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XI.
Ein Kapitel, wo Herr Lebirbe auf der Scene erscheint und wo Philis einen leisen Schrei ausstößt.

Die marmorne Stutzuhr schlug halb neun.

– Ich habe mich verspätet, sagte Giglio. Somit ist es nicht der Mühe werth, daß ich mich spute.

Und er blickte sich in der Stube um.

Sie war in großer Unordnung.

Ein breiter Divan, der ihm ohne Zweifel verdächtig erschien, war noch mit einem weißen Leintuch bedeckt, welches zerknüllt war und auf welchem zwei Kopfkissen in der Mitte lagen. Der Tisch war abgedeckt, aber in einer Kompot-Schüssel von Fayence lagen noch einige Früchte. Der Spiegel des Ankleideschreines zeigte einen mit einem Diamantring geschriebenen kurzen Satz, welcher ein außerordentliches und getheiltes Glück verrieth. In einem Winkel fand Giglio eine Figurengruppe, Paul und Virginie darstellend. Diese kleine Gruppe gehörte eigentlich zur Stutzuhr als Zierrath, doch hatte offenbar Mirabelle sie entfernt, damit Aline kein schlimmes Beispiel vor sich sehe.

Als Giglio diesen Kunstgegenstand aufhob, erblickte er den weißen Umschlag eines Briefes. Der Umschlag trug folgende Adresse: An Seine Majestät den König Pausol.

– Wie? bemerkte er – sie schreibt ihm?

Der Umschlag war nicht versiegelt. Giglio, welcher der Vertraute und Mitschuldige der Flüchtlinge geworden, entfaltete ohne Zögern den Brief, las ihn, versiegelte ihn und verschloß ihn in seine Feldtasche.

In dem Augenblicke, wo er über das Mittel nachsann, auch seinerseits unbemerkt zu entkommen, fielen seine Augen auf die an dem Kleiderrechen hängenden Gewänder.

Diese konnte man nicht da lassen. Im Falle einer Untersuchung würden sie allzu deutlich verrathen, daß die weiße Aline und der Fremde die Gewänder gewechselt haben.

Sollte er sie vernichten? Aber wie? Sollte er sie verbergen? Aber wo?

Viel geschickter wäre wohl, diese Kleider von Anderen tragen zu lassen. Man war am Samstag vor Pfingsten. Am nächsten Tage sollte es ein großes Fest geben und zwei Bauernkinder würden sicherlich entzückt sein, mit dieser blauen Jacke und mit diesem grünen Kleid auf den Straßen spazieren zu gehen. Auch wäre dies eine köstliche falsche Spur für die Polizei.

Giglio nahm das Leintuch, welches den breiten Divan bedeckte, packte die Kleider hinein, trat auf den Balkon hinaus und schleuderte den Ballen mit kräftiger Hand über die Mauer hinweg in den Hof des benachbarten Hauses. Dann ließ er sich einen Pfeiler entlang in den Garten hinabgleiten, schlich im Schatten bis zu der im Hintergrunde befindlichen Hecke, suchte einen Ausgang, fand keinen, machte sich einen und befand sich endlich draußen.

Sicherlich erwartete ihn Thierrette schon in dem kleinen Oliven-Wäldchen, in demselben, wohin Mirabelle einige Tage vorher die weiße Aline geführt hatte.

Giglio, dessen Aufmerksamkeit durch die Begebenheiten mit seinen beiden Schützlingen abgelenkt worden, fühlte wenig Lust, die arme Thierrette wieder aufzusuchen, aber er würde Reue empfunden haben, sie viele Stunden der Nacht vergebens warten lassen zu haben und sie jener Befriedigung zu berauben, nach welcher sie offenbar heiße Sehnsucht trug.

Er sann eben über diese Frage nach, als er vor dem Thor der Meierei anlangte. Als er dort die vierzig Garden sah, sagte er sich:

»Ach, ich will einmal sehen, ob die Leute des Nixis so tugendhaft sind. Diese Gardisten sollen keine Säufer und keine Schürzenjäger sein. Wir wollen einmal eine Probe machen.«

– Holla, holla! rief er.

Die Garden nahmen vor ihm Aufstellung.

(Wie wir wissen, schlief König Pausol schon um diese Stunde.)

– Holla! wiederholte Giglio. Wer von Euch will die Nacht mit der hübschesten Dirne des Dorfes verbringen?

– Ich, ich, ich! riefen Alle durcheinander.

– Also Alle nehmen an?

– Ja, ja!

– Wohl denn. Gehet in das Oliven-Wäldchen, welches Ihr rechts von der Straße sehet. Ihr werdet dort eine Milchmagd, Thierrette mit Namen, finden. Saget ihr, daß mich heute Abend mein Dienst zurückhält, aber daß ich ihr statt meiner vierzig Lanzenträger mit einem Tulpenstrauß sende. Gehet, und wenn sie Widerstand leistet, so erweiset ihr die Ehre gegen ihren Willen.

Und als sie schon im Dunkel der Nacht davon rannten, rief Giglio ihnen nach:

– Aber nur mit Respekt, und Einer nach dem Andern!

Er wollte eben in den Pachthof eintreten, als ein hochgewachsener Greis den Hut vor ihm zog und mit dem althergebrachten Respekt vor dem Barret und dem blauen Wamms ihn fragte:

– Mein edler Herr, sind Sie nicht Page des Königs?

– Mein Herr, ich habe diese große Ehre.

– Sehr wohl. Ich bin Herr Lebirbe, Präsident des Bundes gegen die Unzucht in der Familie, eines Bundes, dessen Gemeinnützigkeit durch eine königliche Verordnung von: 1. Juli 1899 anerkannt wurde. Ich bewohne ein nahes Haus, welches man mit Vorliebe das Schloß des Dorfes nennt, weniger wegen seiner Ansehnlichkeit, als zum Vergleich mit den bescheidenen Häusern seiner Umgebung. Dieses Haus ist gewiß nicht würdig, meinem Herrscher Unterkunft zu bieten; aber ich habe erfahren, daß Se. Majestät auf seinem Wege nach der Hauptstadt unfern von hier Halt gemacht habe; ich sehe, daß es spät ist und zweifle, daß der König zu dieser vorgerückten Nachtstunde seine Reise fortsetzen wolle, und ohne mich zu erkühnen, eine Einladung an ihn zu richten, möchte ich ihm doch zur Kenntniß bringen, daß unter meinem Dache Alles bereit ist, ihn zu empfangen, ihn und sein Gefolge, falls er die Gnade haben wollte, die Nacht bei mir zuzubringen. Die Gemächer, welche ich ihm anzubieten wagen würde, harren unter der Bezeichnung »Zimmer des Königs« seit Anbeginn des eventuellen Besuches, welchen ich vorauszusehen mir erlaubte, wohl wissend, daß König Pausol die langen Etapen scheue und daß mein Haus auf halbem Wege zwischen dem Palast und Tryphema liege …

– Haben Sie Töchter, mein Herr? unterbrach Giglio.

– Ja, mein Herr, aber darf ich Sie fragen, wie Sie zu dieser Frage kommen?

– Das ist das Zeichen, die Bürgschaft eines sittsamen und hoher Achtung würdigen Hauses, Herr Lebirbe. Ich meine es nicht anders.

Mit einer Vertraulichkeit, welche für Wohlwollen angesehen wurde, ergriff er dann den linken Arm des Greises und zog ihn vorwärts.

– Führen Sie mich, sagte er. Sie kommen gerade recht zu der Stunde, wo ich vom König damit betraut bin, ihm einen Ort für die Nachtruhe zu bereiten. Überzeugt, daß Sie Alles auf das Beste angeordnet haben, will ich Sie dennoch begleiten, um bei meiner Rückkehr persönlich den Bericht erstatten zu können, den man von meiner Wachsamkeit erwartet.

Sie schritten gerade durch das Gitterthor, als Giglio diese Worte sprach, welche auf den Geist des Herrn Lebirbe einen vortrefflichen Eindruck machten.

Auf den Stufen zum Eingang des Hauses harrten Madame Lebirbe und ihre beiden Töchter beklommen der Dinge, die da kommen sollten.

– Nun?

– Ich habe gute Hoffnung! Dieser junge Herr ist Page des Königs und kommt, um sich von unseren Bemühungen zu überzeugen.

Nachdem er in solcher Weise seinen jungen Begleiter vorgestellt hatte, nannte der Greis nacheinander seine Frau, seine ältere Tochter Emanuele und seine jüngere Tochter Philis, welche bescheiden die Köpfe abwandten, aber von der Seite neugierig den Jüngling betrachteten.

Sie besichtigten das erste Stockwerk.

Madame Lebirbe hatte die Flucht ergriffen. Ihr Gatte schritt voraus, mit einem Leuchter in der Hand. Als man bei einer Krümmung des Korridors ankam, steckte Giglio, der als Letzter ging, die beiden Hände unter die Arme des Fräuleins Philis, zog sie bei der Brust an sich und gab ihr einen stillen, aber köstlichen Kuß.

– Ach! schrie sie.

– Hast Du Dir wehe gethan? fragte ihr Vater.

– Ich habe mich gestochen. Es ist nichts. Halte Dich nicht auf.

Giglio faßte in diesem Augenblicke die günstigste Meinung von Allem, was vorbereitet worden, um den König Pausol zu empfangen. Er entschied, daß das Zimmer prächtig, das Bett wahrhaft königlich, die Wanduhr vom besten Styl, die Gemälde eines Museums würdig seien.

Um seine Sympathie für diese Familie noch unmittelbarer zu beweisen, dehnte er seine kleine Untersuchung bis auf die privaten Gemächer aus und es gelang ihm, festzustellen, daß die Zimmer der beiden Mädchen fern von einander lagen und mit Doppelthüren versehen waren, was er gar nicht zu hoffen gewagt hatte.

Fortan stand sein Urtheil unerschütterlich fest.

– Ich will dem König sagen, sprach er, daß er nirgends eine würdigere Aufnahme finden könnte, als in Ihrem Hause, Herr Lebirbe.

Er zog sich zurück, begleitet von dem strahlenden Lächeln der Familie.

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