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Siebzehntes Kapitel.

Der Tag nach dem Morde.


Wir müssen nun nach dem Dörfchen Graßford und der Hütte zurückkehren, wo wir Rushbrook verlassen haben, als er eben seine besinnungslose Gattin vom Boden aufhob. Sie hatte sich von ihrer Ohnmacht wieder erholt und weinte bitterlich um den Verlust ihres Sohnes; auch lebte sie in Todesangst, das Verbrechen ihres Gatten möchte entdeckt werden. Rushbrook sah eine Weile schweigend auf die verglimmende Asche im Kaminrost, und Mum blickte hin und wieder kläglich nach dem Gesichte seines Herrn auf oder näherte sich langsam der weinenden Frau. Dem Hunde sagte sein Instinkt, daß etwas nicht recht war. Als er so gar keine Beachtung fand, kroch er von Zeit zu Zeit nach der Thüre, durch welche Joey hinausgegangen war, schnüffelte an dem Spalte und kehrte wieder an die Seite seines Herrn zurück.

»Ich bin froh, daß er fort ist«, murmelte Rushbrook endlich; »er ist ein herrlicher Knabe.«

»Das ist er«, versetzte Jane, »aber wann werde ich ihn wiedersehen?«

»Habe deshalb keine Sorge, Frau. Wir ziehen fort von hier, sobald die Sache verrauscht ist.«

»Wird das wohl je geschehen?«

»Beruhige Dich, Jane, wir haben allen Grund, dies zu hoffen. Komm, wir wollen zu Bette gehen. Wenn jemand in der Nähe gewesen wäre und ausfindig gemacht hätte, was vorgefallen ist, so könnte es gefährlich werden, wenn man uns auf träfe – ja sogar dann, wenn irgend ein Frühaufsteher Licht in der Hütte bemerkte. Komm zu Bette, Jane.«

Sie löschten das Licht aus und begaben sich zur Ruhe. Alles war stille, nur nicht das Gewissen, das Rushbrook ohne Unterlaß geißelte, so daß er sich immer von einer Seite auf die andere wälzte. Auch Jane schlief nicht. Sie horchte auf das Sausen des Windes. Jeder Windhauch, das leiseste Geräusch, das Krähen eines Hahnes – reichte hin, sie zu erschrecken; auch ließen sich bald die Fußtritte Vorübergehender vor dem Fenster vernehmen. Sie konnten nicht länger zu Bette bleiben. Jane stand auf, kleidete sich an und machte Feuer. Rushbrook blieb in tiefen Gedanken auf der Bettleiste sitzen.

»Ich habe eben gedacht, Jane,« sagte er endlich, »daß es wohl das beste sein dürfte, wenn wir Mum aus dem Wege schaffen.«

»Den Hund? Ach das arme Tier kann ja nicht sprechen. Nein – nein, wozu den armen Hund umbringen?«

»Er kann freilich nicht sprechen, aber er hat Verstand. Wie leicht wäre es möglich, daß er die Leute nach der Stelle hinleitete!«

»Und wenn auch – was weiter? damit läßt sich nichts beweisen.«

»Nein; es wäre nur noch ein kräftigeres Zeugnis gegen Joey.«

»Gegen den Knaben. Ja, es könnte eine Bestätigung abgeben, daß Joey die That verübte. Aber schon das Töten des Tieres würde verdächtig aussehen. Binde ihn an, Rushbrook – das thut dieselben Dienste.«

»Vielleicht noch bessere«, versetzte der Mann. »Sperre ihn in die Hinterküche – bist eine gute Frau.«

Jane gehorchte und schickte sich sodann an, das Frühstück zu bereiten. Sie hatten eben ihre Sitze eingenommen, als die Thürklinke aufgedrückt wurde und der Schulmeister Furneß hereinsah. Er hatte es schon oft so gehalten, um Joey anzurufen und ihn mit nach der Schule zu nehmen.

»Guten Morgen«, sagte er; »nun, wo ist mein Freund Joey?«

»Kommt herein, kommt herein, Nachbar, und schließt die Thüre«, versetzte Rushbrook; »ich möchte mit Euch sprechen. Vielleicht nehmt Ihr eine Tasse Thee an – meine Frau wird Euch was gutes geben.«

»Ich weiß, Mrs. Rushbrook macht alle ihre Sachen gut, und so kommt mir's nicht darauf an, obschon ich mein Frühstück schon eingenommen habe. Doch wo ist mein Freund Joey? Der faule kleine Schlingel, ist er noch nicht auf? Ei, Mrs. Rushbrook, was giebt's denn? Ihr seht so bekümmert aus?«

»Ich bin es auch«, versetzte Jane, die Schürze vor ihre Augen haltend.

»Der Tausend, Mrs. Rushbrook, was habt Ihr denn?« fragte der Pädagog.

»'s ist eben wegen Joey; wir sind um seinetwillen groß in Sorgen. Als wir diesen Morgen aufstanden, fanden wir, daß er nicht in seinem Bette lag, und seitdem ist er gar nicht nach Hause gekommen.«

»Ei, das ist doch sonderbar. Wohin mag wohl der junge Galgenstrick gegangen sein?«

»Wir wissen's nicht, aber ich bemerkte, daß er mein Gewehr mitgenommen hat, und ich fürchte – –« Rushbrook hielt inne und schüttelte den Kopf. –

»Was fürchtet Ihr?«

»Daß er ausgegangen ist, um zu wildern, und von den Forsthütern aufgegriffen wurde.«

»Hat er früher schon etwas ähnliches gethan?«

»Bei Nacht nicht, wohl aber bei Tage. Ich kann's nicht bergen, er hat immer einen gewissen Hang dazu gezeigt.«

»Ei, man sagt Euch dasselbe nach, Nachbar. Warum haltet Ihr denn ein Gewehr?«

»Ich habe mein ganzes Leben über eine Flinte geführt und möchte eine derartige Waffe nicht entbehren«, antwortete Rushbrook. »Doch das gehört nicht zur Sache – es fragt sich jetzt, zu was für Schritten würdet Ihr uns raten?«

»Je nun, seht, Freund Rushbrook«, versetzte der Schulmeister, »auf eine solche Frage ist schwer ein Rat zu erteilen. Wenn Joey gewildert hat, wie Ihr meint, und, wie Ihr vermutet, aufgegriffen wurde – ei, so werdet Ihr bald genug von ihm hören. Ihr habt natürlich keine Hand dabei im Spiel?«

»Die Hand dabei im Spiel? – Bei was?« entgegnete Rushbrook. »Meint Ihr, wir vertrauen einem Kinde, wie er ist, ein Gewehr an?«

»'s wär freilich nicht in der Ordnung, und deshalb ist's auch augenfällig, daß er ohne Vorwissen seiner Eltern gehandelt hat. Das wird Euch freisprechen. Aber doch – Joey kann's nichts helfen. Auch glaube ich nicht, daß Ihr Euer Gewehr wieder kriegt, denn vermutlich wird's der Grundherr als verfallenes Gut betrachten.«

»Aber der Knabe – was wird aus ihm werden?« rief Jane.

»Was aus Joey werden wird – je nun, in Anbetracht seiner Jugend wird man ihn nicht deportieren – wenigstens bin ich davon überzeugt. Man sperrt ihn vielleicht ein paar Monate ein und läßt ihn auspeitschen. Ich sehe nicht ein, was Ihr thun könnt – müßt Euch eben ruhig verhalten. Ich würde Euch empfehlen, keine Silbe darüber verlauten zu lassen, bis Ihr weiteres hört.«

»Aber angenommen, wir hören nichts?«

»In diesem Falle läßt sich vermuten, daß er das Gewehr nicht zum Wildern mitgenommen hat, sondern allenfalls einen andern Ausflug machte.«

»Was anders könnte wohl der Knabe im Schilde geführt haben?« fragte Rushbrook hastig.

»Ihr habt freilich recht; 's ist nicht sehr wahrscheinlich, daß er ausgegangen ist, um einen Mord zu begehen«, erwiderte der Pädagog.

Bei dem Worte »Mord« sprang Rushbrook von seinem Stuhle auf, besann sich jedoch bald wieder, und nahm wieder seinen Platz ein.

»Ei, daß Dich! Joey einen Mord begehen!« rief er. »Ha, ha, ha, – nein, nein, Joey ist kein Mörder.«

»Ich halte ihn auch nicht dafür. Nun, Meister Rushbrook, ich will meinen Schülern diesen Morgen frei geben und alle Nachfragen für Euch anstellen. Byres wird bald ausfindig machen, wo der Hase im Pfeffer liegt, denn er kennt den neuen Wildhüter im Herrenhaus.«

»Byres soll Euch helfen, sagt Ihr? Nein, nein, Byres hilft Euch nicht«, versetzte Rushbrook feierlich.

»Und warum nicht, mein Freund?«

»Warum?« entgegnete Rushbrook sich fassend, »weil er in der letzten Zeit eben nicht mein Freund gewesen ist.«

»Demungeachtet wird er mir an die Hand gehen, verlaßt Euch darauf«, erwiderte Furneß, »wenn auch nicht Euretwegen, so doch um meinetwillen. Guten Morgen, Mrs. Rushbrook, ich will mich tummeln; aber wollt Ihr nicht mit mir gehen?« fügte Furneß, gegen Rushbrook gewandt, bei.

»Ich will einen andern Weg einschlagen; es führt zu nichts, wenn wir beide die gleiche Straße ziehen.«

»Sehr wahr«, versetzte der Pädagog, der seine Gründe hatte, Rushbrooks Gesellschaft nicht zu wünschen, und verließ dann das Haus.

Mr. Furneß fand alle seine Knaben in der Schulstube versammelt, und bei dem Erscheinen des Schulmeisters thaten sie gewaltig eifrig mit ihren Büchern. Er befahl ihnen Stillschweigen und teilte ihnen dann mit, daß Joey vermißt werde, weshalb er dessen Vater Beistand leisten und den Knaben aufsuchen helfen wolle; sie sollten deshalb für heute einen freien Tag haben. Er stellte sie sofort sämtlich in einer Reihe auf, hieß sie rechtsum machen, gleichzeitig in die Hände klatschen und dann von hinnen ziehen.

Obgleich Mr. Furneß den Rushbrooks Verschwiegenheit anempfohlen hatte, so schien ihm eine Befolgung des von ihm selbst erteilten Rates für seine eigene Person überflüssig. In der That wäre ihm auch Rushbrooks Gesellschaft nur aus dem einfachen Grunde in die Quere gekommen, weil er dann die Gelegenheit hätte entbehren müssen, sein Geheimnis durch das Dorf zu verbreiten. Er sprach in jeder Hütte an und teilte den zu Hause gebliebenen Weibern mit, daß Joey Rushbrook letzte Nacht mit seines Vaters Gewehr verschwunden und er selbst jetzt im Begriffe sei, denselben aufzusuchen. Einige nickten und lächelten, andere schüttelten die Köpfe, manche wollten sich gar nicht darüber wundern, und wieder andere waren der Ansicht, daß es unmöglich so hätte fortgehen können.

Nachdem Mr. Furneß alle die verschiedenen Meinungen eingeholt hatte, machte er sich nach dem Wirtshause auf den Weg, um den Hausierer Byres aufzusuchen. Dort angelangt, erfuhr er, daß Byres in letzter Nacht nicht nach Hause gekommen sei; auch wollte niemand etwas von ihm wissen, was um so sonderbarer war, da sein Warenkasten oben in seiner Schlafkammer stand. Mr. Furneß kehrte nach dem Dorfe zurück, um Rushbrook diese Nachricht mitzuteilen, fand aber, daß derselbe bereits ausgegangen war, um den Knaben zu suchen. Furneß entschloß sich jetzt, ohne weiteres sich nach der Wohnung des Försters zu begeben und so das Geheimnis zu lösen. Er schlug die Landstraße ein und traf bei dieser Gelegenheit auf Rushbrook, der eben zurückkam.

»Wie steht's, wie steht's?« fragte der Schulmeister. »Habt Ihr etwas erfahren?«

»Nein«, antwortete Rushbrook.

»Dann bin ich der Meinung, mein Freund, daß wir nichts besseres thun können, als in der Hütte des Försters Nachfragen anzustellen, denn, seltsam genug, ich bin im Wirtshause gewesen und habe meinen Freund Byres gleichfalls vermißt.«

»So?« entgegnete Rushbrook, der sich nun völlig wieder gefaßt hatte. »Sei dem übrigens, wie ihm wolle, kommt, damit wir den Förster aufsuchen!«

Sie langten bald an Ort und Stelle an und fanden den Förster zu Hause, da derselbe eben zum Mittagessen zurückgekehrt war. Rushbrook, der unterwegs seine weiteren Schritte überlegt hatte, eröffnete das Gespräch.

»Ihr habt wohl meinen armen Joey aufgegriffen, Sir – oder nicht?« fragte er den Förster.

»Leider noch nicht«, antwortete dieser sauertöpfisch.

»Ihr wollt damit doch nicht sagen, daß Ihr nichts von ihm wißt?« versetzte Rushbrook.

»Ich weiß allerdings etwas von ihm und von Euch dazu, mein ehrlicher Mann«, entgegnete der Wildhüter.

»Aber, Mr. Lucas«, unterbrach ihn der Schulmeister, »erlaubt mir, Euch in den Besitz der Thatsache zu setzen. Es scheint, daß dieser Knabe – ein Knabe von großen natürlichen Anlagen, der geraume Zeit unter meiner Zucht und Leitung stand – in letzter Nacht (zu welcher Stunde ist seinen trostlosen Eltern unbekannt) die Hütte verließ, seines Vaters Gewehr mit sich nahm und seitdem keine Urkund mehr von sich gab.«

»Nun, ich hoffe nur, daß er selbst erschossen worden ist«, erwiderte der Förster.

»So habt Ihr also ein Gewehr, mein ehrlicher Mann?« fuhr er gegen Rushbrook fort.

»Das –« versetzte Furneß – »wie ich ihm bereits gesagt habe, zuverlässig von dem Grundherrn als verfallenes Gut betrachtet werden wird. Dies ist jedoch noch nicht alles, Mr. Lucas: unser gemeinschaftlicher Freund, der Hausierer Byres, wird gleichfalls vermißt; er hat gestern Nacht die ›Katze und Fidel‹ verlassen, und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört.«

»Wirklich? Das giebt der Sache eine ganz andere Gestaltung und muß augenblicklich untersucht werden. Ich meine, ihr wart nicht die besten Freunde zusammen?« sagte der Förster mit einem spähenden Blicke auf Rushbrook, und fuhr dann fort: »Komm, Marie, gieb mir hurtig mein Mittagessen und eile, so schnell Du kannst, zu Tick und Martin; sage ihnen, sie sollen herunter kommen und ihre Hühnerhunde mitbringen. Seid ohne Sorge, Mr. Furneß, wir wollen der Sache bald auf den Sprung kommen. Auch Ihr, guter Freund, verlaßt Euch drauf, wir finden Euern Sohn und Euer Gewehr obendrein. Ihr werdet dann mehr zu hören kriegen, als Euch lieb ist.«

»Ich will weiter nichts wissen, als wo mein Sohn ist,« versetzte Rushbrook trotzig, denn sein Zorn war durch die Hohnreden des Wildhüters gereizt worden. Mit diesen Worten verließ er die Hütte, und der Schulmeister blieb bei dem Förster zurück.

Als Rushbrook zu Hause anlangte, stellte er Erwägungen über das Vorgefallene an und überzeugte sich endlich, daß die Sachlage für ihn selbst nicht günstiger gestaltet sein könnte, wie sie auch für Joey ausfallen mochte. Dies beschwichtigte seine Furcht, und als die Nachbarn kamen, um ihn nach dem Stande der Dinge zu befragen, benahm er sich ganz ruhig und gelassen. In der Zwischenzeit nahm der Förster ein hastiges Mahl ein und machte sich dann mit seinen Untergebenen und den Hunden auf den Weg, um die Waldungen zu durchstöbern, aber mit dem Eintritte der Nacht hatten sie noch immer nichts aufgefunden. Das Gewehr, welches Joey in einen Graben geworfen hatte, war von einem Tagewerker, der von seiner Arbeit zurückkehrte, aufgelesen und mit nach dem Wirtshause genommen worden, aber niemand kannte die Waffe, da Rushbrook sie nie hatte sehen lassen. Lucas, der Wildhüter, kam eine Stunde nach Eintritt der Dunkelheit gleichfalls ins Wirtshaus und legte auf das Gewehr Beschlag.

So verhielten sich die Sachen am ersten Tage nach Joeys Entweichung. Man kann sich leicht denken, daß an dem gedachten Abende die ›Katze und Fidel‹ sehr stark besucht war, obgleich es gewaltig schneiete. Unterschiedliche Mutmaßungen wurden über das Verschwinden des Hausierers und des kleinen Joey aufgestellt. Der Förster drückte offen seine Ansicht aus, daß hier wohl irgend eine schändliche That noch verborgen liege, und es wurde Mitternacht, bis sich die Wirtshausgäste verliefen und die Thüren geschlossen wurden.

Rushbrook und seine Frau gingen zu Bette; müde von Wachen und Aufregung fanden sie einige Stunden Vergessen in einem ruhelosen und unerfrischenden Schlafe.


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