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XIX.
Wo Fräulein Lebirbe dem Pagen Giglio einen Vorschlag macht, welchen dieser sogleich sehr verlockend findet.

Sie drohen mir? sagte Giglio.

– Ich warne Sie.

– Und was ist denn Ihres Wissens in jenem Zimmer des Gasthofes »zum Hahn« geschehen, in das ich angeblich eingetreten bin?

Emmanuela nahm aus einem Schubfache ein Fernrohr von der Sorte jener, welche die Offiziere im Felde benützen.

– Ich langweile mich, sprach sie. Ich verbringe alle meine Tage in einem Zimmer, und da ich nicht weiß, an was ich denken soll, so träume ich. Ich habe meine englische Sprachlehrerin bestochen und mir mit ihrer Hilfe einige verbotene Romane verschafft; aber ich weiß sie auswendig, ich habe sie allein zwanzigmal erlebt. Ich weiß Alles, was André Sperelli am Munde Helenens hängend spricht, Alles, was die Nichina dem Coccone antwortet, und Mariolle hat mich so oft umarmt, daß ich Lust habe, ihn wegzuschicken. In den Augenblicken der Langeweile setze ich mich ans Fenster und betrachte mittels dieses Fernrohres durch die Ritzen der Sommerläden, was man im Gasthofe »zum Hahn« macht.

– Ja. Man macht dort viele Dinge und Niemand glaubt, gesehen zu werden … Aber auch das wird schon langweilig. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich jeden Abend dieses wechselnde Schauspiel zu betrachten begann. Heute bin ich dreiundzwanzig Jahre alt. Während der ersten zwei Nächte habe ich sehr rasch Aufklärung erlangt. Während der folgenden acht Jahre habe ich nichts entdeckt, was ich nicht schon gesehen, oder mir unschwer vorgestellt hätte. Indes, diese Leute scheinen glücklich zu sein, glücklicher als ich es bin, glauben Sie mir.

– Mein Fräulein, ich glaube Ihnen.

– Seit Monaten hatte ich nichts so Interessantes gesehen, als was in den letzten drei Tagen hinter den Fenstern der großen Stube sich abgespielt hat. Die zwei Mädchen waren reizend. Ich habe eine Migraine vorgeschützt und bin unablässig an diesem Fenster geblieben, um alle, selbst die geringsten ihrer Bewegungen zu verfolgen. Ich stand in der Nacht auf, um zu sehen, ob sie nicht ihre Leuchter wieder angezündet haben und einmal überraschte ich sie so, zwischen drei und vier Uhr Morgens bei ihrem Erwachen. Als ich mich wieder niederlegte, konnte ich nicht mehr einschlafen …

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

– Ich zürnte Ihnen sehr, fuhr sie fort, weil Sie ihre Geheimnisse gestört und sie zum Verlassen ihres Nestes gezwungen haben. Aber Ihre Verkleidung und die ihrige und die Sorge, welche Sie aufwandten, um ihre Kleider durch das Fenster zu werfen, beweisen, daß die Mädchen gefehlt haben und daß Sie ihr Mitschuldiger waren.

– Das ist richtig, sagte Giglio.

– Sie gestehen es?

– Ich zögere nicht, es zu gestehen.

– Sie fürchten mich also nicht?

– In der That.

– Und warum?

– Vor Allem, weil Ihre Seele viel weniger häßlich ist, als Sie selbst es glauben; ferner, weil auch ich eine Waffe habe, ja, einen Blitz in der Hand. Brr!

– Zeigen Sie mir ihn!

– Hier: Herr Lebirbe, Ihr ehrwürdiger Vater, hat quer vor Ihre Schwelle eine junge, wehrlose Sklavin gelegt, ohne Zweifel zu dem Zwecke, daß wenn ein grausamer Verführer erschiene, die Ärmste ihm als Beute diene, sich als Opfer anbiete, um Ihre Ehre zu retten.

– Das war nicht genau sein Zweck. Aber woher wissen Sie das?

– Das ist mein Geheimniß.

– Fahren Sie fort.

– Sie haben die junge Magd bestochen …

– Ach, das ist stark! Sie hat es Ihnen gesagt?

– … Und Sie haben sie gebeten, zu den Gesindestuben hinaufzugehen und den Kammerdiener oder Küchenjungen ihrer Wahl aufzusuchen, anstatt hier eine traurige Nacht zu verbringen.

– Weiter?

– Das ist Alles. Nachdem aber ein junges Mädchen ihre Hüterin gewöhnlich nur in einem Augenblicke wegschickt, wo sie am meisten Ursache hätte, bewacht zu werden; da ferner meine Anwesenheit bei Ihnen im Zusammenhang mit dieser kleinen List ein unmittelbarer Beweis für unser Einverständniß ist: können Sie schreien, sich wehren, mich aller Verbrechen anklagen und es wird Ihnen doch Niemand glauben, daß ich nicht mit Ihrer Zustimmung – wenn nicht auf Ihre Einladung – da sei.

– Und Sie wollen die Lage mißbrauchen?

– Von Punkt zu Punkt.

– Sie sind nicht galant.

– Welch' ein trauriger Irrthum!

– Ach, erklären Sie mir, ich bitte … Sie haben mir heute Abend schon eine Erklärung von der Schamhaftigkeit gegeben, wie sie sich in den Wörterbüchern nicht findet. Fahren Sie fort, mich zu belehren. Sagen Sie mir jetzt, was die Galanterie ist.

– In dem Sinne, in welchem Sie das Wort nehmen, ist's eine sehr bekannte, aber ziemlich schlaue Komödie, welche gestattet, daß man ungestraft die Damen beschimpfen kann, indem man ihnen einen Respekt bezeugt, welchen sie selbst zu verlangen so unbesonnen sind. Es ist ferner ein ausgezeichnetes Mittel, um unter dem liebenswürdigsten Schein die Reue zu verbergen, welche sie in dem Augenblicke fühlen, da sie sich mit dem Gegenstande ihrer lang gehegten Wünsche allein befinden. Da ich weit entfernt bin, dieses Gefühl zu empfinden, welches Ihrer unwürdig wäre, mein Fräulein, und da Ihre Schönheit mir nicht Zeit läßt, die Empfindungen zu meistern, die mich bewegen, werde ich sogleich sehr »galant« sein, aber in einem Sinne, welcher dem von Ihnen für gut erachteten gerade entgegengesetzt ist; denn auch dieses Wort kann das Gegentheil dessen bedeuten, was es zu sagen scheint.

– Und wenn ich Ihnen zuriefe, daß ich Sie verabscheue?

– Das wäre ein Grund mehr.

– Wirklich?

– Ja. Ihnen gehorchen, hieße weggehen, auf Sie verzichten; so würde ich alle Hoffnung verlieren, Sie zu einer anderen Ansicht zu bekehren. Wenn ich Sie zwinge, bleibt mir vielleicht noch eine Aussicht …

– Einstweilen thun Sie nichts dergleichen!

– Nein, nein. Was ich Ihnen da sage, steht in den Büchern. Ich habe nicht das geringste Verlangen, Ihnen unangenehm zu sein.

Er setzte sich, nahm das Fernrohr und ließ die Schraube desselben mit einer gewissen Absichtlichkeit spielen.

Unruhig und beklommen sah ihm Emmanuela zu und bemühte sich, ihn zu durchschauen.

Da ihr dies nicht gelingen wollte, nahm sie den Saum ihres Schlafrockes, betrachtete ihn, zog ihn straff, wandte ihn um, schaute durch die Spitze in das Licht.

Diese Kälte würde sehr lange gedauert haben, wenn Giglio nicht inmitten des Stillschweigens einen Heiterkeitsanfall gehabt hätte, welcher sehr mittheilsam wirkte.

– Wir spielen gut, sagte er.

– Wir?

– Sie haben viel Talent.

– Wie kindisch Sie sind!

– Gehen wir zur nächsten Scene über, wollen Sie? Sie ist sehr hübsch.

– Was wissen Sie davon?

– Ich vermuthe die Entwicklung.

– Es ist kein Lustspiel.

– Es ist eine Charade und ich habe sie gelöst. Ich habe Ihnen ein »Hühnchen« vorgesetzt, darauf ist etwas »Kaltes« gefolgt und mein Ganzes ist eine berühmte Strophe:

Laß uns zusammen einmal träumen,
Ein kaltes Huhn für uns aufzäumen,
Verschwinden fern in Himmelsräumen …

Wollen Sie den dritten Vers spielen?

– Das ist von Victor Hugo?

– Nein, von Paul Robert.

Dann erhob er sich plötzlich und fragte:

– Warum haben Sie mich eigentlich hier eintreten lassen?

– Ich wage nicht mehr, es Ihnen zu sagen.

– Es war also sehr sträflich?

– Nein.

– Dann … sehr unschicklich?

– Ja.

– Sagen Sie es mir ganz leise.

– Ich wage nicht.

– Sagen Sie es mir in Geberden.

– Es ist zu komplizirt.

– Ich werde Ihnen helfen.

– Bis an's Ende?

– Ja.

– Sie versprechen es mir?

– Ja.

– Wohl; ich vertraue Ihnen.

– Und nun lassen Sie mich es errathen.

– Oh, Sie können es niemals errathen. Machen Sie gar nicht den Versuch.

– Es übersteigt also meine Einbildungskraft. Sind Sie dessen sicher?

– Ja.

– Erbarmen! Was kann das sein?

Emmanuela antwortete nicht.

Um unter dem neugierigen und lächelnden Blicke Giglio's eine Haltung anzunehmen, ergriff sie jetzt das Fernglas und spielte mit den ihr wohlbekannten Röhren desselben.

Dann stellte sie sich zum offenen Fenster und richtete das Instrument nach einem kleinen Pavillon, welcher einen Zubau zu dem Hause bildete.

– Pfui, wie häßlich ist das! sagte Giglio. Wollen Sie doch diese Dinge nicht betrachten, mein Fräulein!

– Wollen Sie vielleicht meinen Platz? Ich biete Ihnen denselben an.

– Ich danke. Nein.

– Sie haben Unrecht. Ich unterhalte mich ganz närrisch. Warum lehnen Sie ab?

– Das paßt noch nicht zu meinem Alter.

– Und es paßt doch schon zu dem meinigen.

– Das gebe ich zu. Diese Art der Zerstreuung ist für die Kahlköpfigkeit und für die Jungfräulichkeit erfunden worden, welche beide dieselbe Ursache haben, sie interessant zu finden. Was mich betrifft, so versichere ich Ihnen, daß sie mir sehr unangenehm ist.

Emmanuela nahm ihren Beobachtungsposten wieder ein. Dann sprach sie, während ihre Hände ihre Ungeduld verriethen:

– Aber ich würde Ihrer bedürfen, kommen Sie schnell. Was dort drüben vorgeht, ist die Phantasmagorie. Vorhin war ein Herr mit zwei Damen da; jetzt finde ich eine Dame mit zwei Herren. Und doch ist Niemand eingetreten, noch auch hinausgegangen … Erklären Sie mir, ich beschwöre Sie …

Nach Verlauf einer halben Minute gab Giglio folgende Erklärung:

– Ein Herr mit einer schön gestalteten Dame … die häßlich ist … gefolgt von einer zweiten Dame, die weniger schön gestaltet, aber hübsch ist.

– Ei, ei! … Aber schließlich …

Sie wollte mit ihm diskutiren, als eine plötzliche Röthe ihre Wangen färbte. Sie begnügte sich denn kopfschüttelnd zu sagen:

– Ja. Ich sehe wohl ein, daß ich noch nicht Alles weiß.

Und als hätte die Feststellung dieser Thatsache ihr die nöthige Kraft verliehen, um auszudrücken, was sie sagen wollte, fügte sie hinzu:

– Nun wohl, so kann es nicht fortdauern! Ich muß mit Ihnen sprechen und Sie werden erfahren, weshalb ich Ihrer bedarf. Es ist sehr unschicklich, sehen Sie mich dabei nicht an. Und es wird vielleicht lange dauern, seien Sie nicht zerstreut.

– Im Gegentheil, ich fühle lebhaftes Interesse.

– Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, mein Herr. Ich bin nicht verheirathet. Ich führe ein blödes Leben wie alle jungen Mädchen,

– Ja … ja …

– Sie verstehen mich. Ich sehe das. Mein Vater hat sehr fortgeschrittene Ansichten über das intime Leben und über die Erziehung …

– Aber er wendet sie natürlich bei seinen Töchtern nicht an.

– Natürlich?

– Das ist das Menschlichste.

– Sie finden das? Ich finde es unlogisch.

– Es ist menschlich und unlogisch: zweifach menschlich. Wir stimmen überein.

– Unterbrechen Sie mich nicht, sonst werde ich Alles vergessen, was ich Ihnen zu sagen habe, bevor …

– Bevor Sie frei sprechen …

– Sie sind unausstehlich! Ich bin sicher, daß Sie mich verurtheilen werden und nicht wissen werden, weshalb ich Recht habe.

– Ich weiß schon genau, daß Sie Unrecht haben.

– Ich sagte es ja. Sie verstehen mich nicht!

– Ich verstehe Sie im voraus und ich will Ihnen die Mühe ersparen, ein Gespräch zu beendigen, welches Ihnen viel Verlegenheit bereiten muß. Ein mir bekannter Herr, der für einen feinen Geist gilt, sagt nie mehr als die Hälfte der Sätze, weil ein kluger Partner gleich nach den ersten Worten die Absicht erräth und während des Schlusses, welchen er nicht mehr anhören muß, Zeit genug hat, Gegengründe zu ersinnen.

– So führen Sie selbst meine Rolle zu Ende. Ich muß wenigstens wissen, ob Sie mich verstanden haben.

– Ob ich Sie verstanden habe! … An Ihrer Stelle würde ich auch nicht anders denken, als Sie. Und ich würde Unrecht haben. Das wollte ich Ihnen eben in zwei Worten sagen, welche Ihnen allerdings nicht viel nützen werden. Ich bin darauf gefaßt.

– Sprechen Sie!

– Hören Sie! Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt. Sie sind schön, Sie sind Mädchen seit zehn Jahren; Sie haben viel geweint, als Sie fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahre und so weiter alt waren; Sie haben sehr heiße Romane gelesen, in welchen in Ihrem Alter stehende oder noch jüngere Mädchen liebestolle Nächte mit mehr als vollkommenen Liebhabern verbrachten. Ihr Fernglas hat Ihnen bewiesen, daß diese Romane keine Fabeln waren und wenn Sie sich mit den Personen verglichen, welche Ihren Neid erregten, erkannten Sie an gewissen Zeichen, daß Sie, gerade so wie jene, mehrere Herren beglücken könnten, welche ihrerseits wieder Sie glücklich machen könnten.

– Uff! machte Emmanuela aufathmend. Es ist mir doch lieber, daß nicht ich all' dies gesagt habe. Es ist wahr. Schauen Sie mich nicht so an, das ist mir lästig.

– Als Sie meinen Brief lasen, fuhr Giglio fort, glaubten Sie keinen Augenblick, daß ich Sie liebe, oder vielmehr: Sie haben gehofft, daß ich Sie nicht liebe …

– »Gehofft« ist sehr gut gesagt. Es ist ganz so.

– Und da Sie mich in meiner Rolle als Verkleidungskünstler am Werke sahen, zählten Sie auf mich und auf alle Hilfsmittel meines schönen Talentes, daß ich Ihnen beistehen würde, in Verkleidung durchzugehen. Denn wenn auch kein Gensdarm Sie hier gefangen hält, möchten Sie doch nicht gern mit Ihrem Abgang Aufsehen erregen. Sie ziehen es vor, zu verschwinden, daß Niemand Ihrer Spur folgen könne.

– Und ohne zu wissen, was ich von Ihnen verlangen würde, haben Sie mir versprochen, daß Sie mir bis zu Ende beistehen wollen. Vergessen Sie es nicht, mein Freund!

Giglio nahm ihre Hand und sagte ihr in sehr warmem Tone:

– Sie haben Unrecht.

– Nein, nein.

– Sie kennen das Leben nicht, in welches Sie sich stürzen wollen. Es geschieht da Alles so wie anderwärts und wie in den Familien, das heißt, das Glück ist in zwei Theile getheilt, fast Alles für die Männer, fast Nichts für die Frauen. Das kommt – wie man behauptet – von einer Geschichte, welche sich einst zwischen einem Apfel und einer Schlange zugetragen hat. Die Frauen sind auf der Erde, um sehr unglücklich zu sein, oft ohne jeden Grund; aber wenn eine Cocotte zu plärren beginnt, so weiß sie sicherlich weshalb.

– Wollen Sie mir es sagen?

– Weil sie ihr Spiel treibt mit einer Liebe, die ihr immer wieder entschlüpft; weil sie unter zwanzig Männern, die sie verabscheut, Einen wählt, den sie liebt und der nur ein Verlangen hat: sie so bald als möglich zu verlassen; weil es keine traurigere und schwerer zu spielende Komödie gibt, als diejenige der zärtlichen Gefühle; weil …

– Aber dieses Weib kennt wenigstens das Leben! Sie ist nicht eine unnütze Sache, eine Einsame wider Willen, eine Existenz ohne Zweck, ohne Freuden, ohne Freiheit.

– Können Sie von Ihrem Herrn Vater erlangen, daß er Ihnen eine Pension zahle und Ihnen gestalte, ein zwangloses Leben zu führen, wie er es sogleich thun würde, wenn Sie ein Sohn wären?

– Er wird das niemals thun wollen.

– Das ist das Gesetz des Mannes, immer das Gesetz des Mannes!

– Und es wäre doch in der Thal so natürlich.

– Werden Sie ein Junge, wie die Dame, welche Sie vorhin beobachteten und Herr Lebirbe wird es ganz natürlich finden, daß Sie gegen zehn oder elf Uhr Morgens im Frack und völlig erschöpft heimkehren. Selbst wenn Sie ein wenig benebelt wären, würde er, wie ich glaube, Nachsicht üben.

– Ach, Sie sind nicht ernst, bemerkte das Mädchen mit einem traurigen Lächeln.

Giglio aber fuhr fort:

– Nichts von Alldem, was ich Ihnen von dem Freudenleben sagte, hat Sie überzeugt; nicht wahr?

– Nichts.

– Ich dachte es mir wohl. In welchem Alter wünschten Sie zum ersten Mal, das Elternhaus zu verlassen?

– Ich weiß nicht … Immer.

– Also ist es kein unüberlegter Jugendstreich? Sie haben nachgedacht über die Sache, Sie wissen, was Sie wollen und Sie sind sicher, es zu wollen?

– O Gott, ja.

– Sie beneiden also die Weiber, welche Sie in der hübschen Nachbarschaft, die Ihr Vater Ihnen gegeben, beobachteten? Betrachten Sie sie noch einmal.

Und während sie ihr Fernglas nahm und es nach der Ferne richtete, dachte sich Giglio, welch' ein Glück es für ihn sei, daß er dieses Mädchen nicht liebte, weil ihm dies gestattete, mit ihr so zu reden, wie er im Begriffe war, es zu thun.

– Ich beneide sie, sagte Emmanuela.

– Alle beide?

– Alle beide in gleicher Weise. Ich möchte Magd in jenem Gasthofe sein. Ich möchte die kleine Bettlerin sein, die in diesem Augenblicke in den Straßengräben schläft und erdrosselt werden wird, aber nicht ohne vorher vergewaltigt zu werden.

Giglio verneigte sich.

– Ich habe nichts mehr zu sagen, Fräulein. Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen behilflich sei, von hier fortzukommen, so bin ich dazu völlig bereit.

– Wie? Sie wollen?

– Es ist vielleicht unsinnig, ich begreife es nicht. In allen Fällen geht es mich nichts an. Nach zehn Jahren der Überlegung haben Sie wohl das Recht, einen Willen auszudrücken. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Wenn Sie jetzt entschlossen sind, will ich nicht länger in Sie dringen. Ich befinde mich übrigens ganz und gar in meiner Rolle eines jungen Mannes, wenn ich Verwirrung in die Familien trage und die Pläne eines Vaters störe. Ich glaube sogar, daß ich Ihnen versprochen habe, Ihnen zu gehorchen. Das trifft sich ganz herrlich.

Emmanuela drückte ihm beide Hände und sprach:

– Oh, Sie sind gut und ich hatte Sie so schlimm empfangen! Verzeihen Sie mir, wenn Sie können. Ich liebe Sie von ganzem Herzen. Hören Sie … Wie spät ist es denn? Vier Uhr zehn Minuten … Die Dienstleute stehen vor halb 7 Uhr nicht auf, wir haben mehr als zwei Stunden vor uns … Kleiden Sie mich nicht sogleich an, ich bitte Sie.

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