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VIII.
Ein Kapitel, dessen Gegenstand man erfahren wird, wenn man es zu Ende gelesen hat.

Der Mond ging in einem Bette von Purpur und tiefem Grün im Osten zur Ruhe, als Mirabelle, als junger Mann verkleidet und eine duftende und eine duftlose Blume in ihre kleine Tasche steckend, die weiße Aline um den Leib nahm und ihr so nahe, daß Beider Athem sich vermengte, zuflüsterte:

– Willst Du mir folgen?

– O ja.

Sie drückten die Lippen auf einander. Aline schloß die Augen.

Mirabelle richtete sich auf und flüsterte wieder:

– Liebst Du mich?

– O ja, o ja!

– Wiederhole es, sage es allein. Sage mir: »Ich liebe Dich, Mirabelle!«

– Ich liebe Dich, Mirabelle.

– Wirst Du nichts bereuen?

– Ich habe nichts zu bereuen.

– Wirst Du mir überallhin folgen?

– Nicht allzu weit, ich bitte Dich. Aber ich werde Dir folgen, wohin Du gehst. Du bist meine Freundin.

Mirabelle blickte sie ernst an und drückte ihre beiden Arme.

– Weißt Du, was eine »Freundin« ist? Nein, Du weißt es nicht. Thut nichts, Du wirst es bald erfahren. Verlaß' mich nicht; schwöre, daß Du bleiben wirst … acht Tage … acht ganze Tage mit Mirabelle.

– Acht Tage? Aber noch viel länger. Was sprichst Du?

– Schwöre mir acht Tage. Ich verlange nicht mehr. Wenn Du acht Tage bleibst, werde ich Dich acht Jahre bei mir behalten.

– Warum bist Du so traurig?

– Küsse mich!

– Hier.

– Du hast geschworen.

– Alles, was Du willst.

Nichtsdestoweniger schüttelte Mirabelle leise das Haupt. Sie sprach nicht mehr, erhob noch einmal die Blicke zu den vier weißen, jungen Brüsten der marmornen Nymphen und sagte endlich:

– Laß uns gehen. Wo ist der Weg? Wo ist die Thüre?

– Ach, die Thüre ist bewacht. Komm her, ich weiß eine Stelle, wo man den Park verlassen kann.

Mit raschen Schritten eilten sie davon. Um einen vollen Kopf größer, hielt Mirabelle ihre Freundin ein wenig oberhalb des Gürtels. Ihre Hand erfaßte die kleine, geschwellte Brust, umfing sie mit den fünf Fingern, drückte sie zärtlich mit der inneren Handfläche und betastete sie mit der Fingerspitze, bis sie die Knospe gefunden hatte. Line erhob lächelnd die Augen zu ihr.

Zwischen zwei Aloen hindurch schreitend, verließen sie den Park und gingen querfeldein, weit von dem Wege. An diesem Orte zeigte die aufgeschüttete trockene, harte Erde Fußspuren. Mirabelle sah es nicht, denn der Mond war untergegangen. Line führte sie an der Hand und bald waren sie in dem Straßengraben.

Wohin sollten sie gehen? Sie wußten es selbst nicht.

Sie gingen längs eines Maisfeldes, dann neben einem Gemüsegarten dahin, wo rothe Beißbeeren, Wassermelonen und Pataten wuchsen.

Der Tag dämmerte kaum.

– Ich bin schläfrig, sagte Line, indem sie die Wange auf die Schulter ihrer Freundin stützte. Es ist spät. Wo werden wir ruhen? Ich habe seit so vielen Stunden nicht geschlafen.

Während sie dahinschritten, besprachen sie diese Sache. Es gab an der Straße einen Weiler mit einer Herberge. Allein, wie sollte man vor Tagesanbruch ein Zimmer verlangen? Sie hatten weder Wagen, noch Mäntel, noch Gepäck. Wie wird es sein, wenn die Patronin ihnen allerlei Fragen stellt? Wie sollten sie in wenigen Worten ihr erklären, weshalb sie zu einer so späten Stunde und in so kühler Nacht noch nicht zu Bette seien?

– Wir wollen der Straße folgen, sagte Mirabelle. Ich sehe dort ein Olivendickicht, wo wir im Schatten schlafen und den Tag erwarten können.

Nach einem langen Marsche, welcher der fast schon schlafenden Line sehr ermüdend schien und doch nicht viel mehr als 25 Minuten dauerte, kamen sie am Saume des Gehölzes an. In der Thal erhoben einige Olivenbäume ihre platte, dunkle Masse vor den übrigen Bäumen; hinter ihnen gab es Pappeln und Cypressen, durch wildes Gestrüpp verbunden, und eine sanft abfallende grasbewachsene Böschung.

Line legte die beiden Arme um den Hals Mirabelle's, küßte sie am linken Nasenflügel und streckte sich auf den Boden hin, ohne auch nur den besten Platz auszusuchen. Sie legte einen Arm unter das Haupt und im nächsten Augenblicke schlief sie schon.

Sie schlief zehn Stunden, bis zur Mitte des Nachmittags.

Wenn sie erwachend nicht flüsterte: »Wo bin ich?« – wie es in den Feenmärchen vorkommt, – so geschah es, weil Mirabelle, an ihrer Seite, sie mit wachsamer, fast ehelicher Zärtlichkeit betrachtete.

– Du bist's? sprach sie. Und sind wir allein? Hat Niemand uns gefunden? Guten Tag, Mirabelle Hast Du gut geschlafen?

Nein, die Tänzerin hatte kein Auge geschlossen. An die schlaflosen Nächte gewöhnt, hatte sie diese Nacht in der Erwartung und in den Begierden zugebracht. Während der ersten Morgenstunden hatte sie sich vor dem Antlitze Line's auf die Kniee geworfen, um ihren Schatten auf sie fallen zu lassen. Später, mit dem Wechsel des Lichtes, hatte eine breite, schattige Cypresse diese Sorge übernommen, so daß Mirabelle sich erheben konnte, um Feigen zu stehlen; und als endlich die weiße Aline ihren letzten Traum ausgeträumt hatte, konnten Beide ihr Mahl nehmen.

Dieses Mahl war spärlich und der Schatten warm. Oberhalb der Myrthensträucher bemerkte man die Schnitter in den Getreidefeldern und Fußgängerinnen auf der Straße.

– Du siehst, wir sind nicht allein, sagte Mirabelle. Wir können hier nicht bleiben. Willst Du bis nach Tryphema gehen? Die Stadt ist nicht sehr weit, wie Du weißt. Wir werden uns dort besser verbergen, als in den Wäldern.

Line stützte sich auf ihre Schulter und sie nahmen ihren Weg über die Wiesen. Ein Stück weiter mußten sie durch das erste Dorf kommen. Die Straße war verödet und weiß. Rechts lud eine Herberge zur Einkehr.

Ihre in der Strohfarbe frisch getünchte Stirnwand, ihre schattigen Lauben, ihr Garten, ihre alten Bäume übten auf Mirabelle sofort ihre verlockende Wirkung.

Zu dieser Stunde des Tages arbeiteten die Bauern auf den Feldern. An der offenen Thüre stand Niemand. Wenn sie sich rasch hineinschlichen, konnte kein Zeuge sie verrathen. Das war wenigstens der Grund oder der durchsichtige Vorwand, welcher sie bewog, dem äußersten Drängen ihrer Sinne so rasch nachzugeben.

– Wir wollen hier eintreten! sagte sie.

– Wie Du willst.

Man gab ihnen das schönste Zimmer. Line verlangte sofort Folgendes: Ein großes Waschbecken mit Douche, einen neuen Schwamm, einen Korb voll Kirschen, Chokolade, einen Fächer, Zitronen-Saft und Eis, recht viel Eis, warmes Wasser, recht viel warmes Wasser.

Sie erhielt diese kostbaren Dinge, dann schloß sie die beiden Thürriegel. Mirabelle folgte ihr, um sie zu umarmen, allein Line faltete die beiden Hände, lächelte hinter einem Mäulchen und erklärte mit flehender Stimme, daß es so heiß sei, daß sie allein seien, daß Niemand sie ausschelten könne und daß sie daher zusammen ein wenig Toilette machen und sich entkleiden könnten.

Mirabelle fühlte einen wollüstigen Schauer durch ihre Glieder fahren.

Die Treuherzigkeit Line's brachte sie ganz und gar aus der Fassung. An alle Kunstgriffe der großstädtischen Ausschweifungen gewöhnt, an den Widerstand, welcher überwunden werden will, an die Leibchen, welche aufgenestelt werden wollen, an die vielen warmen Röcke, an die so einladenden Beinkleider, hatte die Tänzerin kein Verständniß mehr für die seelische Beschaffenheit dieser Kleinen, welche ohne die auf den Divans üblichen Übergänge verlangte, daß man sich entkleiden solle.

Die Personen, welche nach und nach in den Coulissen, in den Fiakern oder in den Junggesellen-Wohnungen es übernommen hatten, durch intime Unterhaltungen ihre junge Seele zu bilden, welche ihrem ausschließlichen Einflusse unterworfen war, hatten ihre Sache so gut gemacht, daß Mirabelle im Alter von achtzehn Jahren sich die Frauen stets unter zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten vorstellte: keusche Frauen und teuflische Frauen. In ihrer Vorstellung von dem weiblichen Charakter gab es zwischen der äußersten Keuschheit und der völligen Verderbtheit keinen Mittelweg; und weil schon in ihrer frühen Jugend eine in großer Noth lebende Tante von ihr verlangt hatte, daß sie zwischen der Tugend und dem Laster wählen möge, ohne bei ihr eine Fürsprecherin der Tugend zu sein, hatte Mirabelle alle Laster kennen gelernt, um so früh als möglich zwischen den beiden parallelen Wegen unterscheiden zu können, welche in ihren Augen die moralische Zukunft eines hübschen Kindes darstellten. Daß es noch einen dritten Weg gebe und daß man sehr wohl entkleidet sein könne, ohne die Flamme der klassischen Unzucht in den Augen: davon hatte Mirabelle als richtige Französin und Leserin von Roman-Feuilletons nie eine Ahnung gehabt. Für sie war die Geste des Weibes gleichmäßig die zweideutige Mimik der keuschen und der hinweisenden Venus; wer nicht verhüllte, der zeigte; wer nicht abwehrte, der wollte herausfordern.

Als sie die weiße Aline hörte und ihre so reinen Augen sah, sagte sich Mirabelle ganz einfach: »Das sind die Sitten von Tryphema; aber welch' ein seltsames Land!«

Sie entkleidete sich zuerst, mit Bewegungen, welche vor den zu öffnenden Knöpfen bald zögerten, bald sich beeilten. Sie wagte nicht einmal zu lächeln und ließ verlegen die Arme hängen, als sie nichts mehr auszuziehen hatte.

Aufrecht stehend, nervös, die beiden Hände unter dem Nacken, den geschmeidigen Körper auf ein vorgestrecktes, zitterndes Bein stützend, biß sie sich in die Lippen und neigte den beweglichen Hals, fortwährend den Blick wechselnd. Inzwischen saß Line, das Kinn auf die Finger gestützt, vor ihr und beobachtete sie mit dem lebhaftesten Interesse.

Mirabelle verlor endlich die Geduld und fragte:

– Gefalle ich Dir?

– Du gleichst … soll ich Dir sagen, wem? Einer Statue des Narciß, welche in unserem Parke steht. Aber Narciß ist ein Mann … Du bist das erste Mädchen, welches ich so betrachte. Ich habe niemals eine Freundin gehabt und ich sehe die Frauen Papas nur von ferne … Ich finde Dich viel hübscher als jene …

In der Thal konnte man, abgesehen von einem Detail, welches man ja nicht bei jeder Bewegung betrachten mußte, Mirabelle für einen jungen Mann halten. Nicht ohne Grund spielte sie die Männer-Rollen. Die Zwiefältigkeit ihrer Formen und ihrer Haltung war eine solche, daß sie, um die jungen Liebhaber mit einer physischen Wahrscheinlichkeit darzustellen, nicht nöthig hatte, ein Wamms oder ein Beinkleid anzuziehen. Der Schurz genügte vollkommen. Sie war groß, aber leichtgebaut, mit geraden Lenden und plattem Bauch. Ihre Beine einer flinken Tänzerin verriethen ihre Kraft durch eine komplizirte und feine Muskulatur, welche sich an der Oberfläche abzeichnete, wenn sie die Knöchel spannte. Der Oberkörper war etwas schmächtiger. An der feinen und zarten Haut der Brust zeigten blos zwei kleine, dunkle Knospen den Platz der Brüste an. Ihre braunen, geringelten, kurzen Haare waren rechts abgetheilt und verdichteten sich über der Stirne zu einer Flechte.

Diese Art von Schönheit ist nicht gerade diejenige, welche die indischen Poeten begeistert, allein Mirabelle, welche die Stanzen des Bhartrihari nicht las, fand sich eigenartig und sogar pikant nach dem Styl der Komplimente, welche sie nach Mitternacht zu empfangen gewohnt war. Sie war daher nicht überrascht, als sie von ihrer neuen Freundin hörte, daß sie einem jungen Manne gleiche. Sie hatte es ja von Anderen oft genug gehört. Rasch setzte sie sich auf die Kniee der weißen Aline.

Diese hatte ihr offenes Kleid noch nicht abgelegt. Mirabelle selbst wollte es ihr ausziehen, und diese langsame Entkleidung wurde von Zärtlichkeiten unterbrochen, welche Line äußerst galant fand, ohne zu wagen, dieselben zu erwidern.

Sehr wohl gelaunt, schleuderte sie ihre Strümpfe weg und hockte in dem Waschbecken nieder, bei der Berührung des frischen Wassers wollüstig erschauernd.

Doch plötzlich wieder von einem Zweifel ergriffen, und während sie mit beiden Händen ihren Schwamm ausdrückte, fragte sie, den Kopf erhebend:

– Ist es auch wirklich wahr, Mirabelle, Du bist kein Mann?

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