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Fünfundvierzigstes Kapitel.

In welchem Mary eine Entdeckung macht, welche dem Leser längst kein Geheimnis mehr ist.


Es war kaum zehn Uhr des andern Morgens, als Mary zu Exeter anlangte und sich alsbald nach dem Gefängnisse begab. Ihre Augen hafteten an der Außenseite des massiven Gebäudes, und ihre Wangen erblaßten, wie sie der Kette über dem Eingange ansichtig wurde, welche den Zweck des düsteren Hauses so treu bezeichnete. Auf den Treppen und auf dem Korridor befanden sich mehrere Leute, welche Nachfragen anstellten und den Schließer um die Erlaubnis baten, die Gefangenen besuchen zu dürfen, so daß Mary einige Minuten warten mußte, ehe sie ihr Anliegen vorbringen konnte. Ihr Äußeres war ganz anders als das der gewöhnlichen Klasse von Bittstellern, weshalb sie der Schließer mit einiger Überraschung betrachtete.

»Wen wünschen Sie zu besuchen?« fragte der Mann, denn die Zunge versagte Mary den Dienst.

»Meinen Bruder Joseph Rushbrook«, wiederholte Mary.

In diesem Augenblicke kam der Oberkerkermeister an das Pförtchen.

»Sie wünscht ihren Bruder, den jungen Rushbrook, zu sehen«, sagte der Schließer.

»Hat keinen Anstand«, versetzte der Kerkermeister. »Spazieren Sie nur herein und bleiben Sie eine Weile in meiner Stube, bis ich Ihnen jemand zur Begleitung mitgeben kann.« In dem Benehmen der beiden Männer gegen Mary lag eine gewisse Höflichkeit, denn sie waren von ihrer Schönheit und ihrem augenscheinlichen Unglücke gerührt. Mary nahm in der Stube des Kerkermeisters Platz, dessen Gattin sich mehr als freundlich gegen sie benahm. Endlich kam ein Schließer, um sie nach der Zelle zu weisen. Als Mary aufstand, sagte die Frau des Kerkermeisters zu ihr:

»Wenn Sie Ihren Bruder besucht haben, mein liebes Kind, so kommen Sie wieder hierher und bleiben ein wenig bei mir; ich kann Ihnen dann vielleicht von einigem Nutzen sein, indem ich Ihnen zu wissen thue, was geschehen darf und was nicht erlaubt ist.«

Mary konnte nicht sprechen, aber sie blickte die Frau des Kerkermeisters mit thränenfeuchten Augen an. Die wohlwollende Frau verstand ihren Blick.

»Gehen Sie jetzt nur«, sagte sie, »und vergessen Sie nicht, zu mir zurückzukommen.«

Der Schließer führte sie, ohne ein Wort zu sprechen, nach der Zelle, steckte den Schlüssel in das schwere Schloß, drückte die Thüre auf und blieb außen stehen. Mary trat ein und flog in Joeys Arme, dessen Wangen sie unter Küssen mit ihren Thränen betaute.

»Ich wußte es ja, daß Du kommen würdest, Mary«, sagte Joey. »Nimm Platz und fasse Dich; ich will Dir erzählen, wie all dies gegangen ist; Du wirst dann später besser im stande sein, mit mir zu sprechen.«

Sie setzten sich auf die Pritsche, auf welcher während der Nacht das Bett gelegen hatte. Ihre Hände waren noch immer verschlungen; während Joey über das Vorgefallene Bericht erstattete, milderte sich allmählich Marys Schluchzen, und sie gewann einigermaßen ihre Fassung wieder.

»Und was gedenkst Du zu thun, Joey, wenn Du vor Gericht gestellt wirst?« fragte Mary endlich.

»Ich werde gar nichts sagen, als daß ich nicht schuldig bin, wie auch wahr ist, Mary. Auf weitere Verteidigung will ich mich nicht einlassen.«

»Aber warum willst Du nicht die Wahrheit bekennen?« versetzte Mary. »Ich habe oft darüber nachgedacht und bin längst mit mir einig, Joey, daß niemand handeln könnte, wie Du, wenn nicht das Leben eines Vaters dabei auf dem Spiele stünde. Weder Du noch sonst jemand könnte wahnsinnig genug sein, sich in dieser Weise zu opfern, wenn nicht der Zweck dabei zu Grunde läge, einen Vater zu retten.«

Joeys Augen hafteten auf dem Steinpflaster; er gab keine Antwort.

»Wohlan denn, wenn meine Vermutung richtig ist«, fuhr Mary fort, – »Du brauchst mir weder mit Ja noch mit Nein darauf zu antworten – warum willst Du denn nicht die Wahrheit sagen? Furneß teilte mir mit, Deine Eltern hätten das Dorf verlassen, und er habe sich alle Mühe gegeben, sie aufzufinden, ohne daß es ihm gelungen sei; er meinte überzeugt sein zu dürfen, daß sie sich in Amerika befänden. Warum denn (vorausgesetzt, daß meine Vermutung richtig ist) solltest Du Dich für nichts und wieder nichts zum Opfer bringen?«

»Gesetzt den Fall, daß Du auch recht hättest, Mary«, entgegnete Joey, die Augen noch immer auf den Boden geheftet, »welcher Beweis ist vorhanden, daß meine Eltern England verlassen haben? Es war nur eine Mutmaßung jenes Furneß, und ich glaube fest, daß dem nicht so ist. Wo sie sein mögen, weiß ich nicht; aber ich trage die Überzeugung in mir, daß meine Mutter nicht das Land verlassen hätte, ohne zuerst Nachforschungen nach mir angestellt und mich mitgenommen zu haben. Nein, Mary, wenn meine Eltern noch leben, so sind sie in England.«

» Wenn, mein lieber Joey – aber bedenke doch, Dein Vater kann tot sein.«

»Wenn dem so wäre, so würde mich meine Mutter aufgefunden haben; sie hätte Ankündigungen in die Zeitungen setzen lassen – kurz, ich bin überzeugt, daß sie alles aufgeboten hätte, sie wäre nach Graßford zurückgekehrt und –«

»Und was, Joey?«

»Ich darf nicht sagen, was, Mary«, versetzte unser Held; »ich habe mir, seit ich hier eingeschlossen bin, die Sache reiflich erwogen und bin zu einem Entschlusse gekommen, der unwandelbar steht; brechen wir also ab von diesem Gegenstand, liebe Mary. Erzähle mir lieber, wie es Dir ergangen ist.«

Mary blieb noch eine Stunde bei Joey und sagte ihm dann Lebewohl. Sie sehnte sich zu Mrs. Austin zurück, um sie mit dem Ergebnisse der Unterredung bekannt machen zu können; mit schwerem Herzen verließ sie die Zelle und ging nach der Stube des Kerkermeisters.

»Würden Sie wohl etwas annehmen?« fragte die Frau des Kerkermeisters, nachdem sich Mary gesetzt hatte.

»Ein wenig Wasser«, versetzte Mary.

»Und wie gehts Ihrem Bruder?«

»Er ist unschuldig«, entgegnete Mary; »wahrhaftig, er ist unschuldig; aber er will nicht sprechen, und so wird man ihn verurteilen.«

»Nun, nun, Sie brauchen sich nicht so gar abzuängstigen. Mag er nun schuldig oder unschuldig sein, er muß damals noch sehr jung gewesen sein, und da weiß ich schon, hingerichtet wird er nicht, wohl aber aus dem Lande geschickt.«

»Dann will ich mit ihm gehen«, versetzte Mary.

»Vielleicht wird er auch begnadigt, liebes Kind; nur den Mut nicht verloren, und wenn Sie Geld haben, so verschaffen Sie sich einen guten Advokaten.«

»Können Sie mir einen namhaft machen, bei dem man gut beraten wäre?«

»Ja; gehen Sie zu Mr. Trevor; er ist ein sehr gescheiter Mann und kennt den ganzen Gerichtsgang; wenn einer ihn retten kann, so ist er's.«

»Wenn Sie erlauben, so will ich mir seinen Namen aufschreiben«, sagte Mary.

Die Kerkermeistersfrau gab Mary ein Blättchen Papier samt Feder und Tinte; Mary schrieb Mr. Trevors Adresse auf und verabschiedete sich sodann unter vielen Dankesbezeugungen.

Nachdem sie ins Schloß zurückgekehrt war, teilte sie Mrs. Austin alles mit, was vorgefallen war. Mrs. Austin ersah hieraus, daß Joey nicht von seinem Entschlusse abweichen würde und daß nun weiter nichts zu thun sei als ihm den besten juristischen Beistand zu verschaffen.

»Mary, mein armes Mädchen«, sagte Mrs. Austin, »da ist Geld, das Du nötig haben wirst, um Deinem Bruder beistehen zu können. Du sagst, Du habest Dir den Namen des besten Advokaten, den man für ihn gewinnen könne, aufgezeichnet; Du mußt morgen nach London gehen und diesen Herrn aufsuchen. Es wird dabei gut sein, wenn Du meines Namens nicht gedenkst. Als seine Schwester suchst Du natürlich den besten juristischen Beistand. Du mußt es so einleiten, als ob alles von Dir herrühre.«

»Ich will es, Madame.«

»Wenn es Dir rätlich dünkt, Mary, so kannst Du auch zwei oder drei Tage in der Stadt bleiben; ich erwarte aber täglich Nachrichten von Dir.«

»Ich will's nicht daran fehlen lassen, Madame«, versetzte Mary.

»Schreibe mir auch Deine Adresse, da ich Dir vielleicht eine Mitteilung zu machen habe, wenn ich weiß, was geschehen ist.«

»Wohl, Madame.«

»Und nun geh zu Bette, Mary, denn Du mußt müde sein. In der That, Du siehst sehr erschöpft aus, armes Mädchen. Ich brauche Dir nicht die Vorsicht anzuempfehlen, daß Du gegen das Gesinde schweigen sollst; gute Nacht.«

Mary warf sich auf das Bett; sie war in der That vor Kummer und Angst fast aufgerieben; endlich schlief sie ein. Des andern Morgens machte sie sich wieder nach der Stadt auf, nachdem sie die Neugierde der Diener durch die Angabe beschwichtigt hatte, sie reise zu ihrem Bruder, der gefährlich krank sei.

Sobald sie in London anlangte, fuhr Mary nach dem Geschäftsbureau des Advokaten, dessen Adresse sie von der Frau des Kerkermeisters zu Exeter erhalten hatte. Er war zu Hause, und sie wurde ihm nach kurzem Warten durch einen Schreiber vorgeführt.

»Was kann ich für Sie thun, junge Lady?« fragte Mr. Trevor mit einiger Überraschung; »es kommt nicht oft vor, daß die Höhle eines Advokaten durch eine so glänzende Erscheinung heimgesucht wird. Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen.«

»Ich bin keine junge Lady, Sir«, versetzte Mary. »Ich komme zu Ihnen, um Sie zu bitten, Sie möchten die Güte haben, meinen Bruder zu verteidigen, über den nächstens Gericht gehalten werden soll.«

»Ihren Bruder? Wessen ist er angeklagt?«

»Des Mordes«, versetzte Mary, »aber in der That, Sir, er ist nicht schuldig«, fuhr sie, in Thränen ausbrechend, fort.

Mr. Trevor war nicht nur ein sehr verständiger, sondern auch ein wohlwollender und umsichtiger Mann. Er blieb einige Minuten stumm, um Mary Zeit zu lassen, sich zu erholen. Als sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, fragte er:

»Wie heißt Ihr Bruder?«

»Joseph Rushbrook.«

»Rushbrook? Rushbrook? ich erinnere mich dieses Namens noch gut«, bemerkte Mr. Trevor; »sonderbar, auch der Taufname ist der gleiche; gewiß sehr auffallend. Vor einigen Jahren hatte ich mit einer Person desselben Namens zu thun; durch meine Vermittlung gelangte er in den Besitz eines großen Landguts – und nun werde ich aufgefordert, einen Menschen wegen Mordes zu verteidigen, der gerade ebenso heißt.«

Mary staunte über die Bemerkung des Advokaten, erwiderte aber nichts darauf.

»Haben Sie die Anklageakte? Wo fand der Mord statt?«

»In Devonshire, Sir; es ist schon viele Jahre her.«

»Und er befindet sich jetzt im Exetergefängnis? Nun, erzählen Sie mir alle Einzelheiten.«

Mary teilte ihm alles, was sie wußte, sehr klar und bestimmt mit.

»Ich muß Ihren Bruder sehen, mein gutes Mädchen«, versetzte Mr. Trevor. »Morgen will ich ihm zu Exeter meinen Besuch machen. Wenn Sie ihm schreiben oder ihn vor mir sehen, so sagen Sie ihm, er müsse seinem Advokaten vertrauen und nicht rückhaltig gegen mich sein, da ich ihm sonst nur geringe Dienste zu leisten im stande sei. Erlauben Sie mir die Frage, haben Sie Verwandte in Yorkshire?«

»Nein, Sir, keinen.«

»Und doch ist Familien- und Taufname genau ebenso – ein seltsames Zusammentreffen! Er hat jedoch seinen Namen geändert, als er das Gut übernahm.«

»Den Namen Rushbrook geändert, Sir?« entgegnete Mary, welche nun dachte, einen Schlüssel zur Auffindung von Joeys Eltern entdeckt zu haben.

»Ja; er heißt jetzt Austin und wohnt in Dorsetshire; ich gedenke der Sache bloß, weil Ihrem Bruder, im Falle eine Verwendung für ihn nötig würde, der Umstand sehr wertvoll sein dürfte, wenn er Verwandtschaft nachweisen könnte. Aber um Gotteswillen, was ist Ihnen – Smitters!« rief Mr. Trevor, indem er herzueilte, um Mary Beistand zu leisten. »Hurtig! ein Glas Wasser! das Mädchen ist ohnmächtig geworden!«

Überraschung über diese erstaunliche Nachricht, die Liebe zu Mrs. Austin, das Licht, welches dadurch auf ihr für unsern Helden an den Tag gelegtes Interesse geworfen wurde, und die Überzeugung, wie bitter die Leiden der guten Dame sein mußten, hatten das arme Mädchen völlig überwältigt. Nach kurzer Zeit erholte sie sich wieder.

»Ich danke Ihnen, Sir, aber ich habe wegen meines armen Bruders so viel Angst ausgestanden«, sagte Mary stotternd und mit verhaltenem Atem.

»Er kann kein so gar schlimmer junger Mensch sein, da Sie ihm so zugethan sind«, sagte Mr. Trevor.

»Nein, gewiß nicht; ich wollte, ich wäre nur halb so gut«, murmelte Mary.

»Ich will nicht säumen, alles aufzubieten, was in meinen Kräften liegt. Sobald ich die Akten durchlesen habe, will ich Ihren Bruder besuchen; ja, schon morgen soll es geschehen. Fühlen Sie sich auch wohl genug, um gehen zu können? Wenn dies nicht der Fall ist, soll Ihnen mein Schreiber eine Kutsche besorgen. Halten Sie sich in London auf? Ich möchte dann wohl um Ihre Adresse bitten.«

Mary versetzte, sie wolle noch am nämlichen Abend mit der Post nach Exeter aufbrechen und am andern Tage dort mit ihm zusammentreffen.

Mr. Trevor begleitete sie hinunter, half ihr in den Wagen, und sie ließ den Kutscher nach dem Wirtshause fahren, wo sie abgestiegen war. Marys Sinne waren ganz verwirrt. Es war spät, und die Post sollte in einer oder zwei Stunden abfahren. Sie bezahlte ihren Platz und wußte während ihrer langen Reise kaum, wie ihr die Zeit entschwand. Als sie am andern Morgen anlangte, eilte sie nach dem Gefängnis. Sie wurde von dem Kerkermeister und seiner Frau so freundlich, wie früher, aufgenommen und dann von dem Schließer nach Joeys Zelle begleitet. Sobald die Thüre hinter ihr zugedrückt war, warf sie sich auf die Bettstelle nieder und weinte bitterlich, ohne auf die Vorstellungen und Beschwichtigungsversuche unseres Helden zu achten.

»O! es ist schrecklich – zu schrecklich!« rief das fast ohnmächtige Mädchen. »Was kann – was muß gethan werden? Wohin ich blicke, Elend und Schande! Gott vergieb mir, aber ich bin meines Verstandes nicht mächtig! Daß Du hier sein mußt – hier in dieser schrecklichen Lage! Warum bin's nicht ich? Ich – ich habe alles und noch mehr verdient! Gefängnis, Tod, alles wäre noch zu gut für mich; aber Du, mein lieber teurer, Joey!«

»Mary, wie kommst Du mir vor? Ich kann Dich gar nicht begreifen. Stehen denn die Sachen schlimmer als zuvor?« fragte Joey, »und wie magst Du so von Dir selbst sprechen? Wenn Du je unrecht handeltest, so wurdest Du durch das Betragen anderer dazu getrieben; aber Deine Besserung ist ganz Dein eigenes Werk.«

»Ach, Joey!« entgegnete Mary, »meine Reue wäre nicht weit her, wenn ich mich entsündigt glaubte durch ein paar Jahre guter Aufführung. Nein, nein; ein ganzes Leben der Zerknirschung reicht nicht zu, und ich muß fortan bis zu meinem Tode stets der Reue leben und ohne Unterlaß um Vergebung bitten. Aber warum rede ich von mir?«

»Ja, wie kommst Du in diesen wunderlichen Zustand, Mary?«

»Joey, ich kann Dir das Geheimnis nicht vorenthalten, es wäre nutzlos, es zu versuchen. Ich habe Deinen Vater und Deine Mutter entdeckt.«

»Wo sind sie? und wissen sie überhaupt etwas von meiner Lage?«

»Deine Mutter wohl, aber nicht Dein Vater.«

»Sprich, Mary – geschwind, und sage mir alles.«

»Deine Eltern sind Mr. und Mrs. Austin.«

Joey versagte vor Erstaunen die Stimme; er starrte Mary an, konnte aber kein Wort hervorbringen. Mary weinte wieder, und Joey blieb eine Weile stumm an ihrer Seite.

»Beruhige Dich, Mary«, sagte Joey endlich; »Du kannst mir jetzt alles erzählen.«

Joey setzte sich an ihrer Seite nieder; und nun teilte ihm Mary mit, was zwischen ihr und Mrs. Austin vorgegangen war. Sie gedachte der von der letzteren zugestandenen verwandtschaftlichen Beziehung, des Interesses, das sie an ihm nahm, des Geldes, das sie mit offenen Händen für ihn aufwandte, ihrer Leiden, deren sie Zeuge gewesen, und schloß dann mit Erwähnung des Gesprächs, das zwischen ihr und Mr. Trevor stattgefunden hatte.

»Du siehst, lieber Joey, die Thatsache läßt sich nicht bezweifeln. Ich habe zwar, glaube ich, Mrs. Austin versprochen, Dir nichts davon zu sagen, aber vergaß meine Zusage, und erst in diesem Augenblicke fällt sie mir wieder ein. Nun, Joey, was ist anzufangen?«

»Erzähle mir von meinem Vater, Mary«, sprach Joey; »ich möchte wissen, wie er angesehen ist und wie er sich in seiner neuen Lage benimmt.«

Mary teilte ihm alles mit, was sie wußte, obschon dies nicht sehr viel war: »er stehe in Achtung und Ansehen, sei aber ein sehr wunderlicher Mann, der sich immer von anderen abschließe und lieber allein sein wolle.«

»Mary«, sagte Joey, »Du weißt, was zuvor meine Absichten waren; sie sind jetzt nur um so fester geworden. Ich will's darauf ankommen lassen, werde aber nimmermehr ein Wort sagen. Du weißt und errätst bereits mehr, als mir lieb ist; ich darf Dir jedoch nicht sagen, in wie weit Du recht hast, denn es ist nicht mein Geheimnis.«

»Dachte ich's doch«, versetzte Mary; »und ich fühle, wie sehr meine Gründe geschwächt werden müssen durch die Entdeckung, die ich Dir mitgeteilt habe. Früher fühlte ich immer bloß für Dich, jetzt aber fühle ich für alle. O, Joey, warum soll eine so unschuldige Seele in dieser Weise gestraft werden, und ich schuldbeladenes Geschöpf bleibe verschont?«

»Es ist der Wille Gottes, daß ich in diese mißliche Lage geraten sollte, Mary; laß uns daher nicht weiter davon sprechen.«

»Aber, Joey, Mr. Trevor kommt morgen her, und er trug mir auf, Dir zu sagen, daß Du keine Zurückhaltung gegen Deinen Rechtsfreund beobachten dürfest, wenn Du wünschest, daß sein Rat Dir zu statten kommen solle.«

»Du hast Dich Deines Auftrages entledigt, Mary, und mußt nun mir überlassen, wie ich mit ihm zu verkehren gedenke.«

»Das Herz bricht mir«, rief Mary. »Ich wollte, ich läge in meinem Grabe, wenn dieser Wunsch nicht gottlos ist.«

»Mary, vergiß das eine nicht: erinnere Dich an das, was mir zur Stütze gereicht, und laß es auch Dir zur Stütze dienen: ich bin unschuldig.«

»Das bist Du, wahrhaftig! Wollte Gott, daß ich ein Gleiches auch von mir sagen könnte! Aber sprich, Joey, was soll ich thun, wenn ich mit Deiner Mutter wieder zusammentreffe? Ich liebte sie vorher schon, aber ach! wie muß ich sie nicht jetzt erst lieben! Was soll ich thun? Soll ich ihr sagen, daß ich alles entdeckt habe? Ich wüßte jedoch nicht, wie ich's vor ihr geheim halten könnte.«

»Mary, ich sehe nicht ein, warum Du ihr's nicht sagen solltest; aber teile ihr auch mit, daß ich sie nicht zu sehen wünsche, bis daß der Gerichtstag vorüber ist. Was auch immer mein Schicksal sein mag – sie soll mich nicht besuchen, bis es entschieden ist.«

»Ich will übermorgen Deinen Auftrag ausrichten«, versetzte Mary. »Nun muß ich aber gehen und nach einem Quartier sehen; dann will ich an Deine Mutter schreiben. Gott behüte Dich!«

Mary verließ die Zelle; sie hatte so viel gelitten, daß sie kaum die Stube des Kerkermeisters erreichen konnte. Sie setzte sich nieder, um sich wieder zu erholen. Auf ihre Frage, ob sie wohl nicht in der Nähe des Gefängnisses ein Zimmer bekommen könne, forderte die Kerkermeistersfrau einen der Schließer auf, sie nach einer Wohnung zu führen, die ihr zusagen werde.

Sobald Mary untergebracht war, schrieb sie einen Brief an Mrs. Austin und teilte ihr mit, daß sie den Advokaten gesprochen und Joey dessen Dienste gesichert habe; dann begab sie sich, erschöpft von der Angst und Aufregung der letzten drei Tage, zu Bette, um im Schlafe ihre Leiden zu vergessen.


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