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Dreiundvierzigstes Kapitel.

Ist sehr lang, da es eine sehr lange Geschichte enthält, welche nicht unterbrochen werden kann.


Man kann geraume Zeit ohne einen bestimmten Zweck in London umhergehen und doch Unterhaltung finden, denn es giebt wenige angenehmere, belehrendere und zum Nachdenken mehr anregende Beschäftigungen, als durch die Ladenfenster zu blicken. Man zahlt einen Schilling, um eine Ausstellung zu sehen, während man hier den Vorteil hat, viel sehen zu können, ohne einen Heller zu bezahlen, vorausgesetzt, daß man auf sein Schnupftuch acht hat. Unser Held erging sich in einer ähnlichen Belustigung; an dem einen Laden entdeckte er, daß prachtvolle Shawls für ein Pfund, seidene Taschentücher zu drei Schillingen sechs Pence, und ungebleichte irische Leinwand merkwürdig wohlfeil zu haben war; in dem andern hing eine Reihe Uhren; silberne von zehn Schillingen an bis zu den goldenen und emaillierten im Preise von zwölf oder vierzehn Guineen, alle mit Gewährleistung für guten Gang; anderswo fand sich Pelzwerk zu halbem Preis, weil im Sommer niemand dergleichen trug. Er ging weiter und kam zu einem Hause, wo eine Menge von Ölgemälden zum Verkauf ausgesetzt war, aus denen der Vorübergehende entnehmen konnte, daß derartige Gemälde gerade zu der Klasse gehörten, welche er nicht kaufen sollte. Eine Kunsthandlung gab ihm einen Begriff von den Verdiensten der Kompositionen und Entwürfen unterschiedlicher Meister, und da er sich nicht selbst nach dem Vatikan verpflanzen konnte, so war es ebenso gut, daß er sehen konnte, was der Vatikan enthielt: seine Gedanken weilten bei Rom und dessen früherer Glorie. Ein Tabaksladen versetzte ihn nach dem Staate Virginien, wohin in früheren Zeiten so viele Menschen deportiert worden waren. Ein Spezereihändler entrückte ihn noch weiter nach West-Indien mit seinem Negerstaat, und von da aus wie durch Zauberei nach den Molukken und deren würzig duftenden Lustwäldern. Ein Raritätenladen mit Bronze, Porzellan, eingelegter Arbeit, Borten und alten Waffen umfaßte mit einem Male etliche Jahrhunderte; der Beschauer gedachte der Ritterzeiten, des fünfzehnten Jahrhunderts, der Schönen aus der Rokokozeit, des Bernsteinstockknopfs und der Schnupftabaksdose der süßen Herrchen, welche um ihr Lächeln buhlten – jetzt alle dahin, alle Staub; die Werke von Menschenhand, sogar Teile ihres Anzugs waren noch vorhanden – der Mensch selbst ist das Vergänglichste.

Unser Held ging weiter; seine Gedanken schweiften umher, wie er selbst, wenn seine Aufmerksamkeit durch eines jener Plakate gefesselt wurde, deren Zucht sich in letzter Zeit so sehr verbessert zu haben scheint, da sie mit jedem Tage größer und größer werden; wie weit es noch kommen wird, ist nicht abzusehen, wenn zuletzt nicht gar endlose Plakate zur Tagesordnung kommen. Eine der gedachten Ankündigungen meldete, daß selbigen Abend außer Feuerwerk, Wasserkünsten und noch allerlei anderen Spektakelstückchen in Vauxhall auch ein Maskenball stattfinden werde. Unser Held hatte schon von Vauxhall gehört; seine Neugierde wurde dadurch gefesselt, und er beschloß, den Abend dort zu verbringen, da Vauxhall damals ein ziemlich fashionabler Belustigungsort war.

Da es halb sieben Uhr, folglich Zeit zum Aufbruch war, so lenkte er seine Schritte nach der Westminsterbrücke; er hielt sich nur drei Minuten auf, um durch die Ballustraden nach den Barken und Fahrbooten zu sehen, die den Strom auf- und abgingen, und fand endlich, nachdem er dreimal hinsichtlich des Weges Erkundigung eingezogen, den Eingang zu Vauxhall, wo er sein Eintrittsgeld bezahlte und eintrat. Es gab ziemlich gemischte Gesellschaft, aber nicht viele Masken; da war ein Mann in einer Messingrüstung, der ganz regungslos dastand, denn seine Armatur war so schwer, daß er kaum ihr Gewicht zu schleppen vermochte. Sie mußte ihm in einer so warmen Nacht sehr beschwerlich fallen, aber die Vorübergehenden staunten ihn an, und er fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, welche er auf sich zog, mehr als belohnt; er blieb daher geduldig stehen. Auch trieben sich etwa fünfundzwanzig Klowns in ihrem scheckigen Anzuge, sieben oder acht Pantalons, drei Teufel und vielleicht vierzig oder fünfzig Dominos umher. Joey fand sich bald bei einem hell erleuchteten Orchester und horchte sehr aufmerksam auf eine Dame in Straußenfedern, welche eine dem Auditorium ganz unverständliche Bravourarie sang, während die hintenstehenden Gentlemen in Stülphüten ihre Stimme begleiteten. Er lehnte eben an einem der Bäume, wo, ohne daß er es merkte, eine lecke Lampe ihr Öl auf seinen Rock niederträufelte, als zwei Männer herantraten und auf der andern Seite des Baumstammes stehen blieben; der eine sagte zu dem andern:

»Ich sag' Dir, Joseph, sie ist da und zwar mit dem Christen. Manasseh hat den Kutscher ausgefragt, und dieser hat's ihm gesagt. Sie kehrt nicht mehr zurück ins Haus ihres Vaters, wenn's uns nicht gelingt, sie heute Nacht aufzufinden.«

»Was! will sie eine Meschomet werden – eine Abtrünnige?« rief der andere, »lieber will ich sie sehen zuerst in ihrem Grabe. Adonai! die Tochter von einem Rabbiner soll bringen solche Schande auf ihre Familie! Wahrhaftig, unsere Sünden und die Sünden unserer Väter haben gebracht dieses Uebel über unser Haus. Wenn ich ihn treffe, stech' ich ihm 's Messer ins Herz!«

»Leman Heschem! Um Deines heiligen Namens willen, mein Sohn, bedenk', was Du sagst; Du mußt nicht sein so rasch. Wehe über uns! Aber wir sind gemischt unter die Heiden. Sie muß stecken in einem von den moabitischen Kleidern«, fuhr der ältere von den beiden Männern fort, in welchen unser Held augenblicklich Kinder des Hauses Israel erkannte. »Manasseh sagt mir, er habe anderswoher erfahren, daß der Christ sich habe gemietet einen Domino, schwarz mit weißen Ärmelschlitzen; daran kann man ihn erkennen. Wenn wir einen solchen Anzug sehen, müssen wir nachgehen, und ist ein Mädchen bei ihm, so muß es Deine Schwester Mirjam sein.«

»Ich will nachsuchen und nach einer halben Stunde mit Euch hier zusammentreffen«, versetzte der jüngere.

»Joseph, mein Sohn, wir dürfen uns nicht trennen; ich kann Dich nicht lassen in Deinem Zorne, denn ich weiß, Du hast Waffen bei Dir. Wir müssen bei einander bleiben. Ruach Hakodesch! möge der Geist Gottes uns leiten und zurückgegeben werden die Tochter unserem Hause, denn sie ist jetzt die Bitterkeit meines Herzens und der Kummer meiner Seele.«

»Laß mich nur entdecken den Gog, den Ungläubigen!« versetzte der Sohn, dem Vater folgend, und unser Held bemerkte, daß er nach einem halb aus der Scheide gezogenen Dolch in die Brust langte.

Joey begriff leicht, wie die Sachen standen. Ein Judenmädchen hielt ein Rendezvous mit einem jungen Christen oder war mit demselben davongelaufen, und ihr Vater hatte sich mit seinem Sohne aufgemacht, um sie zu verfolgen.

»Das ist alles ganz gut,« dachte der Held, »aber obgleich sie guten Grund haben mögen, eine Verhinderung der Heirat zu wünschen, so will mir doch der kalte Stahl gar nicht gefallen, den der junge Israelite in der Hand hatte. Wenn ich mit den Verfolgten zusammentreffe, will ich sie jedenfalls warnen.«

Damit wandte sich Joey von dem Orchester ab und ging nach dem bedeckten Wege, der zu den sogenannten dunkeln Gängen führt. Dort, ganz am Anfang derselben, bemerkte er, daß zwei Dominos auf ihn zukamen; der kleinere hing in den Armen des größeren, woraus er im Augenblicke erkannte, daß es ein Mann mit einem Frauenzimmer war. Nachdem sie sich dem beleuchteten Gange auf zehn Schritte genähert hatten, wandten sie sich plötzlich um, und nun bemerkte Joey, daß die größere Maske weiße Ärmelschlitzen hatte. »Diese ist's«, dachte unser Held. »Nun, 's ist nicht geheuer für sie, hier spazieren zu gehen, denn es könnte ein Mord begangen werden, dem kaum zu entrinnen wäre, wenn sie aufgefunden würde. Jedenfalls will ich ihnen einen Wink geben.«

Joey folgte dem Paare und holte sie auch bald ein. Da er leise auftrat und sie in angelegentlichem Gespräche begriffen waren, so achteten sie seiner nicht, bis er nur noch ein paar Fuß von ihnen entfernt war; dann wandte sich der größere Domino plötzlich ungeduldig um, als wollte er fragen, was diese Aufdringlichkeit zu bedeuten habe.

»Wenn Sie der rechte Mann, den ich meine, sind, so lauert man Ihnen auf, und Sie sind in Gefahr«, sagte Joey, auf ihn zugehend und ihn in gedämpftem Tone anredend.

»Wer ist's, der mir eine solche Nachricht giebt?« versetzte der Domino.

»Ein Fremder, der Sie auch dann nicht kennen würde, wenn Sie Ihre Maske abnehmen würden, Sir; aber ich hörte zufälligerweise ein Gespräch, das eine Person betraf, welche einen Domino trägt, wie Sie. Ich kann mich getäuscht haben; wenn übrigens dem so ist, so verschlägt es Ihnen ja nichts.«

Und unser Held wandte sich ab.

»Halte ihn zurück, lieber Heinrich«, sagte eine sanfte Frauenstimme; »ich fürchte, es ist Gefahr um den Weg und es ist bloß Menschenfreundlichkeit von ihm, daß er Dich warnt.«

Der größere Domino folgte Joey augenblicklich und redete ihn an, indem er wegen seiner Barschheit auf die mitgeteilte Warnung um Entschuldigung bat und dieselbe der plötzlichen Überraschung zuschrieb; er ersuchte sodann unsern Helden, er möchte ihm weiter mitteilen, warum er es für nötig gehalten habe, ihm den gedachten Wink zu geben.

»Das will ich Ihnen gerne mitteilen. Es ist nicht meine Sache, mich in anderer Leute Händel zu mengen, aber als ich sah, daß der eine einen Dolch bei sich führte – –«

»Einen Dolch?« rief das Frauenzimmer, das sich jetzt ihnen angeschlossen hatte.

»Ja«, versetzte Joey, »und er schien entschlossen zu sein, davon Gebrauch zu machen. Mit einem Worte, Madame, ist Ihr Name Mirjam? Wenn dem so ist, so handelt sich's um Sie; andernfalls brauche ich nichts weiter zu sagen.«

»Es ist von ihr die Rede«, entgegnet der Domino, »und ich werde es Ihnen Dank wissen, wenn Sie fortfahren.«

Joey teilte ihnen nun kurz mit, was er gehört, und daß die Verwandten des Mädchens aus seien, um sie zu verfolgen.

»Wir sind verloren«, rief das junge Frauenzimmer. »Wir werden nicht aus dem Garten entkommen! Was sollen wir beginnen? Mein Bruder ist in seinem Zorne, wie ein junger Löwe.«

»Es ist mir weniger um mich«, versetzte der Domino. »Ich kann mich verteidigen; aber wenn sie uns treffen, werde ich Dich verlieren. Dein Vater würde Dich fortreißen, während ich mit Deinem Bruder anbinde.«

»Jedenfalls, Sir, möchte ich Ihnen empfehlen, nicht in den dunkeln Gängen zu bleiben, nun Sie wissen, was um den Weg ist«, entgegnete unser Held.

»Und doch, wenn wir nach dem beleuchteten Teile des Gartens gehen, werden wir erkannt, da sie, wie es scheint, Kunde von meinem Anzug haben.«

»So legen Sie ihn ab«, sagte Joey.

»Aber dann kennt man mich nur um so besser«, erwiderte der Domino. »Ihr Benehmen ist so freundlich gewesen, Sir, daß Sie vielleicht geneigt sind, uns beizustehen.«

Unser Held war selbst verliebt und fühlte daher Teilnahme für Personen in der gleichen Lage. Er antwortete, wenn er ihnen nützlich werden könne, so stehe er ihnen zu Diensten.

»Dann, liebe Mirjam, möchte ich Dir vorschlagen, daß Du Dich unter den Schutz des Fremden begiebst. Ich glaube, Du kommst nicht in Gefahr dabei, denn er hat sich bereits freundlich gegen uns erwiesen. An seiner Seite kannst Du ohne Furcht vor Entdeckung durch die Gärten gehen und Dich nach einem geborgenen Plätzchen führen lassen. Ich will noch eine halbe Stunde hier bleiben. Sollten Deine Verwandten auf mich treffen, so gebricht ihnen, wenn sie auch meinen Anzug kennen, doch aller Grund zu einem Angriffe gegen mich, da Du nicht bei mir bist; ich werde dann nach einer Weile nach Hause gehen.«

»Und was soll aus mir werden?« rief das erschreckte Mädchen.

»Du mußt morgen früh diesen Herrn zu mir schicken, und er wird mir mitteilen, wo Du bist. Ich mache Ihnen viel Mühe, Sir, schenke Ihnen aber zu gleicher Zeit mein volles Vertrauen. Ich hoffe, mein Anliegen wird Ihnen bei Ihren andern Geschäften nicht hinderlich.«

»Seien Sie versichert, Ihr Vertrauen ist nicht am unrechten Orte angebracht, Sir«, versetzte unser Held; »auch habe ich zur Zeit durchaus nichts zu thun. Ich verspreche Ihnen, wenn es die junge Dame wagt, sich einem wildfremden Manne anzuvertrauen, daß Ihrem Ansinnen willfahrt werden soll. Ich trage keine Maske, Fräulein; glauben Sie, daß man mir trauen könne?«

»Ich denke es, Sir – und in der That, ich muß es auch, sonst kommt es zum Blutvergießen. Aber Heinrich, sie kommen – ich kenne sie. Sieh – gerade den Gang hinauf.«

Joey wandte sich um und bemerkte die beiden Männer, deren Gespräch er mit angehört hatte.

»Sie sind's«, sagte er zu dem Herrn im Domino; »verlassen Sie uns und machen Sie sich mehr ins Dunkle. Ich muß den Arm der Dame nehmen und keck an ihnen vorbeigehen. Beeilen Sie sich!«

Unser Held nahm alsbald den Arm der jungen Jüdin und ging mit ihr auf die beiden Männer zu. Er fühlte, daß sie wie Espenlaub zitterte, als sie an ihrem Vater und ihrem Bruder vorbeikam, und fürchtete, die Füße möchten ihr den Dienst versagen. Die dunkeln Augen der Israeliten prüften das Gesicht unseres Helden scharf, als er vorüberging. Joey sandte ihnen gleichfalls einen finstern Blick zu und ging seines Weges weiter. Sobald sie die Juden eine Strecke im Rücken hatten, flüsterte er dem Mädchen zu: »Jetzt sind wir geborgen.«

Joey begleitete seine Pflegebefohlene durch die Gärten, und als er an dem Eingange anlangte, rief er eine Kutsche herbei, in welcher er die Dame fortbrachte.

»Wohin soll er fahren?« fragte unser Held.

»Ich weiß es nicht; gleichviel, wohin es ist – nur weit weg von hier.«

Joey trug dem Manne auf, nach dem Hotel zu fahren, wo er sein Quartier genommen hatte, da ihm kein anderer Ort bekannt war.

Daselbst angelangt ließ er die junge Dame im Wagen und ging hinein, um die Wirtin auf seinen Gast vorzubereiten. Er gab an, er habe sie aus einer sehr gefährlichen Lage gerettet und werde sich der Dame des Hauses sehr verpflichtet fühlen, wenn sie für das Mädchen Sorge tragen wolle, bis sie am andern Morgen ihren Freunden zurückgegeben werden könne. Die Leute haben es gern, wenn man sie zu Rate zieht und ihnen eine gewisse Wichtigkeit beizulegen scheint. Die beleibte alte Dame, welche bereits über die Einführung eines Frauenzimmers im Domino losbrechen wollte, hatte kaum gehört, daß dieselbe unter ihren Schutz gestellt werden sollte, als ihr Gesicht einen milderen Ausdruck gewann, und die Folge war eine gnädige Einwilligung.

Nachdem unser Held seine Pflegebefohlene, deren Gesicht er noch nicht gesehen, abgegeben hatte, begab er sich unverzüglich nach seinem Gemache. Des andern Morgens um neun Uhr ließ er nach dem Befinden seines Schützlings fragen und erhielt darauf die Einladung zu einem Besuch. Als er in das Gemach trat, fand er sie allein. Sie war einigermaßen in orientalischem Stil gekleidet, und Joey staunte nicht wenig über ihre außerordentliche Schönheit.

Ihre Statur war etwas über Mittelgröße, ihr Bau herrlich, und ihre Knöchel, Hände und Füße konnten als Muster der Vollkommenheit gelten. Sie war in der That eine der auserlesensten Vertreterinnen ihrer Nation – ein Prädikat, das wohl jede weitere Schilderung ihres Porträts überflüssig macht. Als Joey eintrat, stand sie auf und begrüßte ihn mit glühenden Wangen. Unser Held, der ihre Verwirrung bemerkte, zögerte nicht, ihr zu versichern, daß er bereit sei, jeden Auftrag zu vollziehen, den sie ihm etwa geben wolle, und drückte die Hoffnung aus, daß ihr die dermalige sehr unangenehme Lage nicht allzu lästig falle.

»Ich bin Ihnen tiefer verpflichtet, Sir, als ich auszusprechen vermag«, versetzte sie, »da Sie mir die wohlwollende Rücksicht zu teil werden ließen, mich unter die Obhut der Wirtin zu stellen; dies allein schon versichert mich, daß ich in den Händen eines Gentleman und eines Mannes von Ehre bin. Ich habe Sie weiter um nichts mehr zu bitten, als daß Sie in Nummer – Berkeley Square vorsprechen und Mr. S... hinterbringen, was Sie für mich zu thun die Güte hatten. Wahrscheinlich wird er Ihnen die Ursache der seltsamen Lage mitteilen, in der Sie uns fanden und uns Ihren Beistand gewährten.«

Da unser Held nichts zu erwidern hatte, so schrieb er die Adresse nieder, verabschiedete sich und begab sich alsbald nach Mr. S...'s Wohnung. Als er Berkeley Street erreichte, begegnete er zwei Männern, in welchen er alsbald den Vater und den Bruder der jungen Israelitin erkannte. Der letztere richtete sein scharfes Auge auf unsern Helden und schien sich seiner zu erinnern; jedenfalls wandten sie sich nach ihm um, folgten ihm, und er hörte den Bruder sagen: »der war bei ihr.«

Joey hielt es jedoch nicht für rätlich, zu warten, bis sie fort wären, denn er fühlte sich überzeugt, daß sie auf der Lauer lagen und daher eine Zögerung zwecklos sein würde. Er klopfte und wurde augenblicklich vorgelassen. Mr. S... ging in großer Aufregung im Zimmer auf und ab, während sein Frühstück noch unberührt auf dem Tische stand. Er hieß unsern Helden mit Wärme willkommen. Sobald Joey ihm von seinen Schritten Nachricht gegeben und mitgeteilt hatte, in wessen Händen sich die junge Dame befand, gedachte er auch des Umstandes, daß die beiden Juden auf der Straße lauerten und daß es ihm vorkomme, sie hätten ihn erkannt.

»Das habe ich erwartet«, versetzte Mr. S..., »aber ich hoffe, sie leicht hintergehen zu können; sie wissen nicht, daß die Hinterseite dieses Hauses mit den Ställen in Verbindung steht, die zu dem Marstall gehören, und wir können auf diesem Wege ausgehen, ohne daß sie uns bemerken. Ich bin Ihnen für Ihre freundliche Vermittelung so viel Dank schuldig, daß ich denselben kaum auszudrücken weiß. Zu einem sind Sie aber aufs entschiedenste berechtigt, und ich würde wenig Aufrichtigkeit beweisen, wenn ich nur einen Augenblick damit zurückhalten wollte – nämlich zu meinem Vertrauen. Sie sollen erfahren, wem Sie Ihren Beistand geleistet und welche Verhältnisse diesen seltsamen Handel herbeigeführt haben. Die junge Dame, Sir, ist, wie Sie wissen, von Geburt eine Jüdin und die Tochter des Rabbiners, eines Mannes von großem Reichtum und sehr alter Familie, denn zuverlässig können sich die Juden in dieser Hinsicht einer weit älteren Abkunft rühmen, als jede andere Nation auf Erden. Ich bin selbst nicht unbemittelt – besitze jedenfalls hinreichend Vermögen, um der Dame, die ich zu meiner Gattin wähle, jede Annehmlichkeit zu sichern, die sie vernünftigerweise verlangen kann. Ich bemerke dies bloß, damit Sie sehen mögen, wie es nicht der Reichtum ihres Vaters war, der mich verlockte. Ich lernte den Rabbiner und seine Tochter kennen, als ich auf dem Festlande reiste; er war auf dem Wege nach England begriffen, als sein Wagen in einem schwierigen Gebirgspasse zusammenbrach; sie hätten auf der Straße übernachten müssen, wenn ich nicht rechtzeitig dazu gekommen und, da ich allein reiste, im stande gewesen wäre, sie nach der nächsten Stadt zu bringen. Ich hatte stets eine große Achtung vor der jüdischen Nation und bin der Ansicht, daß jeder wahre Christ von den gleichen Gefühlen erfüllt sein sollte; doch ich will auf diesen Punkt jetzt nicht eingehen. Wahrscheinlich war meine ungeheuchelte Teilnahme und der Umstand, daß ich in ihrer Geschichte gut bewandert war, der Grund, daß wir uns während eines zweitägigen Verkehrs gegenseitig achten lernten, und wir trennten uns mit dem aufrichtigen Wunsche, daß wir uns in England wieder sehen möchten. In der Zeit, von der ich spreche – es ist dies schon drei Jahre her – war seine Tochter Mirjam verhältnismäßig noch ein Kind, es kam mir damals, wie auch noch lange nachher, nicht entfernt in den Sinn, daß ich etwas anderes für sie fühlen könnte als ein gewöhnliches Wohlwollen; die Umstände jedoch und das Vertrauen, das mir ihr Vater schenkte, brachten uns viel näher. Sie hat keine Mutter mehr. Mit der Zeit fand ich, daß meine Zuneigung zu ihr wuchs; ich prüfte mich und stellte Erwägungen über die Folgen an, denn ich wußte wohl, wie streng die jüdischen Gesetze über den Punkt sind, daß ein Familienglied eine Verbindung mit einem Christen eingeht. Die beteiligte Person steht nicht nur als ehrlos vor den Glaubensgenossen da, sondern die ganze Familie wird gleichsam in die Acht erklärt, und ihren Verstorbenen bleiben die üblichen Begräbnisfeierlichkeiten versagt. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß in dem Falle, wenn ein Jude sich zum Christentum bekehrt, die gleiche Schmach auf seinen Verwandten haftet. Da ich nun dies wußte, so beschloß ich, meine Gefühle zu Mirjam zu bekämpfen, und mied auch deshalb das Haus ihres Vaters; es wäre grausam gewesen, wenn ich meinen Freund (denn das war er mir) in eine solche Lage versetzt hätte, um so mehr, da er als Rabbi sich selbst und seine Kinder hätte anklagen müssen.

Mein Ausbleiben fiel jedoch dem Vater sehr schmerzlich. Er suchte mich auf und drang so sehr in mich, meine Besuche wieder aufzunehmen, daß mir keine andere Wahl blieb, wenn ich ihm nicht meine Gründe namhaft machen wollte, und dies stand mir eben auch nicht an. Ich kam daher nach wie vor wieder ins Haus, obgleich nicht mehr so oft, und traf bei solchen Gelegenheiten stets mit Mirjam zusammen, mit welcher ich nur zu viel allein war, da ihr Vater häufig infolge seiner Berufsgeschäfte abgerufen wurde. Ich nahm mir nun vor, wieder einmal auf Reisen zu gehen, da ich hierin das einzige Mittel sah, ehrenhaft zu handeln und der Gefühle ledig zu werden, welche so sehr die Oberhand über mich gewonnen hatten. Ich begab mich nach dem Hause des Rabbi, um ihm meine Absicht kund zu thun und ihm zugleich Lebewohl zu sagen; als ich jedoch die Treppe hinaufstieg, glitt ich aus und verrenkte mir das Sprunggelenke so ernstlich, daß ich unmöglich mehr auf dem Fuße stehen konnte. Dies entschied unser Schicksal; denn der Vater wollte durchaus nichts von meiner Entfernung hören und erklärte diesen Unfall für eine Strafe, die mich wegen meines übereilten Vornehmens betroffen habe. Ich mußte eine Woche in seinem Hause bleiben, wurde auf ein Sofa gebettet, und während dieser ganzen Zeit war Mirjam meine Pflegerin.

Mirjam zeigte mir allerdings auf jede Weise, die sich mit der Züchtigkeit einer Jungfrau vertrug, ihre Liebe; aber ich versuchte noch einen letzten Kampf. Ich verleugnete meine Gefühle nicht, machte sie jedoch auf die Folgen aufmerksam und erklärte ihr, daß es sowohl meine Freundes- als ihre Kindespflicht sei, diesem vorzubeugen. Sie hörte mir stumm zu, während Thränen aus ihren Augen brachen, und verließ dann das Zimmer.

Des andern Tages schien sie ihre Fassung wieder gewonnen zu haben; sie ließ sich ungezwungen in ein allgemeines Gespräch mit mir ein und ging dann nach einer Weile auf den Ritus ihrer Kirche über. Allmählich kam sie auf das Christentum zu sprechen; sie fragte nach den Gründen unseres Glaubens – kurz, sie veranlaßte mich, mit Wärme auf den Gegenstand einzugehen, und ich suchte ihr nach Kräften zu beweisen, daß der wahre Messias bereits gekommen sei. Während meines Aufenthaltes in dem Hause ersah sie mit Freuden die Gelegenheit, dieses Thema zu erneuern; und da ich hierdurch ihre Aufmerksamkeit von dem Punkte, den ich zu vermeiden wünschte, abzulenken hoffte, so nahm ich keinen Anstand, darauf einzugehen, obschon es mir nicht entfernt beifiel, sie zu unserem Glauben bekehren zu wollen.

Dies war der Stand der Dinge, als ich das Haus wieder verließ und abermals ernstlich daran dachte, mich einer so großen Versuchung zu entziehen. Da kehrte ihr Bruder Joseph von Madrid zurück, wo er sich mehrere Jahre bei einem Onkel aufgehalten hatte, und seine Heimkunft gab Anlaß zu einer Festlichkeit, bei der zu erscheinen ich mich nicht weigern konnte. Er ist ein schöner junger Mann, sehr verständig und gut gebaut, aber von äußerst jähzornigem Charakter, und sein langer Aufenthalt in Spanien hat ihm wahrscheinlich jene rachsüchtigen Ideen eingeflößt, welche in England fast unbekannt sind. Er hegte eine innige Freundschaft für mich, und auch mir gefiel er sehr wohl, denn er ist voll Talent, wennschon zugleich auch rachsüchtig, stolz auf seine Abkunft und mit der ganzen Hartnäckigkeit eines Pharisäers an den Grundsätzen seines Glaubens hangend. In der That erscheint es mir sogar seltsam, daß er je eine so große Vorliebe zu einem Christen fassen konnte, weil er dem jüdischen Volke die talmudischen Lehrsätze predigt, welche ohne Frage Früchte der unermüdlichen und unablässigen Verfolgung sind, welche dem unglücklichen Stamme von solchen zugefügt wurden, die sich Christen nennen und in ihrem Leben so ganz den Vorschriften ihres Glaubensstifters zuwider handeln. Indessen, es war einmal so; Joseph gewann eine große Zuneigung zu mir, war beständig in meinem Hause und zwang mich nur zu oft, das Haus seines Vaters zu besuchen. Endlich entschloß ich mich, England für eine Weile zu verlassen, und hatte bereits meine Vorkehrungen getroffen, da ich ohne Verabschiedung aufzubrechen gedachte, als ich mich eines Morgens mit Mirjam allein fand. Ich saß auf einem Kanapee, und sie ging auf mich zu; ich winkte ihr, sie solle sich neben mich setzen, sie aber blieb in feierlicher Haltung vor mir stehen und heftete ihre dunkeln Gazellenaugen auf mich.

»›Erinnern Sie sich‹, begann sie mit langsamer und ernster Stimme; ›erinnern Sie sich des Gesprächs, das wir mit einander über unsern Glauben hatten? Können Sie sich noch entsinnen, wie Sie mir die Gründe für den Ihrigen angaben und mir bewiesen, daß der Messias bereits gekommen sei?‹

»›Ja, Mirjam‹, versetzte ich; ›aber es geschah durchaus nicht in der Absicht, Ihnen Ihren Glauben zu benehmen, da ich bloß meine eigene gläubige Überzeugung begründen wollte.‹

»›Ich glaube Ihnen das‹, entgegnete Mirjam; ›demungeachtet trage ich etwas bei mir, was, wenn mein Vater oder mein Bruder etwas davon erführe, sie veranlassen würde, mich zu Boden zu schlagen und den Namen des großen Jehovah zu verfluchen.‹ Damit zog sie ein kleines Neues Testament aus ihrem Busen. ›Dies ist das Buch Eures Glaubens; ich habe darin geforscht und ihn mit dem unsrigen verglichen. Ich fand hinreichend Bürgschaft darin, habe auch das gelesen, was die Juden von der Geschichte und den Thaten Jesu von Nazareth erzählen und – bin eine Christin.‹

»Es mag sonderbar erscheinen, aber ich versichere Sie, Sir, Sie können sich gar nicht vorstellen, welchen Schmerz es mir machte, als ich Mirjam sich also zu unserm Glauben bekennen hörte. Ihr zu sagen, daß mir dies leid thue, würde sich schlecht mit meinem Christentum vertragen haben, aber ich fühlte mich furchtbar erschüttert, wenn ich darüber nachdachte, welchen Kummer, welche Schmach dies auf ihre Familie bringen mußte, und daß ich die Ursache sein sollte. Ich konnte nur antworten: ›Wollte Gott, Mirjam, wir hätten uns nie gesehen!‹

»›Ich kenne Ihre Gefühle nur zu gut‹, versetzte sie; ›aber wir haben uns einmal getroffen, und was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Auch mein Herz ist von Kummer und Leid zerrissen, wenn ich an meine Verwandten denke; doch sagen Sie mir, was heischt jetzt meine Pflicht, wenn ich eine aufrichtige Anhängerin Ihres Glaubens bin? – und ich erkläre dies nicht nur bei dem großen Jehovah, sondern auch bei dem gekreuzigten Messias! – Darf ich furchtsam sein und meine Überzeugung verheimlichen um meines Vaters und meines Bruders willen? Lauten nicht seine eigenen Worte: ›Verlasset alles und folget mir nach!‹ Muß ich nicht meine schwache Stimme gleichfalls erheben zum Bekenntnis der Wahrheit, wenn ich mich als eine Christin betrachte? Muß meine Erklärung nicht öffentlich werden? Ja, sie muß und soll es. Können Sie mir deshalb einen Vorwurf machen?‹

»›O nein, ich getraue mir nicht, Ihnen einen Vorwurf zu machen‹, versetzte ich, ›bedaure übrigens, daß die religiösen Verschiedenheiten das bischen Glück, welches uns in dieser Welt zugemessen ist, so sehr verkümmert und daß weder Jude noch Christ zugeben will, was doch unser Erlöser so deutlich erklärt hat – es sei kein Unterschied zwischen Juden, Christen und Heiden. Ich sehe, es folgt viel Elend daraus, und ich kann nicht umhin, schmerzlich zu beklagen, daß man mich als die Ursache davon betrachten und mir schnöden Undank zur Last legen wird.‹

»›Sie thaten Ihre Pflicht‹, versetzte Mirjam, ›und ich bin dadurch bekehrt worden. Jetzt habe aber auch ich meine Pflicht zu erfüllen. Ich weiß wohl, welchen Schmerz mein Vater, meine Verwandten und unser ganzer Stamm empfinden wird; aber wenn sie leiden, leide ich nicht noch mehr? Aus den Thüren des Vaterhauses gestoßen; mit Flüchen und Verwünschungen beladen; keinem Juden gestattet, mir eine Zufluchtsstätte zu bieten, nicht einmal, mir einen Bissen Brot oder einen Tropfen Wasser zu reichen; als Geächtete unstet umherzuirren – das ist das Schicksal, dem ich entgegensehe.‹

»›Nicht doch, Mirjam; wenn Ihr Stamm Sie verläßt –‹

»›Halten Sie einen Augenblick‹, unterbrach mich Mirjam. ›Erinnern Sie sich noch des Gespräches, das wir mit einander hatten, ehe wir den Gegenstand unserer Glaubensverschiedenheit zur Sprache brachten? Erinnern Sie sich, was Sie damals sagten – war es wirklich so oder war es bloß ein Vorwand?‹

»›Es war so wahr, Mirjam, als ich hier stehe. Ich habe Sie lange und innig geliebt – habe mir alle Mühe gegeben, meine Leidenschaft zu bekämpfen, um des Elendes willen, das Ihre Vermählung mit einem Christen über Ihre Verwandten gebracht haben würde; aber wenn Sie darauf bestehen, Ihren Glauben öffentlich zu bekennen, so trifft Sie derselbe Jammer, und ich bin daher doppelt verpflichtet, nicht nur durch meine Liebe, sondern auch deshalb, weil ich Anlaß zu dieser Ihrer schrecklichen Lage gegeben habe, Ihnen nicht nur ein Asyl, sondern auch mein Herz und meine Hand anzubieten, wenn Sie dieselben annehmen wollen.‹

»Mirjam faltete die Arme über ihre Brust und kniete mit zur Erde gesenkten Augen nieder. ›Ich kann nur mit den Worten Ruths antworten‹, versetzte sie mit leiser Stimme und bebenden Lippen.

»Ich brauche kaum zu sagen, daß nach dieser Besprechung die Sache entschieden war. Nun handelte sich's aber um die große Schwierigkeit, sie aus dem Hause fortzuschaffen, denn man muß in dem Innern der Wohnung eines Juden von Rang gewesen sein, um sich eine Vorstellung machen zu können, wie sie eingerichtet sind. Es war unmöglich, daß Mirjam eine Stunde abwesend sein konnte, ohne vermißt zu werden, und allein auszugehen, ohne daß man sie sah, war gleichfalls schwierig. Ihre Muhme ist an einen Juden verheiratet, der in Tavistock-Street Maskenball-Anzüge ausleiht, und sie begleitet hin und wieder ihren Vater oder ihren Bruder dorthin, wo sie sich natürlich zu ihrer Cousine nach dem Frauengemache hinaufbegab, während ihre männlichen Verwandten unten blieben. Wir bauten hierauf einen Plan: am ersten Maskeradenabende zu Vauxhall sollte sie ihren Vater und ihren Bruder bereden, mit ihr zu der Muhme zu gehen. Der Verabredung gemäß mußte ich in der Nähe mit einem Wagen halten, sobald sie ins Haus gegangen war, wie andere Kunden vorfahren, mir ein paar Dominos geben lassen und dann warten, bis sie dem Frauengemache entwischen und auf die Straße herunter kommen konnte, wo ich sie in den Wagen hob und nach Vauxhall fuhr. Sie fragen mich, warum gerade dorthin? Weil ihre Entweichung schon nach wenigen Minuten verraten werden mußte, und es wäre fast unmöglich gewesen, sie fortzuschaffen, ohne daß wir entdeckt worden wären, denn ich war den Leuten zu gut bekannt. Sie erinnern sich, daß Manasseh, der in dem Laden war, Ihnen mitteilte, daß mein Domino mit weißen Ärmelschlitzen versehen sei; er kannte mich also, als ich mir die Maskenkleider reichen ließ. Hätte ich nicht den Ungestüm des Bruders gekannt, so würde ich mir wenig daraus gemacht haben, wenn er mir nach meinem Hause oder nach jedem anderen Orte gefolgt wäre; aber seine Gemütsart ist so heftig, daß er ohne Zweifel in seinem Zorn und in seiner Wut die Schwester geopfert hätte, wie Sie sich ja selbst nach dem, was Sie gesehen und gehört haben, überzeugen können. Ich war daher der Ansicht, wenn wir uns in das Maskengedränge zu Vauxhall mischten, so könnten wir ihnen ausweichen, und sie müßten unsere Spur völlig verlieren. Ich glaube nun, Sie mit jedem Umstande bekannt gemacht zu haben, und hoffe, daß Sie mir auch ferner Ihren wertvollen Beistand leihen werden.«

»Zuverlässig«, versetzte unser Held; »ich habe mich ja dazu verpflichtet. Indessen kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die beiden Juden mich als die Person erkannt haben, welche Mirjam aus dem dunkeln Gange führte. Sind sie nachher mit Ihnen zusammengetroffen?«

»Nein«, versetzte Mr. S...; »ich ließ sie eine Weile umhergehen, ohne mich ihnen zu nähern. Als sie am weitesten Ende des Gartens waren, beeilte ich mich und nahm eine Kutsche nach Hause, ehe sie mir nahe genug kamen, um mich zu erkennen, und vielleicht wurde ihnen dies erst möglich, als sie in der Entfernung meine Hast bemerkten.«

»Und was sind nun Ihre gegenwärtigen Absichten?« fragte unser Held.

»Ich wünschte, daß Sie mit mir nach Ihrem Hotel zurückkehrten«, antwortete Mr. S... »Ich will dann einen Wagen nehmen und, so schnell als uns vier Pferde tragen können, nach Schottland eilen, wo ich mit Mirjam den Ehebund einzugehen gedenke. Es wird wohl das beste sein, wenn ich England sobald wie möglich verlasse, damit sich der Zorn und Unwille ihrer Verwandten verkühlen kann.«

»Ihr Plan scheint mir gut«, entgegnete Joey; »ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«

Einige Minuten später gingen Mr. S... und unser Held auf dem hinteren Wege durch den Marstall und gelangten bald an einen Kutschenstand, wo sie einen Wagen nahmen und nach dem Hotel fuhren.

Sie hatten sich jedoch noch keine fünf Minuten bei Mirjam befunden, als der Kellner in großer Unruhe eintrat und die Meldung machte, daß sich zwei Gentlemen die Treppe heraufdrängten, obgleich der Wirt und das Dienstpersonal sich alle Mühe gäben, dieselben zurückzuhalten. Joseph und sein Vater hatten nämlich bemerkt, wie unser Held mit Mr. S... aus dem Marstall kam, und waren den beiden auf dem Fuße gefolgt, indem sie von demselben Stande einen Wagen nahmen und dem Kutscher auftrugen, er solle dem, in welchem Joey und Mr. S... saßen, nachfahren.

Der Kellner hatte kaum Zeit gehabt diese Mitteilung zu machen, als die Thür aufgestoßen wurde; erschreckt flüchtete er sich hinter unsern Helden und Mr. S..., in dessen Armen Mirjam Schutz suchte. Die beiden Juden konnten jedoch nicht eintreten, ohne von seiten des Wirtes und der Kellner, die ihnen Vorstellungen machten und sie zurückzuhalten versuchten, Widerstand zu erfahren; aber Joseph riß sich los von ihnen und stürzte mit gezogenem Dolche herein, der ihm jedoch von unserem herzueilenden Helden rasch aus der Hand gedreht wurde. Der wütende Israelit griff dann nach einer schweren Bronce-Uhr auf dem Seitentische und rief: ›dies für den Goi und die Meschomet‹! indem er sie mit aller Kraft vorwärts schleuderte. Das Geschoß verfehlte jedoch die Personen, welchen es zugedacht war, und traf den Kellner, welcher sich hinter sie geflüchtet hatte; derselbe sank mit gebrochenem Schädel besinnungslos zu Boden.

Nun stürzten der Wirt und seine Helfer auf Joseph und seinen Vater los. Man schickte nach Polizeibeamten, und nach einem verzweifelten Widerstande wurden die Israeliten nach dem Polizeibureau gebracht, während Mr. S... und Mirjam unangefochten blieben. Unser Held wurde jedoch aufgefordert, auf der Polizei bei dem Verhöre anwesend zu sein; er konnte sich diesem Ansinnen natürlich nicht entziehen. Die ganze Gesellschaft mußte eine Viertelstunde warten, bis ein anderer Fall abgemacht war und der Friedensrichter den neuen vernehmen konnte; auch traf, ehe dies noch geschah, der Wundarzt ein und brachte die Meldung, daß der unglückliche Kellner gestorben sei. Die Angaben wurden zu Protokoll genommen, die beiden Israeliten in Haft gesetzt und Joey nebst einigen andern verpflichtet, als Zeugen zu erscheinen. In ungefähr zwei Stunden kehrte unser Held wieder nach seinem Gasthause zurück, wo er fand, daß Mr. S... ein Schreiben hinterlassen hatte, in welchem derselbe angab, er habe es für rätlich gefunden, sogleich aufzubrechen, um nicht auf der Polizei erscheinen zu müssen; auch würde er, wenn er gezögert hätte, Mirjams Verwandten Zeit gelassen haben, die Sache der Verhafteten weiter zu verfolgen; er habe sich daher alsbald auf den Weg gemacht und wolle Joey sobald wie möglich schreiben.

Diese Angelegenheit machte einiges Aufsehen und erschien in allen Zeitungen. Joey setzte sich daher nieder und schrieb über den ganzen Vorgang, nach den ihm von Mr. S... mitgeteilten Notizen, einen umständlichen Bericht, den er nach Portsmouth schickte. Dann stellte er Nachfragen an und erfuhr, die Sitzungen würden in vierzehn Tagen ihren Anfang nehmen und in ein paar Tagen die große Jury zusammentreten. Er machte sich deshalb darauf gefaßt, nicht an eine Rückkehr nach Portsmouth zu denken, bis der Gerichtstag vorüber war, was er auch in seinen nächsten Briefen Mr. Small eröffnete. Dann brach er nach Richmond auf, da man ihm angeraten hatte, dort eine Weile zu verbleiben, weil die dumpfige Atmosphäre von London nicht am günstigsten auf einen Patienten wirke.

Unser Held fand seine Unterhaltung, indem er in einem Nachen den Strom auf- und abfuhr oder die Briefe beantwortete, die er von Mary und von Portsmouth erhielt. Auch lief von Mr. S... ein Schreiben ein, in welchem derselbe Joey von seiner Heirat Meldung that und ihn bat, er möchte ihm doch Mitteilung zugehen lassen, sobald das Gericht abgehalten worden sei. Die Gesundheit unseres Helden war auch beinahe wieder hergestellt, als er die Nachricht erhielt, daß sein Erscheinen vor Gericht notwendig werde, weil er Zeugnis abzugeben habe gegen Joseph, den Bruder von Mirjam, da die große Jury auf Mord erkannt hatte.

Er langte in der Stadt an und erschien des andern Tages in der Halle, wo das Gericht stattfinden sollte. Er brauchte nicht lange zu warten, bis er in die Zeugenloge gerufen wurde. Als er seine Angaben vor dem Friedensrichter ablegte, hatte er nicht bedacht, daß er seinen Namen geändert hatte; nun wurde er aber darauf beeidigt, daß er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen wolle, und als der Advokat ihn fragte, ob sein Name nicht Joseph O'Donahue sei, antwortete er mit ›Nein‹, er heiße Joseph Rushbrook.

»Ihre frühere Angabe lautet aber O'Donahue. Wie kommt dies? Haben Sie ein Alias, wie manche andere?« fragte der Advokat.

»Mein eigentlicher Name ist Rushbrook, aber ich wurde seit einiger Zeit O'Donahue genannt«, lautete die Entgegnung unseres Helden.

Die Antwort gab dem Rechtsfreunde des Beklagten Gelegenheit zu einigen sehr schneidenden Bemerkungen; indessen wurde das Zeugnis unseres Helden angenommen und noch obendrein als für den Gefangenen sehr günstig betrachtet, da Joey angab, er sei überzeugt, daß der Wurf nicht für den unglücklichen Kellner, sondern für Mr. S... bestimmt gewesen sei.

Nach dem Verhöre einer Stunde wurde unser Held entlassen und nach dem Zeugenzimmer gewiesen, im Falle man seiner noch einmal bedürfen sollte.


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