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X.
Wie Giglio bis zu dem Ehebette der weißen Aline gelangte und was dann weiter folgte.

Ehe wir erzählen, wie die vorstehend geschilderte Scene endigte, müssen wir nach den Grundregeln der romantischen Überlieferung Gilles bei dem Punkte aufsuchen, wo wir ihn verlassen haben.

Dieser war – wie erinnerlich – als Kuhmagd verkleidet, mit zwei leeren Milcheimern ausgerüstet, gegen 8 Uhr Abends vor der Thür der weißen Aline erschienen und hatte Einlaß unter dem Vorwande verlangt, daß man das Zimmer aufräumen wolle.

– Herein! herein! sagte eine Stimme.

Er trat bedächtig ein und blickte um sich.

Niemand war da, weder im Bette, noch im Zimmer überhaupt.

Doch an der Mauer hingen ein grünes Kleid, eine Männerhose und verschiedene Unterkleider, welche wir nicht näher bezeichnen wollen. Alldies verrieth, daß es da wenigstens zwei Menschen geben müsse.

Sehr ruhig und seine Stimme bis zum höchsten Sopran emporschraubend, rief er:

– Ist der Herr nicht da?

– Warum? erwiderte die Stimme.

– Ich hätte dem Herrn zwei Worte zu sagen.

Ein unbändiges Gelächter wurde aus dem Toilettezimmer vernehmbar. Die kleine Thüre wurde halb geöffnet.

– Nun sprecht, was gibt es?

– Könnte der Herr nicht einen Augenblick herauskommen?

Das Lachen wiederholte sich.

Dann trat ein Stillschweigen ein und nach einen: unruhigen Geflüster fragte die Stimme wieder:

– Sind Sie allein?

– Ja, Madame.

– Schließen Sie die Thüre mit dem Schlüssel, ich komme.

Giglio schloß die Thüre und schob aus größerer Vorsicht den Schlüssel in seine Tasche.

Ganz ruhig, vor einer Kammerfrau sich nicht verbergend, kam jetzt die weiße Aline zum Vorschein; zwischen der Hand und den Zähnen hielt sie eine Muskat-Traube.

– Der Herr will nicht herauskommen, sagte sie lächelnd. Sprechen Sie mit mir.

Obgleich er sich durch die Gunstbezeigungen Thierrette's vollauf gesättigt fand, fühlte der Page dennoch angesichts dieser Erscheinung alles Feuer, welches Pyrrhus entzündet hat, in ihm wieder erwachen; allein er bekundete diesen Abend eine ganz ausnahmsweise Zurückhaltung und hielt es für gefährlich, eine Betrachtung zu verlängern, welche seinen übrigen Plänen hätte schaden können.

Er nahm sogleich seine Mannes-Stimme an und sagte:

– Madame, ich bedaure tief, Euere Hoheit gesehen zu haben.

– Ein Mann, ein Mann! schrie Mirabelle, indem sie mit der wüthendsten Miene in das Gemach stürzte.

– Ach, wir sind entdeckt! schluchzte die kleine Line.

Und sie fiel bewusstlos in die Arme ihrer großen Freundin.

Giglio, ohne Zweifel sehr erstaunt, aber durch seine Kenntniß des intimen Lebens auf diese Art von Überraschung vorbereitet, öffnete die Thüre des Toilette-Zimmers, konstatirte, daß er in dem Zimmer und in dem kleinen Kabinet keinen anderen Liebhaber sehe, als dieses junge Mädchen mit den kurzgeschnittenen Haaren, und so erklärte sich sofort Alles. Er machte für sich selbst zwei Bewegungen.

Die eine bedeutete:

»Das ist klar.«

Die zweite wollte sagen:

»Das ist nett.«

Während Mirabelle mit einem großen Aufwande von Mühe und Zärtlichkeit die kleine Mitschuldige wieder zum Bewußtsein brachte, deren Blässe mitleiderregend war, schloß Giglio das Kabinet, um eine Umwandlung seiner Toilette vorzunehmen. Er legte den Weiberrock, das Busentuch, das Kopftuch und den Strohhut ab, dann ordnete er sein Haar, setzte sein Barret auf, bürstete sorgfältig sein blaues Wamms, brachte sein gelbes Beinkleid in Ordnung und wusch seine Hände in dem warmen Wasser.

Da er nunmehr in dem Zustande war, sich vor Jedermann mit Anstand zeigen zu können, trat er heraus und grüßte.

Line stieß von Neuem einen Schreckensschrei aus:

– Oh, mein Gott, ein Page Papas!

Mirabelle hatte sich mit zornfunkelnden Augen erhoben. Sie that sich augenscheinlich Zwang an, um dem Eindringling nicht den vollen Köcher von Beschimpfungen zuzuschleudern, welche die reiche Sprache der Coulissen den Tänzerinnen in den Stunden des Kampfes liefert. Doch sie hielt sich zurück; anstatt loszubrechen, ergriff sie mit bebender Hand Giglio beim Handknöchel und nöthigte ihn, in das Toilette-Kabinet zu kommen, wo sie ihn mit einer Leidenschaft umarmte, deren Absicht er sogleich erkannte. Sie preßte ihn in ihre Arme, sie schmiegte ihren heißen, nackten Körper an die knappe, dünne Kleidung des Pagen und drückte auf seine Lippen einen Kuß von durchdringender Art. Dann gab sie ihm in bestimmten Worten zu wissen, daß er über sie verfügen könne, über das Maß des Erlaubten hinaus und so oft als er es nur wünsche, wenn er dafür sich mildherzig erweisen wolle zwei unglücklichen Freundinnen gegenüber, wenn er ihr Versteck nicht verrathen, ihren Spielen nicht beiwohnen und sich mit der Einen begnügen wolle, um die Andere zu vergessen.

– Nun, Sie haben eine schöne Meinung von mir, sagte Giglio. Es fehlt nur noch, daß Sie mir einen Ihrer Messingringe zum Geschenk anbieten. Beruhigen Sie sich und nun bitten Sie mich um Verzeihung. Legen Sie die Hände zusammen, schlagen Sie die Augen zu Boden und sprechen Sie: »Verzeihen Sie, mein Herr, ich werde es nicht mehr thun.«

Mirabelle küßte ihn von Neuem, aber diesmal auf die beiden Wangen.

– Sie werden nicht sprechen?

– Ich habe nie daran gedacht.

– Aber Sie sind Page des Königs, Sie kommen von seiner Seite.

– Man verkleidet die Pagen nicht als Mägde, um ihnen amtliche Missionen zu übertragen. Ich versichere Ihnen, daß das nicht im Protokoll steht; nein, wahrhaftig.

– Warum kommen Sie also hieher?

– Weil Sie in einer halben Stunde, wenn Sie nicht fliehen, im Gefängnisse sitzen werden.

– Ach, ich sagte es ja; man wollte mir nicht glauben … Aber für wen thun Sie das? Wen von uns Beiden retten Sie? Doch nicht mich, da Sie mich nicht kennen … Doch wohl sie? …

– Offenbar Beide. Sonst hätte ich es nicht so eingerichtet, Euch zu trennen. Haben Sie Vertrauen zu mir. Thuen Sie, was ich Ihnen sage und sputen Sie sich. Die Zeit drängt uns Alle: ich komme in der letzten Minute und ich riskire, jeden Augenblick in diesem Zimmer überrascht zu werden. Das könnte meiner Laufbahn schaden.

Drei leise Schläge hinter der Thüre unterbrachen dieses Gespräch.

– Was macht Ihr denn da drin? fragte Line beunruhigt.

Mirabelle öffnete die Thüre und trat wieder in das Zimmer hinaus.

– Dieser Herr kommt, um uns zu warnen. Liebste, und um uns zu retten. Denke Dir, man verfolgt uns schon.

– Wer denn?

– Der König, antwortete Giglio. Er ist heute Morgens mit dem Palast-Marschall und mit mir aufgebrochen. Ich habe den Herrn Nixis irgendwo hingeschickt und habe den König bei einem Milchmeier des Dorfes schlafend zurückgelassen. Aber Nixis kann zurückkommen und der König kann erwachen, und Sie werden, Hoheit, in weniger als einer Viertelstunde gefangen sein, wie ein Vöglein im Käfig.

– Rasch, Mirabelle, laß uns ankleiden. Mein Kleid, meine Strümpfe! Wo sind meine Strümpfe?

Der Page hielt sie mit einer Handbewegung zurück.

– Ach nein, Sie sind ja signalisirt. Man kennt Ihrer Beiden Kleidung; Sie müssen die Gewänder wechseln, das ist vor Allem nothwendig.

– Aber wir haben keine anderen.

– Um Vergebung, ich habe die Verkleidungen mitgebracht. In dem Lande, wo wir leben, ist die Kleidung einer Frauensperson genügend, um deren zwei zu bekleiden.

Er begab sich rasch in das Toilette-Zimmer und brachte von dort die Kleidungsstücke der Milchmagd hervor. Ohne viel Umstände warf er den langen Rock der verblüfften Line über.

– Wir haben es eilig, wiederholte er, ich will Sie ankleiden.

Der Rock schleppte auf dem Boden nach; der Page schob den Gürtel bis unter die Brüste hinauf und kreuzte die Bänder in der Taille. All' das war bald verborgen unter dem kleinen rosafarbenen Shawl, welchen er mitten im Rücken mit einem großen Knoten befestigte.

Der breitkrämpige Strohhut vervollständigte die Verkleidung.

– Nun ist an Ihnen die Reihe, mein Fräulein!

– Mirabelle!

– Ach, wirklich!

– Warum lächeln Sie?

Doch Giglio hatte keine Zeit, seine Unverschämtheiten zu erklären. Er ließ Mirabelle niedersitzen, hob die kurz geschnittenen Haare in die Höhe, steckte vier Haarnadeln hinein, befestigte auf dem Scheitel des Kopfes eine kleine, runde und leere Schachtel, welche die Marke eines Zuckerbäckers trug und die er auf einem Tische liegen gesehen; dann rollte er das Kopftuch von orangegelber Seide um die Schachtel.

– So, sagte er, der Chignon ist fertig und Sie selbst sind verkleidet.

– Das ist Alles?

Giglio sagte mit der Betonung einer Probiermamsell:

– Sie werden sich doch nicht ankleiden wollen, wenn Sie dieses Haus verlassen wollen, Madame. Sie würden ja Aller Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

– Ach, um Vergebung, protestirte Mirabelle, ich bin nicht aus Tryphema. Ich bin in Montpellier geboren. Ich werde meine Jacke anziehen, oder ein Kleid, wenn Sie mir eines geben können, aber nicht so ausgehen.

– Aber seit einer Viertelstunde scheint Sie das nicht zu geniren, Madame.

– Vor einem Mann in einem Zimmer gewiß nicht, auch vor fünfzehn nicht, wenn es sein müßte, aber draußen auf der Straße …

Sie wandte sich zur Mauer und sagte, die Hände vor das Gesicht legend:

– O, wie schäme ich mich!

Line trat näher:

– Willst Du meine Kleider haben? Ich kann auch nackt ausgehen. Mir macht das nichts.

– Nein, nein, sagte Giglio; man könnte die Prinzessin erkennen. Sie ist es, die verborgen werden muß und dieser Bauernhut mit diesem schweren Rock ist gerade recht. Sie möge diese Stücke behalten. Was Sie hingegen betrifft, so kennt Sie Niemand. Die Polizei hält Sie für einen jungen Mann. Wenn die Leute der Polizei Ihre Verfolgung wieder aufnehmen, so müssen Sie sie noch mehr von der Spur ablenken. Auf höheren Befehl hat wohl die Polizei die Verfolgung eingestellt, aber morgen Früh kann sich wieder Alles ändern; in der Zeit zwischen Mitternacht und Mittag stehe ich für Nichts gut. Fliehen Sie, es ist die höchste Zeit. Jede von Ihnen wird einen dieser Milcheimer in die Hand nehmen. Sie werden geräuschlos diese Herberge verlassen, aber unbefangen und ruhig. Diejenigen, die Ihnen begegnen, werden den Polizeileuten erzählen können, daß sie um neun Uhr zwei Milchmägde mit ihren Eimern gesehen haben; Eine, deren Antlitz sie nicht unterscheiden konnten und eine Zweite, welche braun, groß und nackt war. Ich traue Niemandem zu, daß er unter solcher Verkleidung die kleine, blonde Prinzessin Aline vermuthen sollte in Begleitung jenes Unbekannten, welcher verfolgt wird.

– Das ist sehr wohl erdacht, sagte Line in die Hände klatschend. Und wie gut Sie sind, mein Herr! Ich will Sie küssen, wenn mein Freundin es erlaubt.

– Nein, sagte Mirabelle lebhaft. Wir haben keine Zeit. Wir wollen rasch aufbrechen, da es sein muß.

– Noch einen Augenblick, sagte Giglio. Wohin gehen Sie in Tryphema? Wo werden Sie heute Nacht schlafen?

– Im Gasthof.

– Das wäre schön, damit Sie in sechs Stunden durch die Inspektion der Hotels Garnis angezeigt werden!

– Wir können doch nicht in ein Privathaus gehen, noch auch auf einer Bank der königlichen Gärten schlafen.

– Davon ist nicht die Rede. Sie werden in die Palast-Straße gehen, dann in die zweite Straße rechts, dann in die erste Straße links einbiegen, über einen kleinen Platz schreiten … Merken Sie sich Alldies?

– Ja, ja.

– Dann immer geradeaus bis zur Rue des Amandines gehen. Am Thor des Hauses Nr. 22 werden Sie anläuten. Es ist das Gebäude des Vereines zur Rettung verlassener Kinder. Eine ausgezeichnete Anstalt, welche minderjährige Personen beiderlei Geschlechts aufnimmt, wenn diese erklären, daß sie mit allzu großer Strenge erzogen werden.

– Und werden wir dort ruhig leben können?

– Ganz sicher. Das ist ja eben der Zweck des Vereines.

– Gibt es dort auch Knaben? fragte Mirabelle.

– Drei Abtheilungen: eine für Mädchen, eine für Knaben und eine gemischte Abtheilung. Sie werden wählen können … Man wird Sie auch fragen, ob Sie im Schlafsaale schlafen wollen, oder in einem besonderen Zimmer. Man ist in jenem Hause sehr entgegenkommend.

– Aber wenn sie unsere Namen und unsere Adresse erfahren wollen?

– Sie werden diese Angaben verweigern. Die Verwaltung jener Anstalt ist daran gewöhnt, daß die Kinder nicht sagen wollen, woher sie kommen, aus Furcht, daß man sie ihrer Familie zurückstellt. Ich kenne diese guten Greise; sie werden Alles aufbieten, was sie können, um Sie zu schützen, selbst wenn sie entdecken, wer Sie sind. Merken Sie sich wohl die Nummer: Rue des Amandines 22. Und nun fort, fort, rasch, rasch!

Sie verließen in aller Eile den Gasthof, Mirabelle, nachdem sie dem Pagen die Hand gedrückt, und Line, indem sie ihm über die Schulter einen Abschiedsblick zuwarf, in welchem sich nicht blos Dankbarkeit ausdrückte.

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