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IX.
Wie Giglio sich benahm, selbst wenn er verliebt war.

Mirabelle hatte eben den Gasthof verlassen.

Giglio klopfte dreimal leise an die Thür und wartete.

– Wer ist da?

– Ich.

– Sie? Papas Page? fragte Line leise durch das Schlüsselloch.

– Darf ich eintreten?

– Man hat mir wohl verboten, die Thür zu öffnen, aber da Sie es sind, ist keine Gefahr.

Sie öffnete ihm die Thür, erhob sich auf den Fußzehen und reichte ihm die Wange zum Kusse.

– Küssen Sie mich, sprach sie, ich erlaube es Ihnen. Auch auf die andere Wange! Und nun die Ihrige.

Sie seufzte.

– Ich habe Ihnen Vieles zu sagen, setzen wir uns daher auf das Canapé … Wie heißen Sie?

– Giglio.

– Oh, welch' ein schöner Name, sagte Line.

Und Giglio dachte sich wieder einmal, daß wenn auch jede Frau verschiedene Dinge zu sagen findet, je nach den Liebhabern, welchen sie begegnet, doch jeder Mann nicht mehr als zehn Phrasen von Seite aller seiner Geliebten zu hören bekommt, als hätten sie im Geheimen eine und dieselbe Rolle wiederholt.

– Welcher Zufall! rief Line. Ich dachte eben an Sie. Lassen Sie mich Sie betrachten … Ich hatte fast einen Streit mit meiner Freundin wegen Ihrer Augen. Ich fand sie sehr hübsch. Man antwortete mir, sie seien nicht hübsch. Aber ich habe Recht behalten gegen meine Freundin. Ihre Augen sind wirklich sehr hübsch, Giglio.

– Meine Augen sind wie andere Augen, antwortete der Page, aber sie werden ungewöhnlich, wenn sie Sie betrachten, Hoheit, und das ist nicht zu verwundern.

– Nennen Sie mich nicht Hoheit; Sie schüchtern mich ein; nennen Sie mich Line, das ist hübscher.

Doch er nannte sie in keiner Weise, denn in einer augenscheinlichen Verwirrung, die nicht ganz geheuchelt war, erhob er sich und schlug die Augen zu Boden.

– Was ist Ihnen denn? fragte Line.

– Ich liebe Sie, stammelte er.

– Ich liebe Sie ebenfalls, Giglio. Ich liebe Sie vom Herzen und bin glücklich, es Ihnen zu sagen.

– Aber ich liebe Sie schon so lange …

Er hielt inne. Der letzte Satz entsprach vielleicht nicht ganz der historischen Wahrheit. Giglio entschuldigte sich selbst damit, daß man den jungen Mädchen gegenüber, welche aufrichtig geliebt zu werden verdienen, niemals zu liebenswürdig sein kann und daß die kleinen Lügen der Galanterie bei einem flüchtigen Abenteuer zu entschuldigen, am Beginn einer wirklichen Leidenschaft geradezu rührend werden. Er machte sich denn keinerlei Skrupel daraus, ein klein wenig seine neue Freundin nach seiner gewöhnlichen Methode zu betrügen, da er wußte, daß er ihr gefalle und da er das Bewußtsein seiner Vorzüge hatte.

– Seit langer Zeit? wiederholte Line die Frage. Sie lieben mich seit langer Zeit? Aber gestern Morgens kannte ich Sie ja noch nicht.

– Ich liebe Sie seit drei Jahren, sagte Giglio tief seufzend.

– Und Sie haben es mir niemals gesagt?

– Ich wagte nicht … Ich dachte an Sie, aber Sie standen so hoch über mir, so fern von mir! … Wie durfte ich denken, daß Sie jemals einwilligen würden, mich anzuhören! … Ich dachte unablässig an Sie, aber ich hoffte nicht, daß jemals ein Tag kommen würde, an welchem ich, dank eines außerordentlichen Zufalls, mit Ihnen allein sprechen würde, Hand in Hand, Aug in Auge …

Line betrachtete ihn zärtlich.

Er aber fuhr fort:

– Sie glauben mir nicht?

– Oh doch!

– Schauen Sie, ich schreibe Verse für Sie.

– Verse? Sie machen Verse? Ach, ich liebe die Gedichte so sehr! Und Sie haben welche über mich gemacht? Ist es wahr?

– Wollen Sie sie lesen?

– Ob ich sie lesen will, aber gewiß.

– Da sind sie.

Giglio zog den ersten Band seiner Gedichte aus der Tasche und blätterte darin … Alberta … Alexandrine … Alfreda … Alire … Aline …

– Da lesen Sie, sagte er einfach.

Line ergriff das kleine Buch und las mit gierigem Interesse einen fünfzeiligen Vers, der eine glühende Liebesbetheuerung enthielt.

Die kleine Line öffnete weit die Augen.

– Aber wer sagt mir, daß diese Verse für mich sind?

– Es ist ein Akrostichon. Sie wissen wohl, was ein Akrostichon ist? Sie sind ja auf die Jugendzeitung abonnirt. Lesen Sie die ersten Buchstaben dieser Verse.

– A–L–I–N–E, rief sie, mit einem glücklichen Lächeln. Ach, es ist wahr, und wie schön diese Verse sind! Niemals habe ich solche gelesen. Aber Sie haben sehr viel Talent.

– Aber nur wenn ich von Ihnen spreche, Line … Sie allein inspiriren mich … Sie haben mich wohl begriffen? … Ich wagte es nicht, Ihren Namen in einen Band zu schreiben, welchen alle Welt lesen konnte … Ich habe ihn in einem Akrostichon verborgen für Sie und für mich. Niemand weiß es außer uns beiden.

Line warf sich ihm in die Arme. Er ergriff sie mit Leidenschaft und ohne etwas direkt gegen ihren kleinen erregten Körper zu unternehmen, vereinigte er seine Lippen mit denjenigen, die sich ihm darboten, sehr zärtlich, fast mit Vorsicht.

– Wie? sagte Line, Sie können das auch? Mirabelle sagte mir, sie habe es erfunden.

– Man hatte es sie gelehrt, sagte Giglio.

– So wie Sie?

– Oh, ich würde es aus Instinkt errathen haben an dem ersten Tage, wo ich Sie gesehen habe.

– Aber dann hat sie mich betrogen!

– Sie hat Sie sehr liebenswürdig betrogen.

– Das ist gleichviel, sie hat mir eine Lüge gesagt. Ich werde ihr in meinem Leben nicht verzeihen. Die Lüge ist häßlich, nicht wahr?

– Nichts ist häßlicher, sagte Giglio.

Line preßte die Lippen zusammen und dachte nach.

– Sie hat mir auch gesagt, daß sie noch viele andere Dinge erfunden habe. Wenn sie mich auch in Betreff der anderen Dinge so getäuscht hat! … Ach, das ist nicht möglich! Sagen Sie nein!

Hier dachte Giglio, der Augenblick sei gekommen, Alles zu wagen.

*

– Ach, Mirabelle ist eine Lügnerin, rief Aline nachher aus; ich liebe Sie mehr als Jene, viel mehr! Ich liebe Sie, wie ich niemals einen Menschen der Welt geliebt habe. Ach, gehen Sie nicht fort, gehen Sie nicht fort! …

– Es muß sein.

– Aber warum?

– Der König erwartet mich. Mirabelle wird zurückkehren …

– Ich will sie nicht mehr sehen. Ich liebe nur Sie allein, bleiben Sie da!

Doch Giglio brüskirte die Dinge in wenigen Worten.

– Alles ist verloren, sagte er, wenn wir hier bleiben. Mirabelle wird Sie in einer Stunde wieder in ihre Gewalt nehmen. Sie selbst wird eine Stunde später eingekerkert werden, und wir werden uns niemals wiedersehen können, denn der König würde Sie von Neuem in Ihre Gemächer einschließen.

– Ach, entführen Sie mich, lassen Sie uns fliehen. Gibt es kein anderes Land, wo wir ruhig leben können, ohne daß Jemand uns ärgere?

Das war offenbar die beste Lösung. Allein in solcher Weise würde Giglio Diana mit der Puderquaste, Philis und alle anderen Königinnen, welche die neuen Projekte des Königs seiner Unternehmungslust auslieferten, verloren haben. Und obgleich er eine tiefere und ohne Zweifel auch dauerhaftere Liebe für die weiße Aline empfand, konnte er sich doch nicht entschließen, für sie die ganze Welt zu verlassen und sie zu heirathen.

Daher bemühte er sich, ihr die Sache auszureden.

– Sie lieben Ihren Vater, kleine Line, Sie lieben ihn sehr. Wenn Sie an einen Ort gehen, wo er nicht ist, werden Sie es bald bereuen.

– Ja, ich liebe Papa, aber warum sperrt er mich ein? Wenn ich nach dem Palaste zurückkehre, werde ich Sie nicht wiedersehen können und ich werde unglücklich sein, wie vordem; denn ich fühle mich jetzt sehr wohl; ich war sehr unglücklich, mehr, als ich es ahnte.

– Es gibt ein Auskunftsmittel! sagte Giglio. Sie erinnern sich des Hauses, von welchem ich Ihnen gestern erwähnte, des Hauses der guten Greise, welche die schlecht behandelten Kinder aufnehmen?

– Ja, Nummer 22 in der Rue des Amandines. Ich glaube mich noch der Adresse zu erinnern.

– Ganz richtig, gehen Sie dorthin, gehen Sie sogleich dorthin. Und wenn man Ihnen das Zimmer gegeben hat, welches Ihnen gebührt, übernehme ich es, dafür zu sorgen, daß Sie das Haus in voller Freiheit verlassen.

– Für immer?

– Für immer.

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