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Vierundzwanzigstes Kapitel.

In welchem Mrs. Chopper ihr Hausbuch liest.


Ach, das arme Mädchen«, sagte Mrs. Chopper mit einem Seufzer, sobald Nancy verschwunden war. »Du bist ein gutes Kind, Peter; ich sehe es gern, wenn Knaben nicht allzu sehr am Gelde hangen, und hätte sie's genommen ('s wäre mir lieb, wenn's das arme Geschöpf gethan hätte), so solltest Du darunter nicht Schaden gelitten haben.«

»Ist der Bill, von dem sie sprach, ihr Mann?« fragte Joey.

»O ich weiß nichts von anderer Leute Männern«, versetzte Mrs. Chopper hastig. »Wohlan, so komm jetzt – wir wollen Deine Kleider bestellen, daß Du am Sonntag in die Kirche gehen kannst. Ich werde wohl ohne Dich zustande kommen.«

»Wie, geht Ihr nicht auch zur Kirche?«

»Behüte, Kind! wer sollte denn den armen Matrosen ihr Frühstück und ihr Bier geben? Eine Bumbootfrau kann ebenso wenig zur Kirche gehen, als ein Bäcker, denn die Leute müssen am Sonntag auch essen. Die Kirche ist, wie alles andere in der Welt, nur für die Reichen; ich nehme am Sonntag meine Bibel mit ins Boot; da ich aber nicht lesen kann, so habe ich keinen großen Nutzen davon. Nein, mein Junge, ich kann nicht zur Kirche gehen und erübrige höchstens an Abenden, wenn es nicht regnet, so viele Zeit, um in die Versammlungen zu gehen und etwas von dem göttlichen Worte zu hören; Dir will ich aber den Kirchenbesuch nicht verkümmern.«

Mrs. Chopper bestellte einen Anzug von blauem Tuch nach Seemannsschnitt und kehrte dann nach Hause zurück. Nachdem der Thee getrunken war, forderte die Bumbootfrau unsern Helden auf, eines der Kundenbücher herunter zu langen, das sie auf ihre Kniee legte und aufschlug.

»Da«, sagte sie, auf eine Seite blickend; »ich kenne diese Rechnung gut; sie ist für Tom Alsop – er war ein hübscher Bursche, hat aber eine schlimme Heirat gemacht; sein Weib war ein rechter Teufel, aber doch liebte sie der arme Kerl, was noch das schlimmste war. Eines Tages vermißte er sie und fand sie an Bord eines andern Schiffes; er kam dann wie ein Verrückter ans Land, betrank sich sehr, wie Matrosen immer zu thun pflegen, wenn sie einen Kummer haben, ging nach der Werfte hinunter, und am nächsten Tage wurde seine Leiche ausgefischt.«

»Er hat sich wohl selbst ertränkt?«

»Ja, so sagen die Leute, Peter; und er schuldete mir ein Pfund, vier Schillinge, drei Pence, wenn ich mich recht erinnere. Steht nicht so viel da, Peter?«

»Ja, Madam«, versetzte Joey, »genau so viel machen die einzelnen Posten aus, wenn man sie zusammenzählt.«

»Der arme Mensch!« fuhr Mrs. Chopper mit einem Seufzer fort; »er ging hin, um für eine große Schuld Rede zu stehen, ohne meine kleine zu bezahlen. Doch gleichviel; ich wollte, er wäre noch am Leben, und wenn er auch zweimal so tief in meinem Buche stünde. Da ist eine andere – ich entsinne mich dieser recht gut, denn sie liefert den Beweis, daß die Matrosen ehrlich sind; und ich glaube, wenn sie nicht bezahlen, so geschieht's mehr aus Gedankenlosigkeit als aus bösem Willen. Dann schwatzen ihnen auch die Weibsbilder ihr Geld ab, denn der Matrose macht sich nicht viel aus seiner klingenden Münze, und zuletzt sind auch die Juden arge Schelme. Aber siehst Du, Peter, hier ist fast die erste Rechnung, die ich nach Anfang meines Geschäfts auflaufen ließ. Er war ein hübscher, blondhaariger Junge von Shields und wurde verschlagen und von einem anderen Schiffe aufgelesen, das ihn hierher brachte. Ich schenkte ihm Kredit, lieh ihm Geld bis auf zwanzig Pfund, und er sagte, er wolle alles aufsparen und mich bezahlen; dann segelte er weiter, ich hörte neun Jahre lang nichts mehr von ihm. Ich meinte, er sei ertrunken oder unehrlich, und gab mein Geld bereits verloren; da kommt eines Tages ein langer, kräftiger Kerl mit rotem Backenbart herein, redet mich an und sagt: ›Kennt Ihr mich?‹ ›Nein‹, antwortete ich halb erschrocken, ›wie sollte ich Euch kennen, da ich Euch in meinem Leben nie gesehen habe?‹ ›Ihr habt mich freilich schon gesehen‹, sagte er, ›und da ist der Beweis davon‹, und er wirft einen ganzen Haufen Geld auf den Tisch und sagt: ›Nun, Missus, nehmet selbst, besser spät, als nie! Ich bin Jim Sparling, der verschlagen wurde und gegen den Ihr Euch wie eine Mutter benommen habt; aber ich habe seitdem nie Urlaub kriegen können, um wieder zu Euch zu kommen. Ich bin Hochbootsmannsgehilfe auf einem Kriegsschiff, habe eben mein Geld erhalten und beeile mich nun, meine Schulden zu bezahlen.‹ Er wollte durchaus haben, daß ich fünf Pfund mehr nehme, als seine Rechnung betrage, um mir ein neues seidenes Kleid zu kaufen, daß ich ihm zu Ehren tragen sollte. Der arme Mensch, er ist jetzt tot. – Da ist eine andere – sie ist für einen jener langen und schmächtigen Matrosen, die ihre Messer in einer Scheide tragen und keinen Strick um den Leib gürten; diese Kerle zahlen nie, fluchen aber ganz fürchterlich. Laß mich sehen, was das für einer ist. Lies, Peter, wieviel macht's?«

»Vier Pfund, zwei Schillinge, vier Pence«, versetzte unser Held.

»Ja, ja, ich entsinne mich jetzt: Es war der holländische Schiffer. In dieser Rechnung steckt ein Mord, Peter; ich habe ihm die Sachen geliefert, kurz bevor er absegelte; ein alter Mann war Kajütenpassagier; er war sehr reich, obgleich er sich arm stellte – ein Diamanthändler, wie man sagte, und sobald sie zur See waren, ermordete ihn der holländische Schiffer des Nachts und warf ihn durch das Kajütenfenster über Bord. Doch einer der Matrosen hatte die That mit angesehen; der Kapitän wurde zu Amsterdam festgenommen und mußte sein Verbrechen mit dem Kopfe bezahlen. Die Mannschaft erzählte uns dies, als die Galiotte mit dem neuen Kapitän zurückkam. Ich muß übrigens sagen, wenn der holländische Schiffer für seine Unthat zahlte, so zahlte er auch meine Rechnung. – O du meine Güte«, fuhr die alte Frau fort, indem sie eine andere Seite aufschlug; »diese hier werde ich nie vergessen, denn so oft ich die arme Nancy sehe, muß ich mich daran erinnern. Sieh, Peter, ich weiß die Summe auswendig – sie macht gerade acht Pfund, vier Schillinge, sechs Pence; die Sachen wurden abgenommen, als Tom Freelove Nancy heiratete; sie mußten zum Hochzeitmahle dienen.«

»Wie, dieselbe Nancy, die eben hier war?«

»Ja, dieselbe Nancy; und damals war sie ein schönes, bescheidenes, junges Geschöpf, das noch obendrein eine gute Erziehung genossen hatte. Sie konnte gut lesen und prächtig schreiben. Auch hatte sie, wie ich höre, immer Bücher aus einer Leihbibliothek. Sie ist die Tochter eines hiesigen Bäckers, – ich erinnere mich noch recht gut – es war ein wunderschöner Tag, als sie zur Kirche ging; sie sah so schön in ihren Bändern und dem neuen schmucken Anzuge aus, wie auch er ein ganz hübscher Mann war. Man trifft nicht leicht ein so schönes junges Paar, aber er war ein schlimmer Bursche, und so war Elend das Ende vom Ganzen.«

»Wie ging denn das zu?« fragte Joey.

»Ich will Dir alles sagen, was Du davon wissen darfst, Kind, denn Du bist noch zu jung, als daß man Dir mitteilen dürfte, was es für Schlechtigkeiten auf der Welt giebt. Ihr Mann behandelte sie sehr übel. Sie waren noch keinen Monat verheiratet, als er sie verließ und mit anderen Leuten umherzog; auch war er stets betrunken, sie wurde vor Eifersucht ganz verrückt, weshalb er sie elendiglich schlug und ins Weite ging. Um sie zu trösten und aufzuheitern, gaben ihr die Leute zu trinken, und allmählich gewöhnte sie sich daran. Ihr Mann brach durch einen Sturz vom Mastkorbe den Hals; sie aber liebte ihn noch immer und griff jetzt mehr zum Branntwein als je, und das war ihr Verderben. Sie trinkt jetzt nicht mehr so viel, weil sie empfindungsloser geworden ist, kümmert sich aber auch um gar nichts mehr. Das arme Ding ist sehr zu beklagen, denn sie ist noch so jung und so hübsch. 's ist noch keine vier Jahre, als ich sie aus der Kirche kommen sah, und damals dachte ich: was muß das nicht für ein glückliches Paar abgeben!«

»Wo sind denn ihre Eltern?«

»Beide sind tot; doch sprechen wir nichts mehr davon. 's ist schon schlimm genug, wenn ein Mann trinkt; aber wenn ein Weib so weit kommt, ist alles mit ihr vorbei, und doch haben manche Leute so starke Gefühle, daß sie gleich ihre Zuflucht zum Branntwein nehmen, um ihre Sorgen und ihr Elend zu vergessen. Hebe das Buch auf, Peter; ich kann's heute nicht mehr ansehen. Wir wollen zu Bette gehen.«

Joey machte seiner Prinzipalin jeden Tag mehr Freude, erlaubte aber auch auf eigene Verantwortlichkeit seinem Freunde, dem Matrosenknaben, die Eröffnung eines Kontos, sobald dessen Geld zu Ende war. Das Schiff sollte stromaufwärts gehen, um eine Ladung einzunehmen, und Joey beschloß, einige Zeilen an M'Shane zu schreiben, um seinen Wohlthäter zu beruhigen. Jim Paterson versprach, sobald er in London anlange, den Brief auf die Post zu geben.

Das Schreiben unseres Helden lautete einfach:

 

»Lieber Herr, ich bin ganz wohl und habe eine Beschäftigung gefunden. Machen Sie sich um meinetwillen keinen Kummer und seien Sie versichert, daß ich Ihrer Güte stets eingedenk sein werde.

Joey M'Shane.«

 

Am nächsten Sonntag kleidete sich Joey in seinen Matrosenanzug, der ihm ungemein gut stand, um so mehr, da auch in seinem Benehmen die Früchte einer früheren guten Erziehung nicht zu verkennen waren. Er ging nach der Kirche und begab sich, sobald der Gottesdienst beendigt war, nach der Wohnung seiner kleinen Freundin Emma Philipps. Sie ging ihm entgegen, nahm ihn, entzückt über seinen neuen Anzug, bei der Hand und stellte ihn ihrer Mutter vor. Mrs. Philipps war eine ruhige, angenehme Frau, desgleichen auch ihre Mutter, eine sehr ehrwürdig aussehende alte Dame. Sie stellten viele Fragen an ihn über seine Verwandten, aber unser Held beharrte auf seiner alten Geschichte, daß nämlich er und sein Vater sich mit Wildern abgegeben hätten; als er jedoch entdeckt worden, habe er sich flüchten müssen, zu einem derartigen Schritte aber die Zustimmung seiner Eltern erhalten. Die Frauen waren mit seinen Antworten zufrieden und wurden sehr günstig für ihn gestimmt; da außerdem das Töchterlein Joey unter ihre Protektion genommen hatte, so erhielt er die Einladung, seinen Besuch zu wiederholen – eine Erlaubnis, von der er jezuweilen an Sonntagen Gebrauch machte. Indes zog er es doch vor, mit Emma auf dem Heimwege von der Schule zusammenzutreffen; mit der Zeit wurden die beiden Kinder (wenn man Joey noch ein Kind nennen konnte) so vertraut, daß sie es schmerzlich empfanden, wenn ein Tag verstreichen mußte, ohne daß sie ein paar Worte mit einander wechseln konnten. So entschwand das erste Halbjahr von Joeys neuem Leben. Der Winter war kalt, die Beschäftigung auf dem Wasser unfreundlich, und er hauchte sich in die Finger, während Mrs. Chopper die Arme unter ihrer Schürze kreuzte; doch hatte er stets nach der Arbeit des Tages ein gutes Abendessen und ein warmes Bett. Mrs. Chopper gewann ihn immer lieber und machte am Ende gar das Zugeständnis, daß er noch viel brauchbarer sei als Peter – eine Ansicht, für welche sich auch der Fährmann William erklärte, indem er meinte, der gegenwärtige Peter sei zwei solcher wert, wie der gewesen, welcher einen so frühen Tod gefunden habe.


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