Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Ist sehr lang, obgleich es unserem Helden in sehr kurzer Zeit Beschäftigung zuweist.


Die Vorbereitungsschule für junge Gentlemen, nach welcher unser Held geschickt worden, lag bei Clapham-rise. Joey hielt es nicht für rätlich, die Richtung nach London einzuschlagen, sondern zog quer durch das Land, so daß er vor sieben Uhr morgens in die Nähe von Gravesend gelangte. Es war eine schöne, ruhige Augustnacht gewesen, und die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel, als Joey, der jetzt fünfzehn oder sechzehn Meilen zurückgelegt hatte, sich niedersetzte, um auszuruhen. Während er ruhig auf dem grünen Rasen neben dem Wege saß, dachte er an seine Eltern, an M'Shane's Freundlichkeit und an sein eigenes hartes Geschick, bis er ganz schwermütig wurde und die Thränen aus seinen Augen rannen. Sie träufelten ihm noch über die Wangen, als ein ungefähr zehn Jahre altes, sehr hübsch gekleidetes Mädchen, das augenscheinlich zu den besseren Ständen gehörte, so leichten Schrittes des Weges kam, daß sie von Joey nicht einmal bemerkt wurde. Sie sah im Vorübergehen nach ihm hin; wie sie aber bemerkte, daß er weinte, wurde ihr eigenes schönes Gesichtchen für einen Augenblick umwölkt. Joey schaute traurig vor sich hin, und nach einer Weile ging sie einige Schritte weiter; dann aber blickte sie wieder um, blieb, da sie ihn noch immer weinen sah, aufs neue stehen, kehrte zurück und trat auf ihn zu. Joey bemerkte sie noch immer nicht, denn er war ganz in seinen Schmerz vertieft; er hatte die ihm sorgfältig eingeprägten Lehren nicht vergessen, sondern dachte an Gott als seine Zuversicht, weshalb er sich erhob, auf seine Knie niederfiel und betete. Das kleine Mädchen, dem bereits die Thränen des Mitleids in den Augen standen, ließ sein Körbchen fallen und kniete an seiner Seite nieder – nicht gerade um zu beten, denn sie wußte nicht, um was sie beten sollte, sondern aus einem unwillkürlichen Achtungsgefühle gegen die Gottheit, zu welcher der Knabe flehte, verbunden mit der Empfindung inniger Teilnahme für ein Wesen, das augenscheinlich unglücklich war. Joey erhob seinen Blick und bemerkte das knieende Kind, welchem die Thränen über die Wangen rollten. Er trocknete hastig seine Augen ab, denn er hatte bis zu diesem Moment allein zu sein geglaubt und eben wegen seiner Verlassenheit zu Gott gebetet – er sah auf und fand, daß er nicht allein war, sondern jemand an seiner Seite hatte, der ihm Mitleid zollte, ohne den Grund seines Leidens zu kennen. Der Anblick gereichte ihm zum Trost. Sie erhoben sich beide gleichzeitig; Joey ging auf das Mädchen zu, nahm sie bei der Hand und sagte:

»Ich danke Dir.«

»Warum weinst Du?« fragte das Mädchen.

»Weil ich unglücklich bin; ich habe keine Heimat;« versetzte Joey.

»Keine Heimat?« entgegnete das Mädchen. »Ei, Knaben, die in Lumpen sind und am Hungertuche nagen, haben keine Heimat, aber nicht junge Gentlemen, die wie Du gekleidet sind.«

»Aber ich habe meine Heimat verlassen«, erwiderte Joey.

»Dann geh wieder zurück – wie froh wird man sein, wenn man Dich wieder sieht!«

»Ja, das würde man freilich«, versetzte Joey, »aber ich darf nicht.«

»Hast Du denn etwas unrechtes gethan? Nein – gewiß nicht – Du mußt ein guter Knabe sein, sonst würdest Du nicht gebetet haben.«

»Nein, ich habe nichts unrechtes gethan, aber ich darf Dir nichts weiter sagen.«

In der That war Joey auch schon viel mitteilsamer gegen das kleine Mädchen gewesen, als er gegen jeden anderen Menschen zu sein gewagt hätte; er war jedoch überrascht worden und fürchtete obendrein nicht, von einem so unschuldigen Geschöpfe verraten zu werden. Nunmehr hatte er sich aber wieder gesammelt und gab dem Gespräche eine andere Wendung.

»Wohin gehst Du?«

»In die Schule nach Gravesend. Ich gehe jeden Morgen hin und bleibe dort bis zum Abend. Hier in einem Körbchen ist mein Mittagbrot. Bist du hungrig?«

»Nein, nicht besonders.«

»Gehst Du auch nach Gravesend?«

»Ja. Wie heißt Du?«

»Emma Philipps.«

»Hast Du Vater und Mutter?«

»Einen Vater habe ich nicht; er fiel in der Schlacht, noch eh ich geboren war.«

»Und Deine Mutter?«

»– Wohnt bei der Großmutter in jenem Hause dort, das Du durch die großen Bäume sehen kannst. – Und was hast Du vor? Willst Du mit mir nach Hause kommen? Ich will meiner Mutter alles sagen, was Du mir gesagt hast; sie ist sehr gütig und wird an Deine Freunde schreiben.«

»Nein, nein. Das darfst Du nicht thun. Ich gehe, um eine Beschäftigung zu suchen.«

»Ei, was kannst Du denn thun?«

»Ich weiß selber kaum«, versetzte Joey; »aber ich kann arbeiten und will's an Fleiß nicht fehlen lassen – so hoffe ich denn, nicht Hungers sterben zu müssen.«

Unter solchen Gesprächen setzten sie ihren Weg fort, bis das Mädchen sagte:

»Hier ist meine Schule; ich muß Dir jetzt Lebewohl sagen.«

»Lebe wohl, ich werde Dich nicht vergessen«, versetzte Joey, »obgleich wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen werden.«

Thränen standen in den Augen unseres Helden, als er die Hand der Kleinen losließ und sich von ihr trennte.

Joey war abermals allein und erwog bei sich, welche weiteren Schritte er nunmehr einschlagen sollte.

Die Worte der kleinen Emma: »nicht junge Gentlemen, die wie Du gekleidet sind«, machten ihm bemerklich, daß er ohne Frage Aufsehen und Argwohn auf sich ziehen mußte, wenn er seinen Anzug nicht änderte. Er entschloß sich dieses alsbald zu thun, und trug sich dann ausschließlich mit dem Gedanken, womöglich Mittel zu finden, um wieder zu Kapitän O'Donahue zurückzukommen, der ihn ohne Zweifel gern wieder aufnahm, sobald er sich überzeugte, daß es für Joey nicht geraten sei, in England zu bleiben; aber freilich, er mußte ihm dann wohl die Wahrheit sagen – oder nicht? In betreff dieses letztern Punktes war unser Held noch nicht ganz schlüssig, weshalb er die Lösung der Frage auf eine andere Gelegenheit verschob. Eine Kleiderbude fesselte nun seine Aufmerksamkeit. Nachdem er die Gegenstände von außen gemustert hatte, blickte er zur Thüre hinein, wo er einen Matrosenknaben um einige Kleidungsstücke handeln sah; er trat in die Bude, als wollte er gleichfalls bedient werden, obschon es ihm eigentlich vorderhand mehr darum zu thun war, den Preis der Waren kennen zu lernen, welche er zu kaufen gedachte. Der Matrose feilschte um eine rote Zwilchjacke und ein paar blaue Hosen, welche ihm der Jude zuletzt für vierzehn Schillinge überließ. Joey meinte, da er viel kleiner sei als jener Junge, so werde er weniger bezahlen müssen, und fragte nach dem Preise ähnlicher Gegenstände; der Jude jedoch, der seinen Anzug bereits gemustert hatte, war ganz der entgegengesetzten Ansicht. Joey blieb übrigens fest und wollte bereits den Laden verlassen, als ihn der Jude wieder zurückrief und nach einem weiteren Feilschen ihm den Anzug für zwölf Schillinge überließ. Nachdem unser Held bezahlt hatte, bat er den Juden um die Erlaubnis, sich nach der Hinterstube zurückziehen und daselbst die Kleidungsstücke anprobieren zu dürfen, was sich der Jude gerne gefallen ließ. Wo es einen Pfennig zu verdienen giebt, stellt ein Hebräer keine Fragen; er kümmerte sich daher wenig um Joeys Verhältnisse, sondern hatte weiter nichts im Auge, als dem fremden Kunden seine Waren möglichst teuer aufzuhängen und dann durch wohlfeilen Ankauf von Joeys Kleidern abermals ein Stückchen Geld zu profitieren. Als er bemerkte, daß unser Held seine abgelegte Gewandung in ein Bündel knüpfte, fragte er ihn, ob er sie nicht verkaufe, und Joey zeigte sich völlig bereitwillig; der von dem Juden gebotene Preis war übrigens so klein, daß die Ware wieder ins Bündel wandern mußte und Joey abermals den Laden verließ, worauf sich der Jude endlich erbot, das für den Matrosenanzug bezahlte Geld wieder herauszugeben und die Kleider unseres Helden dagegen anzunehmen, vorausgesetzt, daß derselbe auch seinen Hut gegen eine Kopfbedeckung von Teertuch austauschen wollte, welch letztere besser zu seinem gegenwärtigen Kostüm paßte. Joey ließ sich dies gefallen und hatte demgemäß einen Handel abgeschlossen, ohne einen Kreuzer von seinem kleinen Geldvorrate ausgeben zu müssen. Niemand, der unseren Helden nur in seinem Anzuge auf der Schule gesehen hätte, würde ihn in seiner gegenwärtigen Tracht so leicht erkannt haben. Joey verließ den Laden, sein Bündel unter dem Arme, und gedachte sich nach einem Frühstücke umzusehen, denn er war sehr hungrig. Er wandte den Kopf nach rechts und links, ob nicht irgendwo Mundvorrat zu bekommen sei, und bemerkte endlich den Matrosenjungen aus der Trödelbude, der, seine neue Erwerbung unterm Arme, aufmerksam das Schild über einem Ladenfenster ansah. Joey trat an seine Seite und fragte ihn, wo wohl etwas Eßbares aufzufinden sei, worauf der Junge sich umwandte, den Frager anstierte und nach einer Weile rief:

»Ah, seid Ihr nicht der Herrenjunge, der in die Bude trat? Ich wette, Ihr habt einen Streich gespielt und deshalb Fersengeld zahlen müssen. Nun, meinetwegen, guter Freund, kommt mit, ich will Euch weisen.«

Joey ging mit seinem neuen Bekannten etliche Schritte, worauf sich der Junge mit den Worten an ihn wandte:

»Wie ist's, hat Euch Euer Meister schon viel – Ihr versteht mich – wupp?«

»Nein«, versetzte Joey.

»Schön, das ist mehr, als ich von dem meinigen rühmen kann, denn bei dem kam's alle Tage vor. ›Halte Deine rechte Hand aus – und nun Deine linke‹,« fuhr er nachäffend fort. »O Jemine, wie prickelte das, aber nun ist's vergessen und vergeben: sie ist dadurch nur ein bischen härter geworden, als sie früher war. Kommt herein, da ist ein Kneiplein; wenn Ihr kein Geld habt, sollt Ihr mein Gast sein.«

Der Matrosenjunge nahm hinter einem schmalen Tische Platz, und Joey setzte sich ihm gegenüber; der erstere bestellte nun zwei Gläser Thee, ein Zweipennybrot und für zwei Pence Käse. Das Brot teilten sie unter sich, worauf jeder seine Portion Käse und sein Glas Thee an sich nahm, und so hielten sie ein treffliches Frühstück. Nach Beendigung desselben fragte der junge Matrose unsern Helden:

»Nun, was führt Ihr im Schilde? Wollt Ihr auf ein Schiff gehen?«

»Ich suche Beschäftigung«, versetzte Joey, »und kümmere mich nicht viel darum, worin dieselbe besteht.«

»Wohlan denn, so schaut her: ich bin meinen Verwandten entlaufen und ging zur See, kann Euch übrigens sagen, daß ich den Schritt nur ein einziges Mal bereut habe – das heißt, seit er geschehen, ohne Unterlaß. Alles übrige ist der See vorzuziehen – namentlich wenn der Winter kommt mit seinen Leiden. Zudem seht Ihr auch nicht stark genug aus, denn Ihr wißt nicht, was es heißt, zur Winterszeit an der Küste zu kreuzen; man wird hinaufgeprügelt, um das Bramsegel zu beschlagen, wenn es so dunkel ist, daß einer kaum die Hand vor Augen sieht und man vor Kälte kaum die Finger fühlt, mit welchen man sich fest halten muß, als ob es das Leben gelte, während man sich im Grunde doch selber sagt, daß ein solches Leben keinen Strohhalm wert ist. Oben hat man Kälte und Elend, unten Fußtritte und Ohrfeigen. Geht nicht zur See, denn wenn Ihr nach dem, was ich Euch gesagt habe, noch Lust dazu habt, so seid Ihr wahrhaftig dümmer, als Ihr ausseht.«

»Ich trage kein Verlangen nach dem Schiffsdienst«, versetzte Joey; »aber ich muß etwas thun, um mir meinen Unterhalt zu erwerben. Ihr seid sehr freundlich; wollt Ihr mir wohl sagen, was ich anfangen soll?«

»Ei, wißt Ihr was – als Ihr in der Zwilchjacke und den Pluderhosen auf mich zukamt, während ich die Bilder ansah, erinnerte ich mich gewaltig an einen armen kleinen Knaben, der kürzlich an der Seite eines Indienfahrers ertrank; Ihr seht ihm sogar ähnlich, daß ich anfangs meinte, Ihr wäret's selbst – und das war's, warum ich Euch so anstierte.«

»Wie kam's denn, daß der arme Junge ertrank?« fragte Joey.

»Je nun, seht, seine Base ist eine gute alte Seele, die ein Bumboot hält und an den Schiffen ab- und zufährt.«

»Was ist ein Bumboot?«

»Ein Boot voll weichen Tommys, Soldaten, Pfeifen, Tabak, fauler Äpfel, alter Pasteten, Nadeln, Faden und hundert anderer Dinge; dazu gehört noch ein fettes altes Weib, das auf der Spiegelbank sitzt.«

Joey machte große Augen, denn er wußte nicht, daß man unter »weichem Tommy« Brotlaibe und unter »Soldaten« Bücklinge verstand. Er dachte daher bloß, daß das Boot sehr voll sein müßte.

»Nun, seht Ihr, der kleine Peter war ihre rechte Hand, denn sie kann nicht lesen und schreiben. Könnt Ihr's? O, Ihr müßt's freilich können.«

»Ja, ich kann es«, versetzte Joey.

»Nun, der kleine Peter hielt sich an dem Anstreicher gegen eine auf den Bootsschnabel fallende Welle, aber seine Kraft war ihr nicht gewachsen, und als das Wasser über das Boot hinstürzte, riß es ihn über Bord, so daß er nicht wieder zum Vorschein kam.«

»Ist der Anstreicher auch ertrunken?« fragte Joey.

»Ha! ha! das ist prächtig! Ei, der Anstreicher ist ja ein Tau, das auch sonst die Fangleine heißt. Nun ist aber die Alte schrecklich in Nöten und weint den ganzen lieben Tag um den kleinen Peter, da sie nicht im stande ist, ihre Rechnungen selbst zu besorgen. Nun seht, da Ihr ihm sogar gleicht, so halte ich's nicht für unwahrscheinlich, daß die Alte Euch an seiner Statt annimmt, wenn ich hingehe und mit ihr darüber rede. Das ist besser als zur See gehen, denn jedenfalls schlaft Ihr des Nachts stets gesund und trocken am Lande, wenn Ihr auch hin und wieder ein nasses Wams kriegt. Was meint Ihr davon?«

»Ich bin Euch für Euer Wohlwollen sehr dankbar und würde mich freuen, die Stelle zu bekommen.«

»Schön; sie ist eine gute alte Seele und hat ein warmes Herz; sie borgt denen, welche kein Geld haben, obgleich ich fürchte, daß sie gar zu zutraulich ist, denn von vielen sieht sie keinen Heller wieder. Ich will nun hingehen und mit ihr reden, denn ihr Boot liegt, wenn ich an Bord gehe, neben unserem Schiffe. Wo kann ich Euch finden, wenn ich abends wieder ans Land komme?«

»Bestimmt nur den Ort, und ich will mich einfinden.«

»Wohlan denn, so erwartet mich um neun Uhr hier in diesem Hause, so können wir uns am wenigsten verfehlen. Aber jetzt muß ich aufbrechen. Ich will das Frühstück bezahlen.«

»Ich danke Euch«, versetzte Joey, »ich habe Geld.«

»Dann behaltet es; doch das wäre mehr, als ich thun kann. Wie heißt Ihr?«

»Joey.«

»Wohlan denn, mein guter Freund Joey – wenn ich Euch dieses warme Nestchen verschaffe und ich hin und wieder auf dem Trocknen sitze, so müßt Ihr mich einen Pump aufnehmen lassen, bis ich bezahlen kann.«

»Was ist ein Pump?«

»Ihr werdet's bald ausfindig machen, wenn Ihr einmal Eure acht Tage an dem Bumboot zugebracht habt«, versetzte der junge Mensch lachend. »Also wohl gemerkt, um neun Uhr, mein Schatz – Gott befohlen!«

Mit diesen Worten nahm der junge Matrose seine neuen Kleider auf und eilte nach dem Ufer hinunter.

Die Stube war mit Matrosen und Weibern angefüllt, welche sich zu laut und lärmend unterhielten, um Joey oder seinem Kameraden Aufmerksamkeit zu schenken. Unser kleiner Held blieb eine Weile, nachdem sich sein neuer Bekannter entfernt hatte, an dem Tische sitzen und ging dann auf die Straße hinaus, nachdem er den Wirtsleuten bedeutet hatte, sie möchten auf sein Bündel acht haben, da er wieder zurückkommen werde.

»Du wirst es hier wieder finden, mein kleines Bürschlein, wenn Du danach fragst«, sagte das Weib im Schenkverschlag, indem sie das Päckchen hinein nahm und unter den Zahltisch legte.

Joey machte sich mit ruhigerem Gemüte auf den Weg. Zwar konnte er sich von der Art der ihm in Aussicht gestellten Beschäftigung keine rechte Vorstellung machen, aber doch meinte er, er werde im stande sein, derselben vorzustehen. Er vergnügte sich durch einen Spaziergang in den Straßen, beobachtete die Rührigkeit der Vorübergehenden, sah den Fährleuten zu, wie sie in ihren Nachen dahinglitten, und betrachtete das Treiben der Matrosen auf den Schiffen, welche im Strome lagen. Es war ein Anblick voll Leben und Regsamkeit. Während er an dem Landungsplatze hin- und herschlenderte, kam ein Boot ans Ufer, das, der Beschreibung seines jungen seemännischen Freundes zufolge, ein Bumboot sein mußte, denn es führte nicht nur alle von demselben angedeuteten Artikel, sondern auch noch viele andere – als da waren: Porter in Flaschen, ein Faß, das wahrscheinlich Bier enthielt, Lauch, Zwiebeln und noch viele andere Gegenstände verschiedenartigster Beschaffenheit; dann saß noch überdies ein wohlgenährtes Weib auf der Sternbank.

Der Fährmann langte mit seinem Bootshaken heraus und legte den Nachen an. Die dicke Person stieg aus, ihr Führer bot ihr einen Korb nebst einem Kontobuch und mehreren andern Artikeln nach, die sie keinen Augenblick entbehren zu können schien: darunter befand sich auch namentlich ein Bündel, das wie ein Pack schmutziger Leinwand aussah, welche zur Wäscherin geschickt werden sollte.

»Herr Jemine, wie bringe ich alle diese Dinge hinauf? Ihr, William, dürft das Boot nicht verlassen, und sonst ist niemand da, der mir beistehen könnte.«

»Ich will Euch helfen«, sagte Joey, die Stufen herunter kommend. »Was kann ich für Euch tragen?«

»Schön, Du bist ein guter, dienstfertiger Knabe«, versetzte sie. »Kannst Du mit diesem Pack zurecht kommen? für das übrige will ich selbst Sorge tragen.«

Joey warf das Bündel mit einem Rucke über seine Schulter.

»Das lasse ich mir gefallen, Du bist ein starker kleiner Kerl«, sagte der Fährmann.

»Er ist ein ganz nettes Bürschlein, und noch obendrein so dienstfertig. Nun, komm mit; Du sollst nicht vergessen werden!« Joey folgte mit dem Bündel, bis sie, etwa achtzig Schritte von dem Löschplatze, vor eine schmale Thüre kamen. Die Frau fragte ihren Helfer, ob er ihr nicht das Bündel in den ersten Stock hinauftragen wolle, sofort zeigte er sich bereit.

»Könnt Ihr mich noch weiter brauchen?« fragte Joey, das Bündel niedersetzend.

»Nein, mein lieber Junge, nein; aber ich muß Dir für Deine Bemühungen etwas geben. Was verlangst Du?«

»Nichts«, versetzte Joey; »auch werde ich nichts nehmen; 's ist gerne geschehen. Gott behüte Euch!«

Nach diesen Worten ging Joey wieder die Treppe hinunter, ohne auf das Rufen der Frau zu achten, und begann aufs neue seine Wanderungen durch die Straßen von Gravesend. Da jedoch das Pflaster keines von den besten war, so wurde er dieser Unterhaltung bald überdrüssig und nahm sich vor, ins freie Feld hinauszugehen. Er verließ die Stadt auf demselben Wege, auf dem er hereingekommen war, kam an der Schule der kleinen Emma vorbei und trabte auf der Straße weiter, hin und wieder Halt machend, um allenfalls einen auf einem Baume singenden Vogel, den er nicht verschüchtern wollte, oder einen sonstigen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit fesselte, zu betrachten. Mitunter setzte er sich auch neben dem Wege nieder und stellte Erwägungen über die Vergangenheit und die Zukunft an. Der Tag neigte sich zu Ende, und Joey unterhielt sich noch immer in der Weise eines Knaben, der lange in eine Schule eingesperrt war; er schlenderte weiter bis zu der Stelle, wo er geweint hatte und mit der kleinen Emma Philipps zusammengetroffen war. Dort setzte er sich wieder nieder, dachte an das liebliche Antlitz des Mädchens, an dessen Freundlichkeit gegen ihn, und blieb so lange sitzen, bis er durch singende Töne aus seinen Träumen geweckt wurde. Er blickte auf und erkannte die Kleine, welche von der Schule zurückkehrte. Alsbald erhob er sich und ging ihr entgegen; sie schien ihn aber nicht zu kennen und würde an ihm vorübergegangen sein, wenn er sie nicht mit den Worten angeredet hätte:

»Kennst Du mich nicht mehr?«

»O ja, jetzt wohl«, versetzte sie lächelnd, »aber anfangs nicht, denn Du bist jetzt ganz anders gekleidet. Ich habe den ganzen Tag an Dich denken müssen und darüber meine Aufgabe vernachlässigt, so daß man mich ins schwarze Buch einzeichnete«, fügte sie mit einem Seufzer bei.

»So bin also ich schuld daran?« entgegnete Joey; »es thut mir recht leid.«

»O, laß Dich's nicht bekümmern; es ist nach langer Zeit wieder das erste Mal, und ich werde Mama sagen, warum es geschah. Doch Du bist wie ein Matrosenknabe gekleidet – willst Du auf die See gehen?«

»Nein, ich glaube nicht. Ich hoffe in der Stadt Beschäftigung zu erhalten, und dann werde ich Dich wohl bisweilen sehen können, wenn Du von der Schule kommst. Darf ich Dich bis zu Deiner Wohnung begleiten?«

»Ja, ich denke wohl, wenn Du es gern thust.«

Joey ging mit ihr bis zu ihrem Hause, das noch einige hundert Schritte entlegen war.

»Aber Du mußt mir etwas versprechen«, sagte Joey stockend.

»Und das wäre?«

»Du mußt mein Geheimnis bewahren und darfst Deiner Mutter nicht sagen, daß Du mich zuerst in besserer Kleidung, wie Du's nanntest, sahst. Es könnte mir Nachteil bringen – und in der That, ich bitte Dich nicht um meinetwillen darum. Sage kein Wort von meinen anderen Kleidern, man könnte mir sonst Fragen vorlegen, die ich nicht beantworten darf, weil sich's um ein Geheimnis handelt, das nicht mir gehört. Ich habe Dir diesen Morgen schon mehr gesagt, als ich irgend jemand anders mitgeteilt haben würde. Ja, Du darfst es glauben.«

»Gut«, erwiderte das Mädchen nach kurzem Besinnen; »ich glaube, daß ich kein Recht habe, ein Geheimnis auszuschwatzen, wenn man mich bittet, es nicht zu thun; ich will daher nichts von den Kleidern sagen, aber jedenfalls muß ich meiner Mutter mitteilen, daß ich mit Dir zusammentraf.«

»Ja, sage ihr dies, und noch weiter, daß ich mich nach Arbeit umsehe. Morgen oder übermorgen will ich Dich wissen lassen, ob mir meine Bemühungen gelungen sind.«

»Willst Du nicht mit herein kommen?«

»Nein, heute nicht; ich muß sehen, ob ich die mir versprochene Beschäftigung kriegen kann, und dann hoffe ich, Dich wieder zu treffen; sollte dies aber nicht der Fall sein, so behalte mich im Andenken. Gewiß, ich will auch Deiner nicht vergessen – Gott behüte Dich!«

Emma sagte ihm Lebewohl, und sie trennten sich. Joey blieb stehen und sah ihr nach, bis sie unter dem Portikus des Einganges verschwunden war.

Unser Held kehrte in einer etwas schwermütigen Stimmung nach Gravesend zurück. Es lag etwas so ungewöhnliches in dem Zusammentreffen mit dem kleinen Mädchen – etwas so ungewöhnliches in der Teilnahme, welche sie ihm gezeigt hatte, daß ihm die Trennung schwer zu Herzen ging. Es war indes schon spät und bald an der Zeit, um mit dem Matrosenknaben zusammenzutreffen.

Joey wartete etwa eine Viertelstunde an der Thür des Speisehauses, als er seinen jungen Freund des Weges kommen sah. Er ging ihm entgegen.

»Ah, da sind wir! Nun, Bürschlein, ich habe die Alte gesprochen. Sie wollte mir gar nicht glauben, daß es noch einen Menschen in der Welt geben könne, der ihrem Peter gleiche; ich habe sie jedoch beredet, sich nach Euch umzusehen. Kommt also mit, ich muß in einer halben Stunde wieder an Bord sein.« Joey folgte dem Knaben die Straße hinunter, bis sie an derselben Thür anlangten, wohin er das Bündel getragen hatte. Der Matrosenjunge stieg die Treppen hinauf, trat in ein Zimmer des ersten Stockes, und unser Held erkannte die Frau, welcher er heute an die Hand gegangen war.

»Da ist er, Mrs. Chopper, und wenn er nicht für Euch paßt, so weiß ich nicht, wo Ihr einen andern finden wollt«, begann der Knabe. »Er hat etwas Ordentliches gelernt und kann zusammenzählen wie ein Däuschen.«

Joey machte über dieses neue Zeugnis, das ihm von seinem neuen Bekannten so freigebig erteilt wurde, große Augen, und die Frau blickte ihm scharf ins Gesicht.

»Der Tausend«, sagte sie, »wo habe ich Dich denn schon gesehen? Herr je! und er sieht wahrhaftig dem armen Peter gleich, wie Du sagst, Jim.«

»Ich habe Euch diesen Morgen ein Bündel getragen«, versetzte Joey.

»Richtig, ja, und wolltest kein Geld für Deine Mühe nehmen. Du hast recht, Jim, er ist ganz wie der arme Peter.«

»Ich sagt' es ja, alte Madam; und er wird Euch ebenso gut passen, wie der Peter; doch das mögt Ihr jetzt selber ins reine bringen, denn ich muß wieder an Bord.«

Mit diesen Worten warf der Matrosenjunge Joey einen Wink zu, dessen Bedeutung Joey nicht verstand, und ging die Treppe hinunter.

»Ei, der Tausend, 's ist doch recht sonderbar, aber 's ist gewiß und wahr, Du gleichst dem armen Peter; und je mehr ich Dich ansehe, desto mehr finde ich Ähnlichkeit heraus. Du hast wohl gehört, wie ich den armen Peter verloren habe?«

»Ja, der Matrosenknabe sagte mir's diesen Morgen.«

»Der arme Junge! Er hielt zu fest an, während die meisten Leute ertrinken, weil sie nicht fest genug halten. Er war ein guter und ein recht hübscher Knabe. Du bist's also gewesen, der mir diesen Morgen half, als ich den armen Peter so sehr vermißte? Nun, es zeigt, daß Du ein gutes Herz hast, und das hab' ich gerne. Wo trafst Du mit Jim Paterson zusammen?«

»Zuerst in einer Trödelbude, wo ich meine Kleider kaufte.«

»Gut; Jim ist ein Wildfang, aber er hat ein gutes Herz und zahlt, wenn er kann. Leute, die seine Eltern kennen, haben mir gesagt, daß er mit der Zeit ein hübsches Vermögen bekommen wird. Nun, und was verstehst Du? Ich fürchte, Du kannst nicht alles, was Peter besorgt hat.«

»Ich kann Eure Rechnungen führen und werde Euch treu und ehrlich dienen.«

»Gut, ich hätte auch dem Peter nicht mehr zumuten mögen. Weißt Du aber gewiß, daß Du eine Rechnung führen und ganze Seiten zusammenzählen kannst?«

»Freilich kann ich das; stellt mich einmal auf die Probe!«

»Gut, es sei darum; da ist Feder, Tinte und Papier. In der That, Du bist das leibhaftige Ebenbild von Peter, das muß wahr sein. Nun, so schreibe jetzt: Bier acht Pence, Tabak vier Pence. Hast Du's?«

»Ja.«

»Laß mich sehen: Drillich zu Hosen, drei Schillinge sechs Pence. Wieder Bier, vier Pence. Tabak, vier Pence. Ist alles aufgeschrieben? Recht so. Noch einmal Bier, acht Pence. Jetzt zähle alles dies zusammen.«

Joey war dieser Aufgabe trefflich gewachsen und machte, als er das Papier abgab, die Gesamtsumme zu fünf Schilling zehn Pence namhaft.

»Gut«, sagte Mrs. Chopper, »es sieht ganz recht aus; aber bleib ein Weilchen hier, während ich hingehe und mit jemand spreche.«

Mrs. Chopper verließ die Stube, ging die Treppe hinunter und trug die Rechnung zu dem Schenkmädchen im nächsten Wirtshause, um sich zu überzeugen, ob sie richtig sei.

»Ja, ganz richtig, Mrs. Chopper«, sagte das Mädchen.

»Und ist sie so gut, wie die des armen seligen Peter?«

»Viel besser«, versetzte das Mädchen.

»Herr Je! wer hätte wohl so was gedacht? und dabei sieht er Peter so ähnlich!«

Mrs. Chopper kam wieder zurück und setzte sich auf ihren Stuhl.

»'s ist recht so«, sagte sie, »und nun, wie heißest Du?«

»Joey.«

»Wie weiter?«

»Joey – O'Donahue«, versetzte unser Held, denn er scheute sich, den Namen M'Shane beizubehalten.

»Und wer sind Deine Eltern?«

»Sie sind arme Leute und wohnen weit von hier«, antwortete Joey.

»Und warum hast Du sie verlassen?«

Joey hatte sich bereits darauf gefaßt gemacht, seine frühere Geschichte zu erzählen.

»Ich verließ die Heimat, weil ich wegen Wilderns angeklagt war. Vater und Mutter wünschten, daß ich fort gehen möchte.«

»Wegen Wilderns? Ja, ich verstehe das – hast Hasen und Vögel geschossen? Gut, aber warum wildertest Du?«

»Weil's der Vater auch that.«

»Ah, ich begreife. Nun, wenn Du nur dem Beispiele Deines Vaters folgtest, so kann ich Dich nicht tadeln. Du bist wohl hierher gekommen, um zur See zu gehen?«

»Nur für den Fall, daß ich nichts Besseres für mich fände.«

»Es hat sich was Besseres für Dich gefunden, mein lieber Junge. Ich will's mit Dir probieren, ob Du mir den armen Peter ersetzen kannst, und wenn Du Dich gut, ehrlich und achtsam aufführst, so wirst Du besser fahren, als wenn Du zur See gehst. Herr Je! wie er ihm gleich sieht; aber Du mußt Dich jetzt auch Peter nennen; dann glaube ich stets die liebe Seele um mich zu haben!«

»Ganz nach Eurem Belieben«, versetzte Joey, der es durchaus nicht bedauerte seinen Namen ändern zu müssen.

»Und wo willst Du heute übernachten?«

»Ich gedachte, in dem Hause, wo ich mein Bündel einstellte, nach einem Bette zu fragen.«

»Das ist nicht nötig; gehe hin und hole Dein Bündel. Du sollst in Peters Bette schlafen (dem armen Wurm ist zuletzt im Wasser gebettet worden, wie die Zeitungen sagen), und dann kannst Du mich morgen früh begleiten.«

Joey nahm das Erbieten an, holte sein Bündel und kehrte in einer Viertelstunde zu Mrs. Chopper zurück. Sie bereitete sich eben ihr Abendessen, an dem Joey mit Freuden teilnahm; dann führte sie ihn nach einem kleinen Stübchen, in welchem ein Bette ohne Vorhänge stand. In dem Gemache selbst hingen Schnüre mit Zwiebeln, Küchenkräutern und Speckseiten, während auf dem Boden Ingwerbierflaschen, Wergsäcke und andere Gegenstände umherstanden. Die Atmosphäre duftete nichts weniger als angenehm.

»Dies ist des armen Peters Bette«, sagte Mrs. Chopper; »ich habe es in der Nacht, ehe die gute Seele ertrank, frisch überzogen. Kann ich mich auf Dich verlassen, daß Du das Licht auslöschest?«

»O ja, ich werde sehr achtsam sein.«

»Dann gute Nacht, Knabe. Sprichst Du auch Dein Gebet? der arme Peter that's immer.«

»Ich auch«, versetzte Joey; »gute Nacht.«

Mrs. Chopper verließ die Stube; Joey riß das Fenster auf, denn er erstickte beinahe, kleidete sich aus, löschte das Licht, und nachdem er zu Nacht gebetet, kehrten seine Gedanken zu der kleinen Emma zurück, welche an der Landstraße neben ihm geknieet hatte.


 << zurück weiter >>