Joey zurück und begab sich zu der Dame des Hauses hinauf, welche sie fragte, ob sie früher schon gedient habe und ob sie sich über ein gutes Prädikat ausweisen könne.

Mary versetzte, sie habe noch nie gedient und besitze überhaupt gar kein Prädikat, was, beiläufig bemerkt, insofern seine Richtigkeit hatte, als eine negative Größe sogar unter der Null steht.

Die Dame des Hauses lächelte über diese naive Antwort aus dem Munde eines gar so bescheiden aussehenden, hübschen Mädchens und erkundigte sich, wer ihre Eltern wären. Mary war auf eine solche Frage gefaßt und hatte sich daher auch mit der Antwort vorgesehen; sie fügte noch weiter bei, daß sie ihre Heimat verlassen habe, um eine Stelle zu suchen, in ihren Erwartungen aber getäuscht worden sei: ihre Eltern seien gestorben, ihr Bruder aber, der ihr das Geleit gegeben habe, befinde sich in der Gesindestube drunten; Mrs. Chopper sei eine alte Freundin ihrer Mutter und könnte über ihren Charakter Auskunft geben.

Der günstige Bericht von Mrs. Derberough hatte die Dame schon zum voraus für Mary eingenommen, und der Umstand, daß das Mädchen unter dem Schutze ihres Bruders reiste, bestimmte die Lady, einen Versuch zu machen; zugleich verlangte sie aber auch Mrs. Chopper's Adresse, um an diese schreiben zu können. Da der Platz erledigt war, so wurde Mary der Auftrag erteilt, am andern Tage einzutreten, nachdem zuvor inbetreff des Lohnes die nötige Übereinkunft getroffen war. So hatte sie also ein Unterkommen.

Die Leute sagen, man könne bei der Wahl seiner Dienstboten nicht vorsichtig genug sein, und haben hiermit gewissermaßen ganz recht; obgleich aber eine so außerordentliche Behutsamkeit durch die Klugheit geboten scheint, so ist sie doch nicht selten der Grund, daß Dienstboten, welche einen Fehltritt begangen und dadurch ein gutes Zeugnis verscherzt haben, der Armut und dem Elende anheim fallen, trotzdem, daß sie die aufrichtige Absicht hatten, ihr Versehen wieder gut zu machen, wenn man ihnen Gelegenheit dazu geboten hätte.

Mary war fest entschlossen, sich fortan ehrlich und rechtschaffen zu verhalten. Hätte es die Dame des Hauses sehr genau genommen, und wären andere, an welche sich Mary später gewendet haben würde, ebenso mißtrauisch gewesen, so hätten alle ihre guten Vorsätze scheitern müssen und sie wäre der Verzweiflung, wo nicht ihren früheren schlimmen Wegen preisgegeben gewesen. Es ist vielleicht ein Glück, daß nicht jedermann in der Welt so behutsam ist als unsere sogenannten rechtschaffenen und ehrenhaften Leute, und daß sich doch hin und wieder eine Pforte aufthut, durch welche verirrte Personen wieder zur Tugend zurückkehren können. Mary verließ, entzückt über ihren Erfolg, das Gemach und suchte Joey in der Gesindestube auf. Man hatte bald heraus, daß Mary ins Haus kommen sollte, und einer der Bedienten klopfte sie unter's Kinn, indem er sie ein hübsches Mädchen nannte.

Mary wich zurück, und Joey ahndete augenblicklich diese Freiheit, indem er erklärte, er werde es nicht dulden, daß jemand seine Schwester beleidige, denn Joey war klug genug, einzusehen, daß er Mary keinen besseren Dienst leisten könnte. Der Bediente wurde unverschämt, bedrohte Joey mit einer Züchtigung und befahl ihm, das Haus zu verlassen. Die Mägde ergriffen jedoch die Partei unseres Helden. Zu gleicher Zeit kam auch die Haushälterin herunter, und als sie den Grund des Streites vernahm, fuhr auch sie über den Bedienten her. Der Kellermeister trat auf die Seite des letztern, und der Lärm steigerte sich mehr und mehr, als mit einem Male die Klingel gezogen wurde und die Männer dem Rufe folgen mußten, sodaß vorderhand die Weiber im Besitze des Wahlplatzes blieben.

»Was ist das für ein Lärm unten?« fragte der Herr des Hauses.

»Es ist ein Knabe, Sir – der Bruder des Mädchens, glaube ich, das als zweite Stubenmagd angenommen wurde; er hat die ganze Störung veranlaßt.«

»Er soll augenblicklich das Haus verlassen.«

»Ja, Sir«, versetzte der Kellermeister, der sofort hinunterging, um dem Befehle Kraft zu geben.

Wie wenig ließ sich der Hausherr, als er diesen Befehl erteilte, träumen, daß er damit seinen eigenen Sohn aus dem Hause wies, denn der Squire war niemand anders als Mr. Austin. Und auch die trostlose Mrs. Austin hatte keine Ahnung davon, daß ihr teures, viel beweintes Kind in diesem Augenblicke mit ihr unter dem gleichen Dache war, aber jetzt von ihren Mietlingen hinausgetrieben wurde. Joey verließ mit Mary die Bedientenstube, und beide kehrten nach dem Dorfwirtshause zurück.

»Nun, Mary«, sagte Joey, »es freut mich sehr, daß Du eine Stelle gefunden hast.«

»Ich danke Gott tausendmal dafür, Joey«, versetzte sie, »und hoffe nur, daß Du in der Umgegend gleichfalls ein Unterkommen findest, damit wir uns hin und wieder besuchen können.«

»Nein, Mary«, entgegnete Joey, »in dieser Gegend will ich keine Stelle. Nur der Wunsch, Dich je zuweilen zu sehen, hätte mich dazu veranlassen können, aber das ist jetzt unmöglich.«

»Wie so?«

»Meinst Du denn, ich werde je wieder meinen Fuß in das Haus setzen, wo ich so behandelt wurde? Nimmermehr.«

»Das fürchtete ich leider«, erwiderte Mary traurig.

»Du brauchst Dich nicht darüber zu kümmern, Mary. Ich freue mich, daß Du versorgt bist, und will jetzt mein Glück anderwärts suchen. Ich schreibe Dir hin und wieder und lasse Dich wissen, wie es mir geht. Du wirst mir doch auch schreiben, Mary?«

»Mit tausend Freuden, Joey; ich werde wohl den einzigen Genuß darin finden, denn ich liebe Dich so zärtlich, als ob Du wirklich mein Bruder wärest.«

Am andern Tage verabschiedeten sich die beiden, Mary unter vielen Thränen und unser Held mit kummerschwerem Herzen. Er wollte von dem Gelde nicht mehr annehmen, als er bereits im Besitze hatte, versprach aber, sich im Notfalle an Mary zu wenden, welche sagte, daß sie alles für ihn aufbewahren wolle, und auch Wort hielt. Joey begleitete Mary bis zu dem Thürsteherhäuschen des Schlosses, blieb noch bis zum nächsten Morgen im Wirtshause und trat dann abermals seine Wanderung an.

Er war mit Tagesgrauen aufgebrochen und hatte von Manstone aus in westlicher Richtung etwa sechs Meilen zurückgelegt, als er zwei Männer bemerkte, welche auf ihn zukamen. Sie waren höchst erbärmlich gekleidet und hatten weder Schuhe noch Strümpfe; der eine, der nur eine Weste und ein paar Beinkleider auf dem Leibe trug, hatte einen Sack auf dem Rücken. Der Anzug des andern bestand aus zerfetzten blauen Hosen, einem Guernseykittel und einem geteerten Hut. Sie schienen zu sein, für was sie sich ausgaben, wenn sie die Barmherzigkeit in Anspruch nahmen – nämlich zwei schiffbrüchige Matrosen, die nach einem nördlichen Hafen wanderten, um Beschäftigung zu erhalten; wären jedoch die Kerle auf einen Seemann getroffen, so würde er aus ihrer völligen Unwissenheit über alles, was den Schiffsdienst betraf, erkannt haben, daß sie Betrüger waren. Vielleicht ist kein Plan erfolgreicher als dieser, der jetzt von einer Bande Schurken und Spitzbuben bis zu einer ungeheuren Ausdehnung betrieben wird; solche Kerle nehmen gelegentlich das Mitleid in Anspruch, erpressen sich aber nur zu oft ein Almosen und vergrößern ihre Beute durch Raub und Diebstahl, den sie an allem üben, was ihnen in den Wurf kommt. Es ist unmöglich, die Wahrheit der Versicherungen bei solchen Vagabunden zu erforschen, und es scheint gefühllos, einem armen Matrosen, der sein alles verloren hat, Beistand zu versagen; selbst der arme Bauer opfert sein Scherflein, und so besteuert das Gesindel das Publikum in einem kaum glaublichen Grade. Man muß jedoch wissen, daß gegenwärtig in allen Fällen von Schiffbruch die Matrosen alsbald Unterstützung und anständige Kleidung, desgleichen auch die Mittel erhalten, um nach einem Orte zu reisen, wo sie Beschäftigung finden können. So oft daher ein Mann in halbnacktem Zustande die Barmherzigkeit anderer Leute in Anspruch nimmt, darf man mit Zuversicht darauf zählen, daß er ein Taugenichts und Betrüger ist.

Die beiden Männer sprachen laut und lachten mit einander, als sie auf unsern Helden zukamen. Wie sie ihm ganz nahe waren, faßten sie ihn scharf ins Auge, traten vor ihn hin und versperrten ihm den Weg.

»Holla, mein kleiner Matrose, wohin steuerst Du?« sagte einer zu Joey, welcher noch immer seinen gewöhnlichen Matrosenanzug trug.

»Sag an, Bürschlein, was hast Du in diesem Bündel?« rief der andere, »und wie bist Du mit Nägeln beschlagen? Hast Du nichts übrig für verunglückte Kameraden? Na, greife in Deine Taschen, oder soll ich das Geschäft für Dich übernehmen?«

Joey wollte diese Einleitung gar nicht gefallen; er trat in die Fahrstraße hinüber und versetzte:

»Ich habe kein Geld, und das Bündel enthält meine Kleider.«

»Komm, komm!« sagte der erste, »meinst Du, Du könntest uns so entwischen? Gieb Dein Bündel her, daß wir's visitieren, wenn Du nicht willst, daß ich Dir das Gehirn aus dem Schädel schlage.«

Mit diesen Worten ging der Mann gleichfalls in die Fahrstraße hinüber und verfolgte Joey, der sich nach der andern Seite zurückzog.

Nun war aber auf der andern Seite des Weges kein Fußpfad, sondern eine sehr starke Hecke, viel zu dicht, als daß ein Mann mit Gewalt sich Bahn dadurch hätte brechen können. Joey bemerkte dies, und als der Mann nach dem Bündel greifen wollte, gelang es ihm durch eine gewaltige Anstrengung, es über die Hecke weg auf das drüben liegende Feld zu werfen. Der Kerl, ganz wütend über die Maßregel unseres Helden, rannte auf ihn zu, um ihn zu packen; aber Joey huschte unter ihm weg und eilte die Straße hinab, wo er einen schweren Stein aufhob und im Verteidigungszustande verblieb, fest entschlossen, sein Bündel wenigstens gutwillig nicht aufzugeben.

»Halt ihn fest, Bill; ich will hinübergehen und das Bündel holen«, sagte der Mann, welcher Joey über die Straße verfolgt hatte und sich nun in Bewegung setzte, um das Gatter oder einen Eingang vom Felde aus zu suchen, während der andere auf unseren Helden Jagd machte. Joey ergriff in voller Eile den Rückzug; der Kerl konnte nicht gleichen Schritt mit ihm halten, da er keine Schuhe hatte und die Straße neu mit Kies beschüttet war. Als Joey dies bemerkte, mäßigte er seine Hast, und wie ihm der Mann ziemlich nahe war, wandte er sich plötzlich um, zielte mit großer Sicherheit und traf den Gauner auf die Stirn, so daß derselbe bewußtlos niederfiel. In der Zwischenzeit hatte der andere Galgenstrick die entgegengesetzte Seite des Weges nach einem Gatter untersucht, und Joey, der nun seines Angreifers ledig war, bemerkte mit einemmale in der Hecke eine Öffnung, durch welche er kriechen konnte. Er schlüpfte in das Feld hinüber und eilte nach seinem Bündel, das er eben noch erreichte, als auch der andere Mann, welchem das verschlossene und mit Dornen besteckte Gatter Hindernisse in den Weg gelegt hatte, auf dem Felde anlangte.

Joey eilte nun wieder mit Blitzesgeschwindigkeit nach der Gehegeöffnung zurück, warf sein Bündel auf die Straße und folgte demselben nach, während der Spitzbube wohl noch hundert Schritte von ihm entfernt war. Einmal wieder auf seinem Wege, gab Joey Fersengeld und blickte erst, nachdem er etliche hundert Schritte gelaufen, zurück, um sich zu überzeugen, ob er nicht verfolgt würde; bei dieser Gelegenheit bemerkte er, daß der andere Mann neben seinem Kameraden stand, der noch immer an der Stelle lag, wo er gefallen war. Da er sich nun für sicher hielt, so verfolgte er seine Reise mit mäßigerer Geschwindigkeit, obgleich er vorsichtshalber alle fünfzig Schritte zurückblickte; aber die Kerle mußten trotzdem, daß sie die Gelegenheit zu einem scheinbar so leichten Raube nicht entschlüpfen lassen wollten, doch ihre besonderen Gründe zur Fortsetzung ihrer Wanderschaft haben und beeilten sich aus diesem Teile des Landes zu kommen.

Unser Held war wieder etliche Meilen weiter gekommen und sah sich eben nach einem Bache oder einer Quelle um, weil er seinen Durst zu löschen wünschte, als er in einiger Entfernung etwas an dem Wege liegen sah. Wie er näher kam, entdeckte er, daß es ein im Grase ausgestreckter Mann war, der zu schlafen schien, und einige Ellen davon stand ein Scherenschleiferkarren neben einigen Gerätschaften, wie sie wandernde Kesselflicker mit sich zu führen pflegen. Ein kaum erst erloschenes Feuer entsandte dünne Rauchsäulen, und eine umgestürzte Pfanne lag daneben. Der Anblick war von der Art, daß unser Held Verdacht schöpfte, es sei nicht alles richtig; statt also vorüberzugehen, begab er sich nach der Stelle hin, wo der Fremde lag, und entdeckte bald, daß dessen Gesicht und Kleider mit Blut befleckt waren. Joey kniete an seiner Seite nieder und fand, daß der Mann besinnungslos war, aber doch noch schwer aufatmete. Er knüpfte ihm das sehr dicht angezogene Halstuch auf, was dem Fremden auf der Stelle Erleichterung verschaffte, denn er schlug bald die Augen auf. Nach einer Weile gelang es dem letzteren, das einzige Wort »Wasser« hervorzustoßen, worauf Joey die leere Pfanne aufnahm und sich anschickte, danach zu suchen. Er fand bald, was er wünschte, und brachte es zurück. Inzwischen hatte sich der Kesselflicker bedeutend erholt, und sobald er von dem Wasser getrunken, setzte er sich aufrecht.

»Verlasse mich nicht, Knabe«, sagte der Kesselflicker, »denn ich fühle mich sehr schwach.«

»Ich will bei Euch bleiben, solange ich Euch von einigem Nutzen sein kann«, versetzte Joey. »Was ist Euch begegnet?«

»Ich bin beraubt und fast ermordet worden«, antwortete der Mann mit einem tiefen Stöhnen.

»Etwa von jenen zwei Spitzbuben ohne Schuhe und Strümpfe, die auch mich zu berauben suchten?« fragte Joey.

»Ja, ohne Zweifel von den nämlichen. Ich muß noch eine Weile liegen bleiben, denn mein Kopf ist gar elend«, entgegnete der Fremde, indem er wieder auf das Gras zurücksank.

Nach einigen Minuten versank der erschöpfte Mann in Schlaf, und Joey blieb wohl zwei Stunden an seiner Seite sitzen. Endlich erwachte sein neuer Gefährte, richtete sich auf, tauchte sein Schnupftuch in die mit Wasser gefüllte Pfanne und wusch sich das Blut von Kopf und Gesicht.

»Es hätte können noch schlimmer ausfallen, Bürschlein«, sagte er zu Joey, nachdem er sich das Gesicht abgewischt hatte. »Einer von diesen Halunken hätte mich beinahe erdrosselt, so fest hat er mir das Halstuch zugeschnürt. Es ist doch eine gottlose Welt, wenn man einem Nebenmenschen wegen dreizehn Pence nach dem Leben trachtet, denn dies war alles Geld, das sie in meiner Tasche fanden. Hätte doch gemeint, daß ein armer Kesselflicker vor Straßenräubern sicher sei! Hast Du nicht gesagt, sie hätten auch Dich angegriffen, oder träumte ich bloß?«

»Ja, das sagte ich Euch; es war kein Traum.«

»Und wie wurde es einer so kleinen Schnake, wie Du bist, möglich, zu entkommen?«

Joey gab dem Kesselflicker einen ausführlichen Bericht über sein Abenteuer mit den Barfüßlern.

»Das hast Du gescheit gemacht, Knabe, und es war auch sehr freundlich von Dir, daß Du mir zu Hilfe kamst und an meiner Seite bliebst. Ich kam gleichfalls straßabwärts, wie Du, und so haben wir beide vermutlich den nämlichen Weg zu gehen«, versetzte der Kesselflicker.

»Fühlt Ihr Euch kräftig genug, um die Wanderschaft wieder anzutreten?«

»Ja, ich denke wohl, wenn ich da nur nicht meinen Schleiferkarren hätte.«

»O, den will ich für Euch ziehen.«

»Thue das, mein guter Knabe, denn ich zittere noch sehr, auch würde er vorderhand zu schwer für mich sein.«

Joey legte sein Bündel samt Pfanne und dem übrigen Zeug in den Karren und zog ihn, von dem Kesselflicker begleitet, weiter, bis sie nach einem Wege von ungefähr zwei Meilen an ein kleines Dörfchen gelangten. Fünfzig Schritte vor dem ersten Bauernhause machten sie Halt. Der Kesselflicker suchte sich ein trockenes Plätzchen unter der Hecke aus und sagte:

»Ich muß hier ein wenig verweilen.«

Joey hatte den Kesselflicker sagen hören, die Spitzbuben hätten ihm dreizehn Pence gestohlen; er wünschte seines Weges weiter zu ziehen, und da er den Mann für ganz mittellos hielt, so nahm er zwei Schillinge aus seiner Tasche, die er ihm mit den Worten hinbot:

»Damit könnt Ihr schon ausreichen, bis Ihr wieder etwas verdienen könnt. Gott behüte Euch – ich muß weiter.«

Der Kesselflicker sah Joey an.

»Du bist jedenfalls ein gutherziger Knabe, auch gescheit und keck, wenn ich nicht irre«, versetzte er. »Stecke übrigens immerhin Dein Geld ein, denn ich brauche es nicht. Ich habe genug bei mir, wenn die Galgenstricke nur gewußt hätten, wo sie's suchen mußten.«

Joey hatte während dieser Worte seinen neuen Begleiter gut ins Auge gefaßt. Die Haltung des Mannes bekundete eine gewisse Freimütigkeit und Unabhängigkeit, wie denn auch dessen Benehmen und Sprache eine Feinheit verriet, die sich von einem Menschen in so niedriger Stellung nicht wohl erwarten ließ. Der Kesselflicker bemerkte die prüfenden Blicke und fragte:

»Nun, was geht Dir jetzt durch den Kopf?«

»Ich machte mir eben Gedanken darüber, daß Ihr wahrscheinlich nicht immer Kesselflicker gewesen seid.«

»Und auch ich stelle mir vor, daß Du nicht stets ein Matrose warst, mein Junkerlein. Wie dem übrigens sein mag, Du thust mir einen Gefallen, wenn Du ins Dorf gehst und ein Frühstück für uns holst. Ich will Dir das Geld bezahlen, wenn Du wieder zurückkommst, und dann können wir noch ein bischen miteinander plaudern.«

Joey ging in das Dorf, fand daselbst einen kleinen Kramladen und kaufte etwas Brot und Käse, desgleichen auch einen Krug Bier, der eine Maß halten mochte, und kehrte dann wieder zu dem Kesselflicker zurück. Sobald sie ihr Frühstück eingenommen hatten, stand Joey auf und sagte:

»Ich muß jetzt meine Wanderschaft wieder aufnehmen; hoffentlich wird's Euch morgen wieder besser sein.«

»Hast Du's denn gar so eilig, mein Junge?« fragte der Kesselflicker.

»Ich bin ohne Beschäftigung«, versetzte Joey, »und muß mich daher nach einer Stelle umsehen.«

»Und was für eine Beschäftigung möchtest Du denn eigentlich haben? Vielleicht kann ich etwas für Dich thun.«

»Das weiß ich selbst nicht; bisher habe ich für eine Frau die Hausbücher geführt.«

»Dann bist Du also ein Stück vom Schreiberfach und gehörst nicht der See an?«

»Ich bin kein Matrose, wenn Ihr so wollt, aber doch war ich durch meine Dienste auf der Themse beschäftigt.«

»Nun, wenn Du ein Unterkommen zu finden wünschest, so kann ich Dir vielleicht an die Hand gehen, denn ich bin in der Gegend und mit den Leuten gut bekannt. Jedenfalls kann Dir's auf ein paar Tage nicht gerade ankommen, und siehst Du, Knabe, morgen bin ich im stande, wieder zu arbeiten; ich stehe dann dafür, daß ich für uns beide Essen und Trinken verdiene. Was sagst Du dazu? Meinst Du nicht, es wäre besser, Du wandertest ein paar Tage mit mir? Wir können uns ja immer trennen, wenn ich eine Beschäftigung gefunden habe, die Dir zusagt.«

»Wenn Ihr Euch meiner annehmen wollt, so bleibe ich mit Freuden bei Euch.«

»'s bleibt also dabei«, sagte der Kesselflicker. »Ich möchte Dir ein gutes Unterkommen verschaffen, ehe wir uns Lebewohl sagen, und ich hoffe, es wird mir gelingen. Jedenfalls kannst Du, wenn Du noch eine Weile bei mir bleibst, ein Gewerbe lernen, das Dir Dein Brot einbringt, wenn alles andere fehlschlägt.«

»Ihr meint, Kesselflicken und Messerschleifen?«

»Allerdings; und verlaß Dich darauf; wenn Du Dir ein sicheres Auskommen verschaffen willst, so mußt Du Dir eine Profession wählen, welche Dich nicht von den Launen und der Gönnerschaft anderer Leute abhängig macht. Kessel und Pfannen nützen sich ab, mein Junge, und Messer und Scheren werden stumpf; ist Dir's daher um eine gute Hantierung zu thun, so rufe immerhin durch die Straßen: ›Kesselflick, Scherenschleif! Scherenschleif!‹ Ich habe es mit allerlei Gewerben versucht, aber keines hat mir so gut zugesagt. Und nun wir unser Frühstück eingenommen haben, können wir uns ebenso gut nach einer Nachtherberge umsehen, denn ich schätze wohl, Du bist nicht daran gewöhnt, den Himmel zur Decke zu haben, obgleich ich ihn recht oft vorziehe. Nun, spanne Dich wieder an den Karren; ich will's mit meinem alten Quartiere probieren.«

Der Scherenschleifer ging, von dem ihm den Karren ziehenden Joey begleitet, ins Dorf und machte vor einem Bauernhause Halt, wo er sogleich erkannt und bewillkommt wurde. Joey erhielt die Weisung, den Schleiferkarren in einem Schuppen unterzubringen, und folgte dann dem Kesselflicker in die Hütte. Der letztere erzählte seine Geschichte, welche viel Staunen und Unwillen erregte, beklagte sich dann über seinen Kopf und zog sich nach einer Lagerstätte zurück, während Joey sich mit den Kindern unterhielt. Sie fanden bei den Bauersleuten Kost und Nachtherberge, ohne daß dieselben für die Bewirtung Geld annehmen wollten. Am andern Tage fühlte sich der Kesselflicker wieder vollkommen hergestellt; er flickte seiner Wirtin einen Kessel, schliff etliche Messer und machte sich dann wieder auf den Weg, während Joey den Karren hintendrein rollte.


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