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Fünfunddreißigstes Kapitel

Sie lebten einige Tage in völligem Frieden, und er war stolz darauf, daß die aufreibenden Gedanken um Fran ihn verlassen hatten. Einen ganzen Vormittag verbrachten sie damit, eine Entdeckungsreise auf der Anhöhe über Posillipo zu machen; sie fanden Ruinen von der Villa eines römischen Kaisers mit dem Karpfenteich, in den er seine Sklaven als gutes Fischfutter zu werfen pflegte, und kamen zu dem Mausoleum, das, wie die Geschichte behauptet, das Grab Virgils, oder eines anderen, ist. Sie gingen müde auf der langen Straße, die ein Durcheinander von Kindern und Karren war, nach Hause und ließen sich in dem kühlen Salon seufzend in ihre Stühle fallen.

» Colazione, Teresa«, rief er, und dann sagte er: »Merkwürdig, Edith, aber dieses Haus, das Sie gemietet haben, und das einem Italiener gehört, den ich bis vor wenigen Tagen gar nicht gekannt habe, ist das erste, in dem ich wirklich das Gefühl habe, zu Hause zu sein. Ich wage es sogar, etwas anzuordnen!«

»Ich bin überzeugt davon, daß Ihre Frau nie ein Haustyrann sein wollte …«

Der Gärtner hatte die Post auf den Tisch gelegt, aber Sam nahm sie erst nach dem Lunch, und auch dann gleichgültig. Obenauf lag ein Brief von Fran. Er gab vor, nicht sehr geschickt, er hätte in seinem Zimmer zu tun, und las Frans Brief, als er allein war.

 

Ich habe eigentlich keine Entschuldigung für mich, wahrscheinlich war ich sehr dumm und wußte nie, was ich an Dir hatte, aber trotzdem, vielleicht ohne jedes Recht darauf, wende ich mich ziemlich verzweifelt an Dich. Kurts Mutter ist schließlich aus Österreich hergekommen. Sie war ziemlich häßlich zu mir. Sie gab zu verstehen, oh, sehr deutlich, daß es für den katholischen, überaus adeligen Kurterl ein Unheil wäre, eine Frau zu heiraten, die geschieden ist (oder es bald sein wird), die Amerikanerin ist, und zu alt, um ihm Erben zu bringen. Und sie hat mir bei allen diesen Feststellungen nichts geschenkt. Es war keine sehr hübsche Szene – ich saß rauchend in Kurts Wohnung und gab mir Mühe angenehm auszusehen, während sie Kurt anwinselte und von mir keine Notiz nahm. Und Kurt hat sich auf ihre Seite gestellt. Oh, sein süßes, kleines sentimentales Herz hat für mich geblutet, und seitdem ist er ununterbrochen ganz vernichtet und versucht auf beiden Seiten zugleich zu sein. Aber er meint, »es ist besser, wenn wir die Hochzeit vielleicht noch ein paar Jahre verschieben, bis wir sie für uns gewonnen haben.« Herrgott! Ist er ein Mann oder ein Sohn? Mir ist übel von dieser Feigheit, wo ich doch so viel riskiert habe, aber lassen wir das.

Wenn Du noch Dein olympisches Haupt beugen und der wahrscheinlich ruchlosen und keine Verzeihung verdienenden Magdalena vergeben willst, soll es mich freuen, wieder zu Dir zu kommen, auf jeden Fall habe ich die Scheidung zurückgezogen. Ich bin mir natürlich klar darüber, wenn ich das so offen und ehrlich sage, ohne jeden Versuch mich zu schützen, wie die meisten Frauen es tun würden, riskiere ich eine zweite Demütigung durch Dich, so wie die durch Kurt. Natürlich weiß ich nicht, wie weit Du Dich in Deinen etwas absonderlichen Beziehungen mit dieser Mrs. Cortright eingelassen hast, die Dir anscheinend so viel Vergnügen gemacht und Dich von meiner unangenehmen Person erlöst hat, obwohl mir wirklich ganz unbegreiflich ist, wie Du die Kommentare der überaus korrekten Italiener auf Dich nehmen kannst und ganz offen mit ihr lebst, statt alles geheim –

Ach, verzeih mir, verzeih mir, mein lieber, guter Sambo, verzeih Deinem ungezogenen Kind Fran! Das alles klingt so gemein und anmaßend, und dabei bin ich in meinem Innern ganz verzweifelt und entsetzt und verloren und kann mich nur noch an Dich halten! Ich schreibe so abscheulich und ungerecht, weil ich so elend bin, so trostlos, und ich will es nicht einmal zerreißen – ich will, daß Du weißt, wenn Du Deine schlimme Fran zurückkommen läßt, so wird sie wahrscheinlich nicht einmal so viel gelernt haben, wie sie in dieser mittelmäßigen kleinen Tragödie hätte sollen, sie wird wahrscheinlich genau so snobbistisch und anspruchsvoll sein wie früher, obwohl der liebe Himmel weiß, daß ich es nicht sein möchte. Ich habe jetzt mehr als genug von fadenscheiniger Großartigkeit und möchte nur einfach und ehrlich sein.

Ich glaube, Du wirst mir glauben, daß ich nicht bloß zurückkommen will, weil Du reich und stark bist, und Kurt arm und ehrlich. Es ist ganz einfach – Ach, Du weißt schon, was es ist! Ich wage es, mich an Dich zu wenden, weil ich weiß, daß Du mich einmal sehr geliebt hast. Und wenn es uns gelingen könnte zusammenzubleiben, so wird das nur um so besser für Brent und Emily sein – ach, ich weiß, wahrscheinlich ist es schamlos von mir, daß ich so spät davon spreche, aber es ist wahr.

Ich habe festgestellt, daß von Hamburg ein Schiff am 19. September abgeht, Cherbourg am nächsten Tag, die Deutschland, und wenn Du auf dem Dampfer zu mir kommen oder mich in Paris abholen möchtest, wäre ich – Ach Sam, wenn Du mich noch liebst, darfst Du nicht stolz sein, darfst Du nicht diese Gelegenheit ausnützen, um mich zu bestrafen, sondern mußt kommen, weil ich sonst – Ach, ich weiß nicht! Ich bin so stolz gewesen! Jetzt habe ich das Gefühl, daß die Welt mich auslacht! Ich darf mich nicht trauen aus meiner Wohnung zu gehen, das Telephon zu nehmen, wenn es klingelt, und mir das mitleidige Gelächter anzuhören, ich lasse das Mädchen an den Apparat gehen, und gewöhnlich ist es noch immer Kurt, aber ich werde ihn nie wiedersehen, niemals, er redet davon, daß er sich umbringen will, aber er wird es nicht tun – seine Mamma würde es nicht erlauben!

Sei so gut und ruf mich von Neapel an, sobald Du diesen Brief hast.

Wenn Du Dich entschließt zu kommen, so wird das hoffentlich nicht Mrs. Cortright Unannehmlichkeiten machen, an die ich eine so angenehme Erinnerung aus Venedig habe, bitte, grüße sie von mir. Aber ich hoffe sehr, daß mein Hilferuf Dir etwas wichtiger ist, sogar als Deine gesellschaftliche Pflicht gegen diese zweifellos sehr entzückende Dame, die sicherlich viel weniger belästigend ist als ich.

 

Dann änderte ihre Handschrift sich ganz; er merkte, daß der Rest des Briefes viele Stunden später geschrieben war.

 

Ach, Sam, ich brauche Dich so, habe ich schon einmal daran gedacht Dir zu sagen, daß ich Dich anbete?

Deine beschämte und elende kleine Fran.

 

Er lief in den Salon und brummte: »Ich muß nach Neapel hinunter. Ich komme vielleicht zu spät zum Tee. Warten Sie nicht auf mich.«

»Was ist denn?«

»Ach, nichts.«

Er floh vor ihr.

Während der ganzen Fahrt in der Straßenbahn fragte er sich ununterbrochen, ob er Fran wiederhaben wollte, und ob er wirklich zu ihr fahren werde, und auf beide Fragen wußte er keine Antwort. Auf die Frage aber, ob er Edith verlassen wollte, antwortete er rasch und wütend mit nein, er mußte unglücklich daran denken, wie gut sie gewesen war, wie ehrlich, wie verständnisvoll, und er wurde gewahr, daß sich in ihm eine Leidenschaft für sie erhob, die mehr Größe hatte als der mystische Zustand der Unruhe, in den Fran ihn gelockt hatte.

Und er wollte Edith verlassen, wollte schwach genug sein, sie zu betrügen?

»Ach, wahrscheinlich«, seufzte er, als er in der American Express Company eine Stunde auf das Gespräch mit Berlin gewartet hatte.

Er glaubte Ewigkeiten zu warten.

Das Aussehen des Bureaus hatte sich seinem Gedächtnis eingeprägt, als säße er seit Jahren dort. Ein Bild von einer New York Central-Lokomotive. Bündel von Prospekten über romantisch klingende Gegenden – Burma und Bangkok und Sao Paulo – das alles würde er jetzt nicht mehr zu sehen bekommen, weil es für Fran nicht fein und elegant genug wäre.

Dann plötzlich: »Ihr Berliner Gespräch!«

 

Er hörte Frans Stimme, die Quecksilberstimme eines lebhaften Kindes:

»Ach, Sam, bist wirklich Du es? Kommst Du wirklich? Verzeihst Du der armen Fran?«

»Selbstverständlich. Ich komme auf das Schiff. Auf das Schiff. Ja, am 19., ja, selbstverständlich, wir werden alles bereden, auf Wiedersehen, mein Kind, besorge Du lieber die Billetts, wenn Du schon in Deutschland bist. Besorge die Schiffskarten, auf Wiedersehen, mein Kind, ich telegraphiere Dir eine Bestätigung.«

 

Den größten Teil des Rückweges machte er zu Fuß, alt aussehend und langsam und schwitzend, unter der bevorstehenden Szene mit Edith leidend. Sie würde sehr höflich sein, aber überrascht, und ihn verachten, weil er in die Knechtschaft Frans zurückkehrte.

Einige Minuten nach sechs schlich er sich ins Zimmer.

Sie las an dem großen Fenster im Salon. Sie sah auf und fragte: »Was ist? Was ist geschehen?«

»Ja –«

Er stand am Fenster, schnitt einer Zigarre umständlich die Spitze ab, zündete sie noch umständlicher an und sah an Edith vorbei, als er brummte: »Frans Freund, dieser Graf Obersdorf hat sie sitzen lassen. Seine Mutter hat gemeint, sie wäre sozusagen deklassiert – Scheidung und so weiter. Das arme Kind, das muß schlimm für sie gewesen sein. Sie hat den Gedanken auf Scheidung aufgegeben und fährt nach Hause. Sie wird ein bißchen – Ach, man redet immer zu viel, glaube ich. Ich werde wohl leider mit ihr kommen müssen. Ja, ich muß sehen, daß ich heute abend mit dem Nachtzug nach Rom fahre … Ich wollte, ich könnte Ihnen sagen, was Sie alles –«

»Sam!«

Sie war aufgesprungen. Ihn verblüffte der Zorn, der in ihren sonst so stillen Augen stand.

»Ich werde Sie nicht zu dieser Frau zurückgehen lassen! Und ich werde nicht zusehen, wie ihr süßer, heiterer, überaus manierlicher, gottsverdammter Egoismus Sie umbringt – ja, umbringt! Sie kann an nichts anderes denken, als was sie aus aller Welt herausholen kann! Die Welt bietet Ihnen Sonne und Wind, Fran bietet Ihnen den Tod, Angst und Tod! Ach, ich habe gesehen, wie Sie in fünf Minuten um fünf Jahre gealtert sind, wenn Sie einen von den Jammerbriefen gelesen haben! Und Sie werden ihr nicht einmal helfen. Sie werden sie nur in ihrer Überzeugung bestärken, daß sie alles Egoistische und Grausame tun kann, was sie will, ohne daß es ihr etwas schadet. Denken Sie an Peking und Cairo! Nein, denken Sie an die Farm, die Sie in Michigan unter den Fichten haben könnten! Denken Sie daran, wie natürlich und zufrieden Sie dort wären – oder ja, wir wären –«

»Ich weiß, Edith; ich weiß das alles. Ich kann bloß nicht anders. Sie ist mein Kind. Ich muß auf sie Acht geben.«

»Ja. Gut.«

Die Leidenschaft erlosch nicht allmählich in ihren Augen, sie war ganz einfach nicht mehr da, wie wenn man eine Lampe ausgeschaltet hätte, und sie sagte verdrossen: »Verzeihen Sie. Ich war zudringlich. Lassen Sie mich wenigstens beim Packen helfen.«

Während des Packens, des Essens und des fürchterlichen Wartens nachher, als er nicht zwei manierliche Worte finden konnte, sprach sie ein wenig abgerissen und war sehr höflich. Sie stellte Fragen nach Zenith. Sie hoffte, sie würde eines Tages »ihn und Mrs. Dodsworth« sehen können. Nur einmal hörte sie auf, steif zu sein, und rief: »Es ist wirklich nicht viel zu sagen! Aber ich möchte, daß Sie wissen: Sie haben mir eine neue Sicherheit gegeben, weil ich glauben konnte, daß Sie mich gern haben.«

Als er sich abmühte, ihr mit schönen Komplimenten zu antworten, lief sie in die Küche hinaus.

Das Kommen der Autodroschke erlöste ihn davon, noch eine Ewigkeit tot in einem Grab zu sitzen. Als die Dienstboten sein Gepäck hinaustrugen, nahm er ihre Hand und streichelte sie.

»Alles fertig, Signore«, sagte das Mädchen. Sie nahm das sehr erwartete Trinkgeld und verschwand mit einem: »Kommen Sie bald wieder«, das aufrichtig klang.

In der Dämmerung vor dem baumbeschatteten Eingang drückte er Edith scheu die Hand, aber während er damit kämpfte, etwas Angenehmes zu sagen, rief sie:

»Jetzt ist es zu spät. Aber ich habe gemeint, eines Tages – Ich habe gemeint, es würde mir leicht werden zu sprechen, ich wollte Ihnen alles Mögliche von meinem Denken und Fühlen sagen. Daß es schön gewesen ist, mit Ihnen zusammenzusein, daß Sie größer sind, als Sie glauben, und nicht kleiner, wie Berühmtheiten. Daß Sie mich so weit gebracht haben, daß ich bereit war, meine Angst vor der Welt aufzugeben und wieder Mut zu fassen. Ich habe gefühlt –« Sie faßte seinen rauhen Ärmel an. »Dieses sonderbare Gefühl, immer war es eine Überraschung, wenn ich mit Ihnen zusammen war, dieses Gefühl: ›Ach, Du bist es!‹ Das Gefühl, daß Sie ganz anders sind als alle andern Menschen – nicht unbedingt besser oder schöner aber – ach, anders! Ich sollte eigentlich nichts davon sagen, aber ich möchte, bevor es ganz zu spät ist – zu spät! – rücksichtslos sein. Aber ich kann Ihnen nichts von alledem sagen, was ich gedacht habe. Alles Gute, Sie Lieber! Und Gott möge Ihnen durch die Schlechtigkeit dieses Happy-ends hindurchhelfen!«

Er küßte sie lange und stolperte auf die Straße zu seiner Droschke. Er blickte zurück. Es sah aus, als wollte sie zu ihm laufen, dann schloß die Tür sich rasch. Durch ein Fenster hörte er ihre Stimme müde und seelenlos: »Nur ein Frühstück, Teresa.«

Er war allein mit einem gähnenden Droschkenchauffeur, und vom Golf, der im leuchtenden Dunkel des Südens lag, kam ein Luftzug herauf.


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