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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

In welchem unser Held abermals mit einem alten Bekannten zusammentrifft.


Joey hatte nun beinahe zwei Jahre als Kanzler von Mrs. Choppers Schatzkammer funktioniert. Freilich war er nicht immer in der besten Geschäftslaune, namentlich während der harten Wintermonate, wenn er den größten Teil des Tages fast unbeweglich in dem Boote sitzen mußte und seine Finger so sehr erstarrten, daß er nicht einmal seine Bleifeder zu halten vermochte. Indes giebt's auf der ganzen Welt keine besoldete Stelle, die nicht auch ihre Unbequemlichkeiten hätte, und wie sehr auch die Leute von einer Sinekure das Gegenteil glauben mögen, so sind sie doch im Irrtum, da die Schmach, sie zu genießen, daran haftet. Jedenfalls war Joeys Bedienstung keine Sinekure, denn er mußte früh heraus und war den ganzen Tag über beschäftigt.

Nancy, die junge Weibsperson, die wir unserem Leser bereits vorstellten, hatte seit jenem Geldanerbieten eine große Zuneigung zu unserem Helden gefaßt, und Joey besaß eine gleiche Vorliebe für sie, da sie ein warmes und wohlwollendes Herz besaß. Sie kam oft zu Mrs. Chopper, um mit der alten Frau zu sprechen und nach Joey zu sehen, bei welchen Gelegenheiten sie die Kleider ihres jungen Freundes untersuchte, Nadel und Fingerhut herauszog und die nötigen Ausbesserungen daran vornahm.

»Ich habe Dich mit der kleinen Emma Philipps gesehen«, sagte Nancy; »wo bist Du mit ihr bekannt geworden?«

»Ich traf sie an dem Tage, als ich nach Gravesend kam, unterwegs.«

»So? und redest Du jedes junge Frauenzimmer an, das Du zufällig triffst?«

»Nein; aber ich fühlte mich sehr unglücklich, und sie war freundlich gegen mich.«

»Sie ist ein sehr liebes Kind, oder vielmehr, ich kann nur sagen, daß sie es war, als ich sie kannte.«

»Wann waret Ihr mit ihr bekannt?«

»Vor vier oder fünf Jahren. Ich wohnte eine kurze Zeit bei Mrs. Philipps – das fiel in die Zeit, als ich noch ein gutes Mädchen war.«

»Ja wahrhaftig, Nancy«, sagte Mrs. Chopper, den Kopf schüttelnd.

»Warum seid Ihr jetzt nicht mehr gut, Nancy?« entgegnete Joey.

»Weil – –« sagte Nancy.

»Nun?«

»Weil ich's eben nicht mehr bin«, versetzte das Mädchen. »Und nun, Peter, frage mich nichts mehr, oder Du bringst mich zum Weinen. Ach, ich denke bisweilen, das Weinen ist recht angenehm – das Herz fühlt sich frischer darauf, wie Blumen nach dem Regen. Peter, wo ist Dein Vater und Deine Mutter?«

»Ich weiß es nicht – ich ließ sie zu Hause.«

»Du ließest sie zu Hause? Aber hörst Du nie von ihnen? Schreibst Du ihnen nie?«

»Nein.«

»Aber warum nicht? sie haben Dich so gut erzogen und müssen vortreffliche Leute sein – ist's nicht so?«

Joey vermochte nicht zu antworten; wie hätte er nach dem Vorgefallenen sagen können, daß sein Vater ein vortrefflicher Mann sei?

»Du antwortest mir nicht, Peter. Liebst Du Deinen Vater und Deine Mutter nicht?«

»O, freilich; aber ich darf ihnen nicht schreiben.«

»Ei, ich muß sagen, daß an Peter und seinen Eltern etwas ist, was ich nicht verstehen kann, und obgleich ich nicht versuchte, ihn zum Geständnis zu bringen, will er doch nicht mit der Farbe heraus«, sagte Mrs. Chopper. »Das Wildern ist kein so großes Verbrechen, namentlich bei einem Knaben. Ich kann daher nicht einsehen, warum er nicht wenigstens seinen Eltern schreibt. Hoffentlich hast Du mir doch die Wahrheit gesagt, Peter?«

»Ich habe Euch nicht mit Lügen berichtet; aber mein Vater war ein Wilddieb, und das weiß man. Wenn sie mich nicht straften, so müßte ich Zeugnis gegen ihn ablegen und darauf schwören; mein Vater würde dann deportiert. Soll ich etwa meinen Vater angeben?«

»Nein, nein, Kind; ich glaube, daß Du ganz recht hast«, antwortete Mrs. Chopper.

»Nun, ich will Dich nicht weiter fragen, Peter«, sagte Nancy, »denn ich kann mir denken, was vorfiel. Du und Dein Vater, ihr beide seid auf einem Wildgange gewesen, und da hat's Händel mit den Förstern gesetzt, in denen es nicht ohne Blut ablief. Das ist der Grund, warum Du Dich aus dem Wege hältst. Habe ich recht?«

»Wenigstens nicht allzuweit fehlgeschossen«, versetzte Joey; »aber ich will darüber kein Wort weiter sprechen.«

»Und ich Dich nicht weiter fragen, mein lieber Peter. So – das wäre geschehen – und nun will ich ein wenig zum Fenster hinaus schauen, denn es ist gar so dumpfig hier, Mrs. Chopper.«

Nancy öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und sah den Vorübergehenden nach.

»Barmherziger Himmel! da kommen drei Soldaten mit einem gefesselten Deserteur die Straße herauf«, rief sie. »Wer mag's wohl sein? 's ist ein Matrose. Ei, ich glaube, 's ist Sam Oxenham, der zu ›Thomas und Mary‹ von Sonderland gehört. Der arme Teufel! ja er ist's.«

Joey trat ans Fenster und stellte sich neben Nancy.

»Was sind das für Soldaten?« fragte er.

»Keine rechten«, versetzte Nancy, »nur Püppchen – ein Sergeant und zwei Gemeine.«

»Was versteht Ihr unter Püppchen?«

»Natürlich nichts anderes als Marinesoldaten.«

Joey beobachtete die Eskorte, bis sie unter das Fenster kam; jetzt aber konnte Nancy, die einen großen Widerwillen gegen alles hatte, was wie willkürliche Gewalt aussah – sich nicht enthalten, die Soldaten anzurufen.

»He, Meister Sergeant, Ihr seid mir ein feiner Held mit Euern zwei Zieraffen da. Meint Ihr, der junge Mensch werde euch alle drei zumal umbringen, daß ihr ihn so schwer gefesselt habt?«

Auf diese Anrede blickten der Sergeant und die Soldaten nach dem Fenster, lachten aber, als sie so ein hübsches Mädchen, wie Nancy, sahen. Die Augen des einen von den Gemeinen hafteten jedoch bald auf dem Gesicht unseres Helden und schienen dasselbe aufs genaueste zu prüfen, während Joey noch immer hinunterschaute. Sobald aber der letztere den Mann erkannte, da trat er totenbleich vom Fenster zurück, während der Soldat noch immer stehen blieb und nach dem Fenster hinstierte.

»Ei, was giebt's, Peter?« fragte Nancy, »warum siehst Du so bleich aus? Kennst Du diesen Mann?«

»Ja«, antwortete Joey mit einem tiefen Atemzuge; »und ich fürchte, er mich auch.«

»Und warum fürchtest Du dies?« versetzte Nancy.

»Seht, ob er fort ist«, sagte Joey.

»Ja, er ist mit dem Sergeanten die Straße hinauf; doch blickt er von Zeit zu Zeit nach dem Fenster zurück. Nun, vielleicht habe ich ihm in die Augen gestochen.«

»Ei, Peter, was könnte Dir dieser Seesoldat anhaben?« fragte Mrs. Chopper.

»O sehr viel; er wird nicht ruhen, bis er mich aufgegriffen hat, und was wird dann aus meinem armen Vater werden?« fuhr Joey fort, während ihm die Thränen über die Wangen rannen.

»Gieb mir meinen Hut, Peter; ich will bald ausfindig machen, was er im Schilde führt«, sagte Nancy, das Fenster verlassend.

Sie warf sich den Hut auf den Kopf und eilte die Treppe hinab. Vergeblich bemühte sich Mrs. Chopper unsern Helden zu trösten oder zu einer Erklärung zu bringen – er blieb traurig an ihrer Seite sitzen und erwog, was er am besten thun könne, dabei jeden Augenblick erwartend, er werde den Fußtritt des ehemaligen Schulmeisters Furneß (denn er war es, den Joey erkannt hatte) die Treppe heraufkommen hören.

»Mrs. Chopper«, sagte Joey endlich, »ich fürchte, daß ich Euch verlassen muß. Ach, dieser Mann war schuld, daß ich mich auch von meinen früheren Freunden trennen mußte.«

»Mich verlassen, Knabe? nein, nein, das darfst Du nicht – wie könnte ich ohne Dich mit meinem Geschäfte zu stande kommen?«

»Wenn ich nicht von freien Stücken gehe, so werde ich aufgegriffen – das ist gewiß; aber in der That, ich habe nichts Unrechtes gethan – glaubt ja nichts solches von mir.«

»Ich bin's überzeugt, Kind; Du brauchst mir nur die Versicherung zu geben, und ich glaube Dir; aber warum sollte er sich um Dich kümmern?«

»Er wohnte in unserem Dorfe und kennt die ganze Geschichte. Er legte Zeugnis ab, als –«

»Als was, Knabe?«

»Als ich von Hause entlief; er führte den Beweis, daß das Gewehr und der Sack, welche gefunden wurden, in meinen Händen gewesen.«

»Nun, und das war vermutlich wahr? was weiter?«

»Mrs. Chopper, es wurde eine Belohnung ausgeboten, und er möchte das Geld verdienen.«

»O, ich sehe jetzt – eine Belohnung ausgeboten? – dann muß es sein, wie Nancy sagte. Es wurde Blut vergossen!« Und Mrs. Chopper hielt die Schürze vor ihre Augen.

Joey gab keine Antwort. Nach einem kurzen Schweigen stand er auf, ging nach seiner Schlafkammer und packte seine Kleider in ein Bündel. Nachdem dies geschehen war, setzte er sich auf die Seitenleiste seines Bettes nieder und erwog, welche Schritte er nun einschlagen sollte.

Unser Held war jetzt sechzehn Jahre und viel größer geworden. Er war nicht länger ein Kind, obgleich im Herzen noch fast ganz so unschuldig. Seine Gedanken schweiften überall umher – er sehnte sich, seine Eltern wieder zu sehen, und erwog, ob er es nicht wagen dürfe, nach dem Dorfe zurückzukehren und sie heimlich zu besuchen. Er dachte an die M'Shanes und an die Zweckmäßigkeit, bei ihnen eine Zuflucht zu suchen, dann auch an die kleine Emma Philipps, die er nie wieder zu sehen fürchtete. Zuletzt kam Kapitän O'Donahue an die Reihe, und er sehnte sich wieder nach Rußland, obschon es ihm zugleich schwer zu Herzen ging, daß er sich von seiner guten Freundin, der Mrs. Chopper, trennen sollte, da er in ihrem Hause so lange ein glückliches und zufriedenes Leben geführt hatte. Nach einer Weile warf er sich auf sein Bett und verbarg das Gesicht im Kissen, bis er endlich, vom Übermaße seiner Gefühle erschöpft, einschlief. Inzwischen war Nancy den Seesoldaten nachgegangen. Sie traten mit ihrem Gefangenen in ein kleines Wirtshaus, wo sie wohl bekannt war, weshalb sie ihnen folgte, einige Worte mit dem aufgegriffenen Matrosen wechselte und dann neben Furneß Platz nahm, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Furneß hatte durch seine unfreiwilligen Dienste unter Seiner Majestät Seetruppen an Persönlichkeit sehr gewonnen. Er war ein großer Mann, verdankte seinem Exerziermeister, daß er jetzt eine bolzgerade Haltung besaß, und hatte aus Mangel an Gelegenheit sowohl als wegen der strengen Strafen sein unmäßiges Leben aufgegeben, was auch seiner Gesundheit sehr zu statten kam. In der ersten Zeit nach seiner Einschiffung mußte er freilich etliche Male vor die Laufplanke; später benahm er sich jedoch anständig, und jetzt hatte er die Aussicht, Korporal zu werden – eine Stellung, für welche er sich vermöge seiner Erziehung gut befähigte. Mit einem Worte, er war nun ein hübscher Marinesoldat, obgleich ein ebenso grundsatzloser Schuft als nur je.

»Ha, mein hübsches Mädel, habe ich Dich nicht eben vorhin zum Fenster hinausschauen sehen?«

»Allerdings, und habt mich vielleicht auch gehört«, versetzte Nancy. »Als ich übrigens so einen hübschen Burschen sah, wie Ihr seid, setzte ich eiligst meinen Hut auf und kam Euch nach. Zu welchem Schiffe gehört Ihr?«

»Zum ›Mars‹ an dem Nore.«

»Ei, ich möchte wohl auch einmal an Bord eines Kriegsschiffes gehen. Wollt Ihr mich mitnehmen?«

»Freilich, mein Schatz; da, nimm einen Trunk Bier.«

»Auf die Gesundheit der Püppchen!« sagte Nancy, die zinnerne Kanne an ihre Lippen setzend. »Wann geht Ihr wieder an Bord?«

»Vor morgen nicht; wir haben unsern Vogel gefangen und wollen uns ein wenig amüsieren. Bist Du von hier?«

»Ja, hier geboren und erzogen, aber wir kriegen fast nie ein Kriegsschiff zu sehen; sie bleiben am Nore oder weiter droben liegen.«

Nancy bot alles auf, um Furneß auf den Glauben zu bringen, sie hätte eine Zuneigung zu ihm gefaßt, und wußte nur zu gut, wie sie es anzugreifen hatte. Ehe noch eine Stunde verging, hatte Furneß, wie er meinte, alles mit ihr abgemacht und wünschte sich zu seiner Eroberung Glück. Inzwischen ging Bier und Branntwein in die Runde, und sogar der unglückliche Gefangene wurde beredet, mitzutrinken, um die Grillen zu ersäufen. Endlich sagte Furneß zu Nancy:

»Wer war denn jener junge Mensch, der mit Dir aus dem Fenster sah – war es Dein Bruder?«

»Mein Bruder? Gott behüte, nein – Ihr meint den Schlingel, den Peter, der mit der alten Mutter Chopper das Bumboot besorgt?«

»So – nun ich muß ihn schon früher gesehen haben, oder doch einen, der ihm gleicht.«

»Er ist nicht von hier«, versetzte Nancy; »er kam vor etwa zwei Jahren in unsere Stadt – niemand weiß, woher, und ist seitdem immer bei Mrs. Chopper gewesen.«

»Vor zwei Jahren?« murmelte Furneß; »das ist just die Zeit. Na, Mädel, nimm noch etwas Bier.«

Nancy trank ein wenig und setzte den Krug nieder.

»Wo wohnt Mrs. Chopper?« fragte Furneß.

»Wo Ihr mich aus dem Fenster schauen saht«, antwortete Nancy.

»Und der Knabe ist auch im Hause? Muß doch gelegentlich der Mrs. Chopper einen Besuch machen.«

»Freilich ist er dort, aber warum sprecht Ihr denn so viel von dem Buben? Warum redet Ihr nicht lieber von mir und sagt mir, daß ich ein hübsches Mädchen bin? denn so was höre ich gern.«

Furneß und seine Kameraden fuhren fort zu zechen und wurden bald betrunken. Nur der Sergeant blieb bei Verstande; denn Furneß mochte diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen, um ohne Furcht vor Strafe seiner Leidenschaft zu fröhnen. Je betrunkener er wurde, desto verliebter zeigte er sich gegen Nancy, während letztere ihm nach Kräften flattierte und aufs neue den Namen unseres Helden zur Sprache brachte. Nun war es eine Eigentümlichkeit des Ehrenmannes, daß er im Zustande des Rausches kein Geheimnis bewahren konnte; er teilte ihr daher mit, daß auf Joeys Aufgreifung ein Preis gesetzt sei, und machte ihr dann den Vorschlag, das Geld gemeinschaftlich zu verthun, wenn sie bei ihm bleiben wolle. Nancy sagte augenblicklich Ja dazu und erbot sich zu allem möglichen Beistande, da sie Zutritt in Mrs. Choppers Haus habe und des Knaben Schlafstelle wisse. Sie wollte indessen noch mehr aus Furneß herauslocken, und da es nun schon ziemlich weit mit ihm gekommen war, so stellte sie ihm das Ansinnen, den schönen Abend zu einem Spaziergange zu benützen. Furneß ließ sich dies gern gefallen. Das Mädchen setzte ihm nun ein weiteres auseinander, wie sie's einleiten wolle, Joey in ihre Hände zu bekommen, und schien hoch entzückt über die Belohnung zu sein, die sich auf diesem Wege holen ließe. Sobald sie fand, daß Furneß in Sicherheit gewiegt war und die frische Luft seinen betrunkenen Zustand ungemein gesteigert hatte, beredete sie ihn, daß er ihr alle Umstände anvertraute, die mit dem auf Ergreifung unseres Helden ausgesetzten Preise in Verbindung standen. Auf diesem Wege erfuhr sie den Ausspruch des Leichenschaugerichts, Joeys Flucht, die Umstände, unter denen ihn Furneß wieder aufgefunden, und die abermalige Entweichung ihres jungen Freundes von der Schule, in welcher er durch M'Shane untergebracht worden war.

»Und sein Vater – seine Mutter, wo sind diese? Wenn ich an seine Eltern denke, muß ich sagen, daß es mir nicht sonderlich gefällt, bei Ergreifung des Knaben die Hand zu bieten. Die armen Leute – welchen Kummer werden sie haben, wenn sie davon hören! In der That, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, fuhr Nancy fort, indem sie sich in die Fingerspitzen biß, als ob sie noch nicht schlüssig sei.

»Die brauchen Dich nicht zu kümmern«, sagte Furneß, »sie werden wahrscheinlich nie etwas davon hören. Sie haben vor mir das Dorf verlassen, und niemand weiß, wohin sie gegangen sind. Ich gab mir alle Mühe, sie aufzufinden, aber vergebens. Es ist klar, sie müssen nach Amerika gezogen sein.«

»So?« entgegnete Nancy, welche diese Frage nur gestellt hatte, weil sie Joey über seine Eltern Auskunft zu erteilen wünschte. »Nach Amerika also, meint Ihr?«

»Ja, ich glaube nicht anders, denn ich habe alle Spur von ihnen verloren.«

»Wohlan denn«, erwiderte Nancy, »dieses Bedenken wäre demnach beseitigt.«

Sie bedeutete dann Furneß, es sei passend, noch ein paar Stunden zu warten, bis die Leute im Bette wären, damit nichts dazwischen komme, und nun kehrten sie nach dem Wirtshause zurück. Furneß ließ sich wieder ein Glas Ale vorsetzen und schlief endlich, den Kopf auf den Tisch gelegt, auf seiner Bank ein.

»So«, dachte Nancy, als sie das Wirtshaus verließ; »der betrunkene Narr meint die zweihundert Pfund schon in der Tasche zu haben. Doch es ist keine Zeit zu verlieren.«

Nancy eilte zu Mrs. Chopper zurück, welche sie bei einem Lichte über den Blättern eines ihrer alten Schuldbücher sitzen sah.

»O Nancy, seid Ihr's? ich seufze eben über Euch; da sind die Sachen, die Ihr zu Eurer Hochzeit bestelltet. Arme Person! ich fürchte, Ihr seid seitdem nicht oft in der Kirche gewesen.«

Nancy blieb eine Weile stumm.

»Ich bin des Lebens und meiner selbst überdrüssig, Mrs. Chopper, aber was kann eine Elende, wie ich bin, thun? Ich wollte, ich könnte davon laufen, wie es jetzt der arme Peter thun muß, und an einen Ort hingehen, wo mich niemand kennt; dann würde ich wieder glücklich sein.«

»Peter muß fort, sagt Ihr, Nancy – ist das gewiß?«

»Ganz gewiß, Mrs. Chopper, und zwar auf der Stelle. Ich habe mich an den Seesoldaten gemacht, und der Kerl hat mir alles erzählt; er wartet nur noch auf meine Zurückkunft, um zu kommen und ihn aufzugreifen.«

»Aber sagt mir, Nancy, hat sich Peter ein Verbrechen zu schulden kommen lassen?«

»Ich glaube aus dem Grunde meines Herzens, daß er unschuldig ist; aber doch wurde ein Mord begangen, und wenn Ihr Peter nicht die Mittel verschafft, davon zu laufen, so wird er aufgegriffen werden. Wo ist er jetzt?«

»Er schläft – liegt fest im Schlafe; ich mochte ihn nicht wecken, den armen Menschen.«

»Dann muß er unschuldig sein, Mrs. Chopper, denn es heißt, Verbrechen ließen einen nie schlafen. Aber was soll er anfangen – er hat wohl kein Geld?«

»Er hat mir manchen Penny erspart, und so soll es ihm an Geld nicht fehlen«, versetzte Mrs. Chopper. »Aber was soll ich anfangen ohne ihn? Ich kann's nicht übers Herz bringen, mich von ihm zu trennen.«

»Das muß jetzt einmal sein, Mrs. Chopper, und wenn Ihr ihn liebt, so schafft Ihr ihm die Mittel und laßt ihn augenblicklich ziehen. Ich wollte, ich könnte auch gehen«, fuhr Nancy fort, indem sie in Thränen ausbrach.

»So geht mit ihm, Nancy, und habt auf ihn acht; tragt Sorge für meinen armen Peter«, sagte Mrs. Chopper wimmernd. »Geht, mein Kind, und führt ein gutes Leben! Der Abschied wird mir weniger sauer, wenn ich denken kann, Ihr seid bei ihm und weg von diesem schrecklichen Platze.«

»Ihr wollt mich also mitziehen lassen, Mrs. Chopper – wollt Ihr wirklich?« rief Nancy auf ihre Kniee niederfallend. »Oh, ich will über ihn wachen, wie eine Mutter über ihren Sohn, oder eine Schwester über ihren Bruder. Macht es uns nur möglich, von diesem Orte wegzukommen, und der Gute und die Gottlose, beide werden Euch segnen.«

»Ich will's an nichts fehlen lassen, armes Mädchen; es hat mir oft einen Stich ins Herz gegeben, wenn ich Euch ansah, denn ich fühlte, daß Ihr zu gut seid für Eure jetzige Stellung – nun, Ihr könnt wieder ein rechtschaffenes, ehrbares Mädchen werden. Ihr beide sollt gehen. Armer Peter, ich wollte, ich wäre jung genug, um mit Dir zu ziehen, aber ich kann nicht. Wie werde ich wieder betrogen werden, wenn er fort ist? – aber ich darf ihn nicht zurückhalten. Da, Nancy, nehmt das Geld, nehmt alles, was ich im Hause habe.«

Und Mrs. Chopper drückte gegen zwanzig Pfund in die Hand der noch immer auf den Knieen liegenden Nancy. Die letztere ließ ihr Gesicht vorwärts in den Schoß der guten alten Frau sinken und erstickte fast vor Aufregung und Thränen.

»Laßt das; gebt Euch zufrieden, Nancy«, sagte Mrs. Chopper nach einer Pause, indem sie die Augen mit ihrer Schürze wischte; »Ihr müßt nicht so fortmachen, mein armes Mädchen. Vergeßt den armen Peter nicht – es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Das ist wahr«, versetzte Nancy, aufstehend. »Mrs. Chopper, Ihr habt heute Nacht eine That ausgeübt, für welche Ihr im Himmel Eure Belohnung finden werdet. Möge der Gott der Barmherzigkeit Euch segnen, und sobald ich mich's wieder getrauen darf, will ich morgens und nachts in meinen Gebeten Euer eingedenk sein.«

Mrs. Chopper ging, das Licht in ihrer Hand, nach Joeys Gemach, und Nancy folgte.

»Seht, wie gesund er schläft!« sagte die alte Frau; »er ist nicht schuldig. Peter, Peter, komm, steh auf, Kind!«

Joey erhob sich von seinem Bette und rieb sich anfangs verwirrt und vom Lichte geblendet die Augen; aber er erholte sich bald.

»Peter, Du armer Knabe, Du mußt fort, und zwar in aller Eile, wie Nancy sagt.«

»Ich wußte das wohl«, versetzte Joey. »Es thut mir sehr, sehr leid, Euch verlassen zu müssen, Mrs. Chopper. Bitte, behaltet mich in freundlichem Andenken, denn wahrhaftig, ich habe nichts Unrechtes gethan.«

»Ich bin überzeugt davon; aber Nancy weiß alles, und Du mußt fort von hier. Ich wollte, es wäre schon geschehen, denn ich werde ganz unruhig darüber, obgleich es mir schwer wird, Deinen Verlust zu verschmerzen. So behüte Dich Gott, Peter; sein Segen geleite Dich auf Deinem Wege! ich hoffe, wir werden uns wiedersehen.«

»Ich gleichfalls, Mrs. Chopper, denn Ihr seid sehr freundlich gegen mich gewesen und habt an mir gehandelt, als ob Ihr meine leibliche Mutter wäret.«

Mrs. Chopper drückte ihn an ihre Brust und rief dann in hastigem Tone, während sie auf das Bett niedersank:

»So, jetzt macht – beeilt Euch!«

Nancy nahm Joeys Bündel mit der einen und Joey mit der andern Hand, und so ging's die Treppe hinunter. Sobald sie in der Straße waren, bog Nancy nach dem Hause ein, wo sie gewöhnlich schlief, und trug Joey auf, er solle ein Weilchen an der Thür warten. Sie kehrte bald mit ihrem eigenen Bündel zurück, ging dann raschen Schrittes voran und forderte Joey auf, ihr zu folgen. In dieser Weise ging es fort, bis sie die Stadt im Rücken hatten, worauf Joey mit den Worten zu seiner Begleiterin trat:

»Ich danke Euch, Nancy, aber jetzt wird's gut sein, wenn wir uns trennen.«

»Nein, wir trennen uns noch nicht, Peter«, versetzte Nancy.

»Aber wo wollt Ihr hin, und warum habt Ihr dieses Bündel bei Euch?«

»Ich gehe mit Dir, Peter«, entgegnete Nancy.

»Aber Nancy – –« erwiderte Joey, und fügte dann nach einer Pause bei: »Nun ich will für Euch thun, was ich kann – will für Euch arbeiten – und obgleich ich kein Geld habe, so hoffe ich doch, daß wir nicht Hungers sterben werden.«

»Gott segne Dich, Knabe, – Gott segne Dich für Dein menschenfreundliches Herz! aber wir werden nicht Hungers sterben. Mrs. Chopper hat mir erlaubt, mit Dir zu gehen – ja, hat mich sogar dazu aufgefordert und mir Geld für Dich mitgegeben – es gehört Dir, obgleich sie sagte, es sei für uns beide.«

»Sie ist sehr gütig; aber warum wollt Ihr mit mir gehen, Nancy? Ihr habt ja nichts zu fürchten.«

»Sprich jetzt nicht mehr davon, Peter, sondern laß uns weiter ziehen; ich habe mehr zu fürchten, als Du.«

»Wie wäre das? ich muß fürchten, wegen einer Sache gefangen gesetzt zu werden, an der ich unschuldig bin; aber was könnte Euch bedrohen?«

»Lieber Peter«, versetzte Nancy feierlich, »ich fürchte mich vor nichts, was die Welt mir anhaben kann – doch schweigen wir davon; laß uns weiter gehen.«


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