Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Unser Held erneuert eine alte Bekanntschaft, über die er nicht sehr erfreut ist.


Wir haben Joey verlassen, wie er den Scherenschleiferkarren dem Hause seines Vaters zuwälzte. Wir müssen gestehen, daß er es nur sehr ungern that. Er hatte nie sonderliche Freude an diesem Gewerbe und war demselben namentlich jetzt besonders abgeneigt, seit er von Spikemans Eigentum Besitz genommen und durch Mary die Nachricht erhalten hatte, daß ihm weitere dreihundertfünfzig Pfund zugefallen seien. Wegen des Karrens konnte er nicht schnell vorwärts kommen, er wurde ihm zu einer um so verdrießlicheren Last, da er jetzt nicht mehr seinen Unterhalt damit zu suchen brauchte. Mehr als einmal kam ihm der Gedanke, den ganzen Kram in eine Roßschwemme zu werfen; aber dann erwog er auch, daß er darin einen gewissen Schutz gegen Nachfragen oder Angriffe habe, denn sein Schleiferrad galt zugleich als Aushängeschild der Armut und einer ehrlichen Beschäftigung. Joey zog also weiter, obgleich mit keiner großen Vorliebe für seine bewegliche Werkstätte. Wie viele Luftschlösser baute sich nicht unser Held, als er die Landstraße dahinwanderte! Die Geldsumme, welche ihm zugefallen war, schien ihm unerschöpflich zu sein. Er machte Pläne über Pläne und war am Schlusse des Tages, wie es den meisten Leuten zu gehen pflegt, ebenso unentschlossen als am Morgen. Dessenungeachtet fühlte er sich in seinen Vorahnungen überglücklich – ist man's doch in der Regel in einem solchen Zustande mehr, als wenn man dessen, was man sucht, wirklich teilhaftig wird. Die Zeit rollte weiter, wie das Rad seines Karrens, und endlich langte Joey an dem Wirtshause an, wo er mit Mary ein Unterkommen gefunden hatte, ehe sie im Schlosse eine Stelle fand. Er schrieb ihr sogleich ein Billet, in welchem er sie von seiner Ankunft in Kenntnis setzte. Er hätte sich selbst angekündigt, wäre er nicht immer noch der empfangenen übeln Behandlung eingedenk gewesen; er bediente sich deshalb eines Fleischerjungen als Boten, der ohnehin nach dem Schlosse zu gehen hatte. Mary ließ ihm durch dieselbe Mittelsperson sagen, daß sie am Abend zu ihm herunterkommen wolle, und als sie ihr Versprechen erfüllte, konnte sich Joey nicht genug wundern, wie sehr ihr Äußeres gewonnen hatte. Sie sah viel jünger aus, als zur Zeit ihres Abschiedes; auch war ihr Anzug so ganz anders, daß unser Held kaum glauben konnte, es sei dieselbe Person, in deren Geleite er von Gravesend hergekommen war. Ihr sorgloses Wesen war verschwunden und hatte einer Zurückhaltung – einer Würde Platz gemacht, die ihn überraschte. Seiner Zuneigung zu ihr gesellte sich jetzt eine Art Respekt bei, dessen er sich nicht zu entschlagen vermochte. Aber wenn die veränderte Lebensweise sie verjüngt zu haben schien, so sah sie dabei auch viel gesetzter aus – höchstens ihr Lächeln ausgenommen, oder wenn sie (was jedoch sehr selten geschah) in ein heiteres Lachen ausbrach; dann erst glaubte man die unbekümmerte gutmütige Nancy aus früheren Tagen wieder zu sehen. Daß die Begrüßung warm und innig war, brauche ich kaum zu sagen. Es war das Wiedersehen einer Schwester und eines jüngeren Bruders, die sich zärtlich lieben.

»Du bist ja recht groß geworden, Joey«, sagte Mary. »Lieber Joey, wie glücklich fühle ich mich, Dich wieder zu sehen!«

»Und Du, Mary, Du siehst viel jünger aus, was das Gesicht betrifft, aber älter in Deinem übrigen Wesen. Bist Du in Deiner Stellung wirklich so glücklich, als Du mir in Deinen Briefen gesagt hast?«

»Ganz glücklich; glücklicher, als ich es je verdiente, mein Lieber. Und nun sage mir, Joey, was gedenkst Du anzufangen? Du hast nun die Mittel, Dich irgendwo niederzulassen.«

»Ja, ich habe auch daran gedacht, aber ich weiß immer noch nicht, was ich thun soll.«

»Nun, Du mußt Dich umsehen und Dich nicht übereilen. Vergiß nicht, Joey, wenn Dir etwas vorkommt, was Dir ansteht, so sollst Du mein Geld so gut haben als das Deinige.«

»Ei, warum sollte ich auch Dein Eigentum nehmen?«

»Weil es mir nichts nützt und müßig daliegen müßte. Außerdem weißt Du ja, wenn Du Glück hast, kannst Du mir Interessen daraus bezahlen, und so werde ich eben so gut gewinnen, als Du. Deiner Schwester darfst Du nichts abschlagen, mein liebes Kind.«

»Liebe Mary, wie sehr wünschte ich, daß wir miteinander unter demselben Dache wohnen könnten!«

»Das kann jetzt nicht sein, Joey; Du verdienst eine bessere Stelle, als die meinige im Schlosse ist, selbst den Fall angenommen, daß Du dort in Dienste treten möchtest.«

»Das soll nie geschehen, wenn ich mir anders zu helfen weiß; nicht daß ich noch immer grollte, aber ich liebe die Unabhängigkeit.«

»Das finde ich begreiflich.«

»Freilich, der Schleiferkarren – schon sein Anblick ist mir verhaßt; er hat zwar Spikemans Glück gemacht, wird mir aber nie zu dem meinigen verhelfen.«

»Du bist also nicht eines Sinnes mit Deinem früheren Reisegefährten«, versetzte Mary, »wenn er meint, daß ein Kesselflicker dem Gentleman so nahe stehe, als nur möglich?«

»Gewiß nicht«, antwortete unser Held, »und sobald ich den Schleifstein los werden kann, soll es geschehen. Ich habe ihn mit hergenommen, gedenke aber nicht, ihn viel weiter zu schleppen. Ich möchte nur wissen, wohin ich gehen soll.«

»Ich habe etwas in der Tasche, was mich an die Neuigkeit erinnert, die ich kürzlich erfahren habe. Zuerst nimm dies« – Mary zog das Bleistiftrohr heraus, das ihr Emma Philipps für Joey übergeben hatte. »Da, Du weißt schon, von wem dies kommt.«

»Ja, und ich werde es sehr wert halten, denn sie war ein liebes, freundliches kleines Wesen. Sie tröstete mich, als ich mich so recht unglücklich fühlte.«

»Auch hat mir Miß Philipps aufgetragen, ihr bald zu schreiben, denn sie wünschte zu hören, ob ich wohlbehalten im Schlosse angelangt sei. Das war sehr freundlich von ihr, und ich erfüllte ihren Wunsch natürlich. Ich habe seitdem wieder einen Brief von ihr erhalten, in dem sie mir meldet, daß ihre Großmutter gestorben sei und ihre Mutter Gravesend verlassen wolle, um nach Portsmouth zu ziehen, wo sie bei ihrem Bruder, der jetzt Witwer ist, wohnen will.«

»Ich gehe nach Portsmouth«, versetzte unser Held.

»Ich dachte das auch. Mrs. Philipps' Bruder ist Agent bei der Flotte, und da sie Teilnahme für Dich bezeigt, so ist's wahrscheinlich das beste, was Du thun kannst. Wenn sich dann etwas herausstellt, kann man Dir doch mit gutem Rat an die Hand gehen und dafür sorgen, daß Dein Geld nicht so leicht verloren geht. Es wird daher wohl das geratenste sein, wenn Du nach Portsmouth gehst, um dort Dein Glück zu versuchen.«

»Es freut mich recht, daß Du mir dies gesagt hast, Mary, denn bis jetzt war mir ein Platz so gleichgültig als der andere. Nunmehr ist's aber anders, und es bleibt bei Portsmouth.«

Unser Held weilte noch zwei oder drei Tage im Dorfe, und während dieser Zeit besuchte ihn Mary jeden Abend; einmal erhielt sie auch Erlaubnis, wegen ihres Geldes zu dem Bankier zu gehen. Sie ließ die Joey gebührende Summe auf seinen Namen überschreiben und traf Vorkehrungen, daß derselbe sein Kapital aus der Bank ziehen konnte, wann es ihm beliebte. Nachdem diese Einleitungen getroffen waren, nahm unser Held von Mary Abschied, versprach ihr, fleißiger als bisher zu schreiben, warf abermals den Riemen seines Schleiferkarrens über die Schulter und brach nach Portsmouth auf.

Joey hatte vom Dorfe an noch keine zwei Meilen zurückgelegt, als er sich die Frage stellte, was er mit dem Schleifsteine anfangen sollte. An der Straße wollte er ihn nicht stehen lassen und wußte doch nicht, wie er ihn sonst an den Mann bringen sollte. Er schleppte ihn daher weitere sechs Meilen mit sich, und da er nun ganz erschöpft war, so beschloß er, Spikemans früherem Beispiele zu folgen und ein wenig auf dem Rasen am Wege auszuruhen. Die Sonne schien sehr warm, und nach einer Weile zog sich Joey nach der andern Seite des Geheges zurück, da dieselbe schattiger war. Er nahm sein Bündel, das an der Seite des Karrens hing, ab, verspeiste den Mundvorrat, mit dem er sich versehen hatte, legte dann das Bündel unter seinen Kopf und lag bald in tiefem Schlafe, aus welchem er endlich durch den Ton von Stimmen geweckt wurde, die sich von der andern Seite der Hecke her vernehmen ließen. Er wandte sich um und entdeckte zwei Männer, bloß in Hemden und Hosen gekleidet, an der Straße, die gerade neben seinem Schleiferrade auf dem Rasen saßen.

»Der Plan gefällt mir nicht übel«, bemerkte der eine; »wir kommen weiter, ohne daß man uns beargwöhnte.«

»Ja, vorausgesetzt, daß wir ihn fortbringen, ohne entdeckt zu werden. Wo mag wohl der Eigentümer davon sein?«

»Wahrscheinlich hat er in der Nähe etwas zu thun und den Karren da stehen lassen, bis er wieder zurückkommt.«

»Aber wie greifen wir's an, wenn wir ihn mitnehmen wollen?«

»Auf dieser Straße geht's nicht; wir müssen ihn über Felder, Hecken und Zäune schaffen, bis wir in einen andern Weg kommen. Wenn wir dann die ganze Nacht durchwandern, so sind wir sicher.«

»Ja, und 's giebt uns guten Schutz. Selbst wenn man uns als Deserteure von Portsmouth aus durch Steckbriefe verfolgen läßt, so hält man uns eben für wandernde Kesselflicker, ohne daß Verdacht auf uns fiele.«

»Gut, wir wollen dran. Wenn wir ihn nur von der Straße wegbringen und bis auf die Nacht verbergen können, so läßt sich's leicht machen. Zuerst müssen wir aber sehen, ob der Kerl, dem er gehört, nicht irgendwo in der Nähe ist.«

Der Mann, der zuletzt gesprochen hatte, stand jetzt auf und drehte sein Gesicht der Hecke zu. Unser Held erkannte augenblicklich, daß es ein alter Bekannter, nämlich der Schulmeister und Seesoldat Furneß war. Er wußte kaum, was er anfangen sollte. Endlich bemerkte er, daß Furneß auf das nahe Thürchen in der Hecke zuging, und da an ein Entkommen nicht zu denken war, so bedeckte unser Held das Gesicht mit seinen Händen und that, als ob er fest schliefe. Bald hörte er ein »bst«, das dem andern als Signal dienen sollte, und nach einer Weile kamen die Fußtritte näher. Joey schnarchte laut, und nun flüsterten die beiden mit einander. Endlich hörte er Furneß sagen:

»Gieb auf ihn acht, während ich mit dem Karren weiter ziehe.«

»Was soll ich aber anfangen, wenn er erwacht?«

»Dann schlägst Du ihm mit diesem großen Steine das Gehirn ein. Bleibt er ruhig liegen, bis ich das zweite Feld im Rücken habe, so folgst Du mir.«

Man kann sich leicht denken, daß unser Held nach einem so handgreiflichen Winke keine Lust hatte, zu erwachen. Er hörte das Thürchen öffnen und den Karren dahin rollen, was ihm keine geringe Erleichterung verschaffte, da Furneß die Besorgung dieses Geschäfts übernommen hatte. Joey schnarchte laut, bis er zuletzt auch Furneß' Kameraden, der bei ihm geblieben war, abziehen hörte. Er hielt es für klug, noch eine Weile regungslos zu bleiben, um den Dieben Zeit zu lassen, ihren Raub in Sicherheit zu bringen; dann wandte er sich allmählich um und blickte in die Richtung, welche die beiden Ausreißer eingeschlagen hatten. Er konnte nichts von ihnen sehen, und erst als er aufstand und auf das Heckenpförtchen kletterte, bemerkte er, wie sie sich in ziemlicher Entfernung eiligst von hinnen machten. Dem Himmel dankend, der Gefahr entronnen zu sein, und noch dazu entzückt über den Verlust seines Eigentums, nahm unser Held, das Bündel auf der Schulter, seine Reise wieder auf, und noch ehe die Nacht einbrach, befand er sich wohlbehalten auf der Außenseite einer Postkutsche, welche ihn nach einer Stadt brachte, von wo aus er mit einem andern Wagen nach Portsmouth kommen konnte; am andern Abend traf er ohne weiteres Abenteuer in der Hafenstadt ein.

Während unser Held auf dem Außensitze der Postkutsche saß, stellte er Betrachtungen über sein letztes Erlebnis an, das ihm allen Grund gab, sich selbst Glück zu wünschen. Augenscheinlich war Furneß aus der Kaserne zu Portsmouth desertiert, und hätte er das nicht gethan, so würde er zuverlässig früher oder später Joey erkannt haben. Nun glaubte er zu Portsmouth sicher sein zu können, da dies wahrscheinlich der letzte Ort war, an welchem sich Furneß wieder blicken ließ; und auch über das Scherenschleiferrad hätte er nicht besser verfügen können, denn es verschaffte ihm den großen Vorteil, daß es Furneß die augenfälligen Mittel eines Erwerbes an die Hand gab und daher seine Festnahme als Ausreißer verhinderte. Ein weiteres Glück war es für ihn, daß er sein Bündel und sein Geld bei sich behalten hatte, denn wäre es an dem Karren hängen geblieben, so hätte es natürlich das Schicksal des Karrens geteilt.

»Außerdem«, dachte Joey, »kann ich jetzt Furneß, wenn er es wagen sollte, mir nahe zu kommen, damit drohen, daß ich ihn als Deserteur aufgreifen lasse, und dies mag ihn wohl zurückschrecken.«

Als unser Held in einem bescheidenen Wirtshause seine Nachtherberge nahm, legte er mit dankbarem Herzen sein Haupt auf den Pfühl nieder.


 << zurück weiter >>