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Zwölftes Kapitel

Sam war inmitten des Tumults einer Automobilausstellung in Detroit ruhig geblieben; im Gedränge eines New Yorker Silvesterabends am Broadway hatte er die heiteren jungen Leute mit den Kindertrompeten und Kitzelfedern bloß gelassen abgestreift; aber im Zollraum von Calais war er entsetzt. Die Träger schrien wilde, unverständliche Worte, während sie, wandernde Gepäckberge, sich vorüberschoben; die Passagiere drängten sich vor der niedrigen Gepäckplattform; die Zollinspektoren schienen Sam kalte, feindselige Menschen zu sein; alles zusammen heulte und blökte und quiekte in einem Idiom, das überhaupt nicht wie eine Sprache auf ihn wirkte; und es fiel ihm ein, daß er in der kleineren Tasche vierhundert Zigaretten hatte.

Ihr Träger hatte, als er auf dem Dampfer das Gepäck holte, etwas gerufen – Fran meinte, es heiße, daß er Nummer zweiundneunzig habe. Dann war Nummer zweiundneunzig voll Bosheit mit ihren Besitztümern verschwunden. Sam wußte, daß alles in Ordnung war, aber er glaubte es nicht. Er sagte sich, daß ein französischer Träger wohl ebensowenig Gepäck stehlen werde wie eine der Rotmützen im Grand Central – nur, er war ziemlich sicher, daß Nummer zweiundneunzig es gestohlen hatte. Selbstverständlich konnte er alles außer Frans Schmuck ohne allzu große Kosten ersetzen, aber – Verflucht, seine alten roten Pantoffel hätte er nicht gern verloren –

Er war fast enttäuscht, als er im Zollraum neben sich Nummer zweiundneunzig erblickte, freundlich lächelnd, rücksichtslos die Passagiere zur Seite schiebend, um das Gepäck zur Untersuchung auf die Plattform zu setzen.

Sam war stolz auf Frans Französisch (aus Stratford in Connecticut), als der Inspektor etwas völlig Unverständliches sagte und sie antworten konnte. Sie kam ihm überaus gelehrt vor, er hatte das Gefühl, ganz ungebildet und bäurisch zu sein, und verließ sich voll Bewunderung auf sie. Und dann öffnete er die kleinere Tasche, und der Inspektor entdeckte die vierhundert Zigaretten.

Der Inspektor sah überrascht aus, er schnappte nach Luft, er breitete die Arme aus und protestierte im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Fran versuchte zu antworten, aber ihr Französisch ließ sie im Stich, hilflos wandte sie sich an Sam und klagte: »Ich kann nicht verstehen, was er sagt! Er – er spricht Patois!«

Auf diesen Hilferuf wurde Sam mit einemmal tüchtig, bereit, dem ganzen europäischen Kontinent, mit allen Polizisten, Gesetzen, Gerichtshöfen und Zuchthäusern, die dazu gehörten, die Stirn zu bieten.

»Ja. Ich werde jemand holen!« sagte er ihr beruhigend, und dem Zollinspektor, der jetzt eine längere Rede hielt, rief er nur zu: »Augenblick! Fallen Sie bloß nicht aus dem Hemde!«

Er dachte daran, den englischen Vikar, den er auf dem Kanalboot gesehen hatte, zu suchen. »Er scheint europäische Sprachen zu können.« Er schob sich durch die Menge und sah plötzlich auf einer Mütze die dreifach goldenen Worte: »American Express Company«. Der Mann von der American Express lächelte und sprang eifrig vor, als er den Ton hörte, in dem Mr. Sam Dodsworth von der Revelation Motor Company fragte: »Können Sie etwas für mich verdolmetschen?« … Sam hatte das Gefühl, daß er für einen Augenblick Mr. Samuel Dodsworth war, und nicht Fran Dodsworths Gatte … Und für nicht ganz einen Augenblick gestand er sich, daß er vielleicht der anmaßende Yankee von Mark Twain und Booth Tarkington sei. Und es gelang ihm nicht ganz, das zu bedauern.

Der Mann von der American Express brachte sie zu dem wartenden Zug (der Sam sehr düster und hoch und dunkelgrau vorkam); er verhinderte Sam daran, dem Träger so viel zu geben, daß dieser sich ein Geschäft hätte dafür aufmachen können. Und dann saßen Sam und Fran allein in einem Coupé, bis Paris wieder in Sicherheit.

Sam lachte: »Hör mal, ich glaube, zwei Sätze werde ich französisch lernen müssen: ›Wieviel?‹ und ›Geh zum Teufel‹. Aber – Wunderbar! Wir sind in Frankreich – in Europa!«

Sie lächelte ihn an. Hand in Hand saßen sie da, sie waren so glücklich und einander so nahe, wie fast noch kein einziges Mal seit dem Tag ihrer Abreise aus Amerika. Alles machte ihnen Freude: die Batterie der roten und goldenen Flaschen auf ihrem Tisch beim Lunch, die Gewandtheit, mit der der Kellner den Kegel der Eisbombe in Scheiben teilte, die rätselhafte Witwe, die den rätselhaften Franzosen mit karriertem Anzug, roter Kravatte und eckigem schwarzen Bart zu angeln suchte – einem Bart, murmelte Fran, dessen Anblick es lohne, den Atlantic überquert zu haben.

 

Das »Ausländische« der Menschenparade, die an dem Fenster ihres Coupés vorübereilte – Frauen auf Ochsenkarren, kleine Städte mit Trottoircafés und schauerlichen gelb und rot gestreiften Häusern – war ebenso aufregend für ihn wie der Mangel alles »Ausländischen« am Lande selbst. Irgendwie war es nicht ganz recht, daß in Frankreich Bäume und Gras kein anderes Grün, die Erde kein anderes Braun und der Himmel kein anderes Blau haben sollte als in einem natürlichen und normalen Land wie Amerika. Nach den kleinen eingezäunten Feldern Englands schienen ihm die weiten Ebenen der Picardie, die schon grünten, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Prärien von Illinois und Iowa zu haben. Es war wohl ein wenig enttäuschend, nicht ganz anständig, nachdem er eine so weite und teuere Reise gemacht hatte, aber andererseits fand er eine gewisse Befriedigung in jenem Wiedererkennen, das eines der naivsten und egoistischesten menschlichen Vergnügen ist, jenem Gefühl, was man sieht, auch zu verstehen. Er war ebenso befriedigt wie ein Hintergassenniemand, der in seiner Zeitung den Namen eines Bekannten sieht.

Er war es gewohnt gewesen, amerikanische Ortschaften »abzuschätzen«; er konnte in Kalamazoo oder Titus Center aus seinem Pullmanfenster schauen und die Bevölkerung bis auf zehn Prozent genau erraten. Er konnte es, und tat es auch häufig; Zahlen aller Art bezauberten ihn, und zwanzig Jahre lang hatte er Fran davon zu überzeugen gesucht, daß es durchaus nichts Unvornehmes sei, Bevölkerungsziffern, Flächenmaße, Neigungswinkel oder die durchschnittliche Lebensdauer von Reifen im Kopf behalten zu können. Er war imstande gewesen, die Größe britischer Ortschaften ziemlich gut abzuschätzen; in England hatte ihn nichts allzusehr aus der Fassung bringen können, als er einmal seine Verblüffung überwunden hatte, Briefträger mit komischen Hüten und Autodroschken mit nicht mehr als durchschnittlicher Geschwindigkeit zu sehen. In Paris aber, als sie von der Gare du Nord zu ihrem Hotel fuhren, konnte er nicht ganz begreifen, was das eigentlich war, was er da sah.

Fran war durchaus nicht so benommen. Sie stellte sich im Wagen halb auf und rief: »Sieh doch, Sam, sieh! Wunderbar! Herrlich! Ist das nett! Und Cointreau-Plakate, nicht Kaugummi! Diese hohen weißen Häuser! Alle Leute sind so laut, aber dabei ganz vergnügt! Ach, ich finde es herrlich!«

Aber für Sam war es ein von einem Irrenhaus gedrehter Film, es war ein Erdbeben mit Vulkaneruption und Telefongeklingel kurz nach dem Einschlafen, es war Blitz und Donner und Extraausgaben und Dampfpfeifen und Krieg.

Ihre Droschke vermied knapp einen Zusammenstoß mit einem Omnibus. Ein lächerlich kleiner Polizist mit einem lächerlichen weißen Knüppel. Zwei Priester, in einem Café Bier trinkend. Überall Silbergrau an Stelle des Londoner Goldbrauns. Zwei überaus nackte Stuckdamen, die einen fünfstöckigen Balkon trugen. Stapel von billigen Teppichen vor einem Laden, und daneben ein Franzose, der ganz zufrieden mit seinem kleinen Geschäft aussah, statt das Warenhaus gegenüber zu beneiden und sich schuldig zu fühlen, wie er es in New York, Chicago oder Zenith getan hätte. Fische, Brot, Bärte, Branntwein, Artischocken, Äpfel, Radierungen, Fische. Ein scheußliches Hintergäßchen. Ein wunderbar geschwungener Boulevard. Blechrotunden, deren Zweck er nicht zu ahnen wagte, und die ihm einen unerhörten, neuen Begriff von lateinischen Sitten und den anscheinend respektablen bärtigen Herren gaben, die darauf zueilten. Viele Bücher, in dünn aussehendes gelbes Papier gebunden. Ein unaufhörliches, an den Nerven zupfendes, aufreizendes, munteres Kreischen kleiner Automobilhörner. Gebäude, die so glatt waren, daß sie höher aussahen als zehnmal so hohe amerikanische Wolkenkratzer. Eine entzückend kleine schmierige Hausfassade, bei der man an die französische Revolution und toll gewordene Weiber mit roten Mützen und Unterröcken denken mußte. Ein wirklicher Künstler (so meinte Sam), ein Geschöpf mit rotem Bart, breitkrämpigem schwarzen Hut und Pelerine, eine in zerknittertes Papier gepackte Mappe unter dem Arm. Klatschende Weiber, lachend, schimpfend, verzeihend, lachend. Herrliche öffentliche Gebäude, die fest aussahen wie der Felsen von Gibraltar. Ein knapp vermiedener Zusammenstoß mit einer anderen Taxe, und das höchst bewundernswerte Gefluche der beiden Chauffeure –

»Das ist mal eine Stadt mit Leben. Aber nicht gerade viel Verkehrsregelung, scheint mir«, sagte Samuel Dodsworth, und seine Stimme klang besonders tief und feierlich, weil er besonders verwirrt und verschüchtert war.

Im Grand Hôtel des Deux Hémisphères et Dijon war er jedoch wieder in der Lage, die angenehme Überlegenheit zu zeigen, mit der er (wie er hoffte) im Zoll von Calais auf Fran hatte Eindruck machen können. Der Manager des Hotels sprach ausgezeichnet Englisch, und solange sein Gegner so anständig war, eine verständliche Sprache zu reden, geriet Sam nie in Verlegenheit.

In Zenith hatte Lucile McKelvey Fran erzählt, das Hémisphères wäre »so ein nettes ruhiges Hotel«, und Sam hatte von London aus Zimmer bestellt. Wäre er allein gewesen, so hätte er bestimmt bescheiden jedes Zimmer genommen, das man ihm anwies. Aber Fran bestand darauf, sich das Appartement anzusehen, und es stellte sich heraus, daß es feucht und dumpfig war und auf einen sonnenlosen Hof ging.

»Das wird nicht gehen!« sagte Fran. »Haben Sie nichts Anständiges?«

Der Manager, ein Originalfranzose aus Rumänien via Algiers, musterte sie mit jener Verachtung, jener unvergleichlichen, lähmenden Verachtung, welche Manager für Fremde haben, die zum erstenmal nach Paris kommen.

»Wir sind ganz besetzt«, schnauzte er.

»Sie haben gar nichts anderes?«

»Nein, Madame.«

Das waren die Worte, aber der Ton war: »Nein, ihr Ausländerpack – ihr habt überhaupt Schwein, daß man euch hereinläßt – ich weiß nicht einmal, ob ihr wirklich verheiratet seid – na, das will ich übersehen, aber Yankee-Unverschämtheiten werde ich mir nicht gefallen lassen!«

Sogar die erhabene Fran war eingeschüchtert und sagte nur: »Also, es gefällt mir nicht –«

Und dann kam Samuel Dodsworth wieder. Seine Kenntnis von Pariser Hotels und ihren Managern war beschränkt, aber seine Kenntnis von unverschämten Angestellten um so größer.

»Unsinn«, sagte er. »Das hat keinen Zweck. Es gefällt uns nicht. Wir werden wo anders suchen.«

»Aber Monsieur haben dieses Appartement bestellt!«

Der internationale Mann und der Provinziale sahen einander wütend an, und der Manager war es, der die Augen senkte, der verlegen aussah, als Sams Hände sich ballten, als höchst unheiliger Zorn ihn packte.

»Passen Sie auf! Sie wissen recht gut, daß das ein Dreckloch ist! Wollen Sie den Direktor holen lassen – den Boss, oder wie sie ihn nennen?«

Der Manager zuckte die Achseln und ging eiligst fort.

Ziemlich still schritt Sam neben Fran zum Wagen zurück. Er ließ das Gepäck wieder aufladen und gab allen, die er aus dem Hotel herauslocken konnte, schauderhaft hohe Trinkgelder.

»Grand Universel!« rief er dem Chauffeur zu, und der schien sein Französisch zu verstehen.

Im Wagen knurrte er: »Ich hab dir ja gesagt, ich muß lernen was ›Geh zum Teufel‹ auf französisch heißt.«

Schweigen; dann meinte er: »Ich bin froh, daß wir von da fort sind. Aber den armen Teufel habe ich eingeschüchtert. Das war nicht anständig! Es tut mir wirklich leid. Ich bin dreimal so groß wie er. Einem Kind die Schokolade wegnehmen! Sehr unanständig! Ich kann ganz gut verstehen, warum man sich über Amerikaner wie mich ärgert. Entschuldige, Fran.«

»Ich bete dich an!« sagte sie, und er sah sanft erstaunt aus.

Im Grand Universel in der Rue de Rivoli bekamen sie ein angenehmes Appartement mit der Aussicht auf die Tuilerien, und während des Auspackens lief Fran zwanzigmal in einer Stunde an das Fenster, um sich über Paris, den Casonova der Städte, zu freuen.

 

Der Salon kam ihm sehr zierlich und weibisch vor mit dem gelben Brokat an den Wänden, den gebrechlichen Stühlen, die mit einem silbern und zitronenfarben gestreiften Stoff bezogen waren. Sogar der ein wenig schwere eingelegte Schreibtisch hatte etwas Frivoles, und der Kamin war aus rosa Marmor. Er hatte das Gefühl, es sei ein leichtfertiges Zimmer, ein Raum zum Sündigen in Abendkleidern. Ganz Paris ist so, dachte er.

Dann trat er auf den Balkon mit dem Eisengitter hinaus und blickte nach rechts zur Place de la Concorde und dem Anfang der Champs Elysées mit der Deputiertenkammer am anderen Seineufer. Er wurde plötzlich ruhig und gewahrte ein anderes Paris, würdevoll, erhaben, voll alter Erinnerungen, trotz allem Lärm an der Oberfläche im Herzen ewig still.

Unter dem Quäken der Automobilhörner hörte er das dumpfe Dröhnen der Munitionskarren, er hörte die Trompeten Napoleons, der Europa den kleinen Fürsten aus den Händen gerissen hatte, er hörte, ohne recht zu wissen, daß er sie hörte, die Kanonen des Kaisers, der ein Revolutionär war. Er hörte Dinge, die Samuel Dodsworth unbekannt waren und nie ganz begreiflich werden konnten.

»Fran, ich glaube, diese Stadt ist schon lange hier«, sagte er langsam. »Diese Stadt weiß sehr viel«, meinte Samuel Dodsworth aus Zenith. »Ja, sie weiß sehr viel.«

Und ein wenig traurig: »Ich wollte, ich wüßte auch so viel!«

 

Es gibt viele Städte Paris, die miteinander so wenig zu tun haben wie Lyon mit Monte Carlo, wie Back Bay mit den Weizenfeldern Dakotas. Es gibt das Touristenparis: ein Dutzend Hotels, ein Dutzend Bars und Restaurants, mehr amerikanisch als französisch; drei schmutzige Revuen; drei Bahnhöfe; das Café de la Paix; der Eiffelturm; der Arc de Triomphe; der Louvre; Geschäfte mit Kleidern, Parfüms, Schlangenhautschuhen und Seidenpyjamas; die bedauernswerten Manieren der Pariser Taxichauffeure und die Tanzlokale auf dem Montmartre, wo dicke amerikanische Wäscheeinkäufer mit roten Schädeln sich mit gepantschtem, aber maßlos teurem Champagner betrinken, um spitzige Papierhüte aufzusetzen, Konfetti zu werfen, sich für Liebeshelden zu halten und überhaupt ihr unseliges Los zu vergessen.

Das Studentenparis um die Sorbonne herum, überaus bebrillt und gelassen. Das falsche Künstlerparis, höchst literarisch und betrunken und voller Theorien. Das echte Künstlerparis, verborgen und arbeitsam und schweigsam. Das Kosmopolitenparis, das im Bois frühstückt, im Ritz Tee trinkt und die Gesellschaftsnachrichten liest, um zu erfahren, wer mit einer Fürstin im Ciro gespeist hat – kurz, ein Paris, dessen Hauptfreude darin besteht, sich den Touristen überlegen zu fühlen.

Es soll auch ein Paris geben, das ausschließlich von drei Millionen Franzosen bewohnt ist.

Es heißt, in diesem unbekannten Paris leben Buchhalter, Elektriker, Geschäftsleute, Journalisten, Großväter, Krämer, Hunde und andere Lebewesen, die ebenso unromantisch sind wie die Leute daheim.

Alle außer diesem letzten Paris bestehen zum weitaus größten Teil aus Amerikanern.

Paris ist eine der größten und entschieden die angenehmste aller modernen amerikanischen Städte. Es ist eine Stadt der Freuden, und ihre Hauptfreude sind ihre Eifersüchteleien. Jeder Bewohner wetteifert mit allen anderen in der Kenntnis des Französischen, der Museen, des Weines und der Restaurants.

Die verschiedenen Kasten, deren jede für die Kaste unter sich nichts als Verachtung hat, haben folgende Rangordnung: Amerikaner, die tatsächlich seit Jahren in Paris ansässig sind und durch Heirat mit dem französischen Adel verbunden sind. Amerikaner, die lange ansässig sind, aber mit dem Adel keine Verbindung haben. Amerikaner, die ein Jahr in Paris sind – die drei Monate da sind – zwei Wochen – drei Tage – einen halben Tag – soeben angekommen. Der Amerikaner, der seit drei Tagen da ist, blickt auf den Halbtagstouristen ebenso herab, wie der amerikanische Einwohner mit vornehmen französischen Verwandten auf den armen Teufel, der seit Jahren in Paris lebt, aber lediglich aus geschäftlichen Gründen hier ist.

Und der Gesprächsstoff aller ist ausnahmslos: Devisenkurse.

Und alle sind sehr ähnlich und haben meistens Heimweh.

Sie bleiben dabei, daß sie in Amerika nicht leben können, aber mit Ausnahme eines Zehntels von ihnen, das sich in Europa wirklich aklimatisiert hat, hungert es sie so sehr nach amerikanischen Nachrichten, daß sie ihre heimische Zeitung beziehen, aus Keokuk oder New York oder Pottsville, und der große Tag jeder Woche ist der Tag mit der amerikanischen Post, auf die sie sich stürzen, um dann begeistert zu rufen: »Nanu, Muttchen, was sagst du dazu! Die Lincolnschule soll eine neue Heizanlage bekommen!« Sie wissen ebenso gut wie Schwester Lisa daheim, wann die Verlängerung der Washington Avenue fertig sein soll. Sie mögen des Eindrucks wegen täglich einen Blick in den Matin oder in das Journal werfen, aber die Pariser Ausgaben des New York Herald und der Chicago Tribune lesen sie feierlich Wort für Wort. Von den Artikeln auf der ersten Seite – »Ausschuß zur Untersuchung der Wahlunkosten« und »Geplante Einrichtung einer Transatlantischen Flugzeugverbindung« bis zu den »Nachrichten über Amerikaner in Europa« mit den Meldungen, daß Mrs. Witney T. Auerenstein aus Scranton Herrn Geheimrat Bopp und Frau im Bristol zum Dinner empfangen habe, und daß Mrs. Mary Minks Meeton, Schriftstellerin und Vortragende, im Hôtel Pédauque abgestiegen sei.

Jede dieser Kasten hat ihre Unterabteilung, je nachdem was man vorzieht, vornehme Gesellschaft oder Gesellschaft, die so erhaben ist, daß sie nicht vornehm zu sein braucht, Gesellschaft mit Vorliebe für Kneipen und ernsthaftes Trinken, die Gesellschaft der geschäftlichen Exploitierung, oder die allerwichtigste Gesellschaft, die des einfachen Nichtstuns. Glücklich ist, wer einer dieser Cliquen ganz angehören kann; er ist in der Lage, eine Schar von Miteiferern zu finden und sich, ob er nun trinkt oder Einkäufe macht oder künstlerisch tut, mit Kameraden zu umgeben, die ihm zujubeln.

Aber Sam Dodsworth war unglücklich, denn seine Frau wollte durchaus Vornehmheit und Kunst vereinen, während er selbst Geschäft und Kneipen vorzog.

In der ersten Zeit waren sie ganz allein in Paris, und so konnte Sam Fran, obwohl sie über »Besichtigungen« erhaben war, an alle Stellen bringen, die in den Führern genannt werden. Sie tanzten bei Zelli; sie bestiegen den Eiffelturm, und dabei mußte sie sich beinahe in einer Ecke übergeben; dreimal gingen sie in den Louvre; und einmal gelang es ihm, sie in die New York Bar zu bringen, wo sie Whisky Soda tranken und mit einem Unbekannten ein angeregtes Gespräch über Skilaufen führten. Sie war noch eifriger als er im Suchen neuer kleiner Restaurants – ihm wäre es recht gewesen, jeden Abend in die Lokale zu gehen, in denen er bereits der Kellner Herr geworden war und die Weinkarte kennengelernt hatte.

Und merkwürdigerweise fand er mehr Freude an Galerien und Gemäldeausstellungen als sie.

Fran hatte genug über Kunst gelesen. Sie durchflog jeden Monat die Kunstzeitschriften, sie kannte jede Galerie in der Fünften Avenue. Aber Malerei interessierte sie wie alle »Bildung« nur, wenn sie ihr gesellschaftlich zur Zier gereichen konnte. In Erzählungen, die die Mark-Twain-Tradition fortsetzen, schleift noch immer die amerikanische Frau ihren Mann in die Galerien, aus denen er davonzulaufen sucht; aber in Wirklichkeit wußte Sams Phantasie mehr als Fran mit blauem Schnee und goldenen Schultern und dynamischen Dreiecken anzufangen. Wahrscheinlich hätte er vor den Farbflecken des Impressionismus und der Jazzmathematik des Kubismus gescheut, aber der Zufall wollte, daß gerade damals ein gewisser Robinoff der Mann der Mode war, der Interieurs mit schwindsüchtigem Sonnenlicht durch Rouleauspalten malte, und seltsame, in düstere Waldlandschaften stechende Sonnenstrahlen, und diese Bilder betrachtete Sam (während Fran ungeduldig Tee trinken gehn wollte) lange und zufrieden, den Atem anhaltend, als röche er die heiße Sonne.

Frans Verhältnis zu »Besichtigungen« war stets ebenso unberechenbar wie ihre Stellungnahme zu Sams Geschäftsfreunden. Eines Tages hatte sie die Stirn, sich ganz offen mit dem Touristenabzeichen, dem roten Baedeker, sehen zu lassen, und am nächsten wollte sie nicht einmal in einem Trottoircafé mit ihm sitzen – im Napolitain oder der Closerie-des-Lilas.

»Aber warum denn nicht?« protestierte er. »Nirgends kann man sich so gut alle Welt ansehen. Alle tun es doch.«

»Feine Leute nicht.«

»Also, ich bin nicht fein!«

»Aber ich!«

»Dann solltest du so fein sein, daß dir ganz egal ist, was die Leute denken!«

»Vielleicht bin ich das auch … Aber ich lege keinen Wert darauf, in der Nähe von Touristen in Regenmänteln gesehen zu werden.«

»Gestern bist du doch in einem Café gesessen, und es hat dir Spaß gemacht. Weißt du noch, der Bettler, der gesungen hat –«

»Eben! Ich hatte genug davon! Ach, wenn du durchaus deine lieben amerikanischen Mittouristen anschmachten willst, dann geh doch! Ich gehe ins Crillon und werde einen anständigen Tee trinken.«

»Und die lieben amerikanischen Mittouristen anschmachten, die zufällig reich sind!«

»Mußt du immer mit mir streiten, weil ich tun will, was ich will? Ich halte dich nicht davon ab, auf deinem Trottoir zu sitzen. Geh nicht ins Crillon! Geh in eine deiner geliebten amerikanischen Bars, wenn du willst, und mach die Bekanntschaft aller möglichen betrunkenen Geschäftsleute –«

Sie einigten sich darauf, ins Crillon zu gehen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, daß sie es für eine Pflicht hielt, in den Augen der auserlesenen Menschen, die gar nicht wußten, daß sie existierte, für vornehm zu gelten. Er konnte verstehen, daß es ihr in Zenith eine menschliche Befriedigung bereitete, snobistischer zu sein als die Dame auf der anderen Straßenseite, daß das gute alte Spiel, dem Nachbar zu imponieren, ihr Freude machte. Es hatte ihm ein sündhaftes Vergnügen bereitet, wenn er sie besser angezogen sah als ihre liebe Freundin und gehaßte Rivalin Lucile McKelvey. »Das ist schön«, hatte er gekräht; »du warst die bestangezogene Frau im ganzen Zimmer!«

Aber was konnte es Fran bedeuten, ob ein fremder Pariser Aristokrat, der im Wagen vorüberfuhr, sie eines Tages behaglich im Café sitzen sehen und den Kopf über sie schütteln könnte.

Er leugnete nicht, daß die heitere und klassische Place des Vosges mit dem Carnavalet-Museum vielleicht vornehmer war als Pats Chicago Bar; daß Caneton pressé vielleicht eine vornehmere Speise sei als Arme Ritter im Savannah Grill. »Aber«, sagte er ärgerlich, »warum kann dir nicht beides Freude machen, solange es dir wirklich Freude macht? Kein Mensch gibt etwas uns dafür, daß wir hier die feinen Leute spielen. Wir haben gar keine Pflichten! Zu Hause hat es vielleicht ein Gesetz dagegen gegeben, daß wir uns so amüsieren, wie wir wollen, aber hier gibt es keines!«

»Mein lieber Sam, es handelt sich darum, die Selbstachtung zu bewahren. Es ist wie mit dem Engländer, der ganz allein im Dschungel ist und sich trotzdem zum Dinner umkleidet!«

»Ja, das habe ich auch gelesen! Erstens einmal hat er es wahrscheinlich gar nicht getan, und zweitens, wenn er es getan hat, war er ein Idiot! So hab ich es mir immer vorgestellt.«

»Natürlich, du kannst nicht begreifen, was es für ihn bedeutet hat –«

»Na, wenn ihn nichts weiter davor bewahren konnte, seine Selbstachtung zu verlieren, als eine gestärkte Hemdbrust, dann hätte er meiner Meinung nach überhaupt darauf verzichten können! Wenn ich nicht in einem Flanellhemd Achtung vor mir haben kann, dann bin ich sowieso schon unten durch und –«

»Ach, du kannst eben ganz einfach nicht begreifen!«

 

In Zenith hatten sie nie viel Zeit zu häuslichem Zank und Streit gehabt. Den ganzen Tag über war er im Bureau gewesen; die meisten Abende hatten sie mit anderen Leuten zusammen verbracht, die Sonntage mit Golf und Familie. Jetzt hatten sie reichlich Zeit, zum Streiten ebenso wie zum Glücklich- und Vergnügtsein. Eines Tages hatten sie eine böse Auseinandersetzung – endlos, weil sie nicht über etwas Bestimmtes stritten, sondern über die Unterschiede ihrer Lebensphilosophien, und am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg, um den Wald von Fontainebleau zu erforschen (manchmal war sie sogar primitiv genug, ihn Sandwiches in der Tasche mitnehmen zu lassen) und lachend wanderten sie zwischen den Bäumen umher.

Er lernte sie kennen, und, manchmal, ein wenig, sich selbst.

 

Von Franzosen sah er außer dem Hotelpersonal, Kellnern, Geschäftsleuten nicht viel, aber was er von ihnen sah, was er von der Oberfläche des französischen Lebens sah, verwirrte ihn. Viele Reisende, die in der gleichen Lage sind, lassen ihre Verständnislosigkeit in Verärgerung übergehen und verdammen die ganze Nation als minderwertig und verrückt. Aber in Sam lebte ein verbissener Wille, jede Situation, in die er kam, zu bemeistern. Neuheiten, Streitereien, dem Sammeln merkwürdiger Menschen, und fast auch dem Reisen, konnte er nicht viel abgewinnen, aber sowie er einmal vor etwas Fremdes gestellt war, wollte er es verstehen, und wenn ihm das nicht gelang, hatte er etwas Demütiges, gestand er sich offen und entschlossen seine eigene Unwissenheit ein.

Und diese Franzosen konnte er nicht verstehen.

Er beobachtete sie in Cafés, im Theater, in Geschäften, in den Zügen nach Tours und Versailles. Wie kommt es nur, daß sie ganz friedlich dasitzen und Domino spielen oder schwatzen können, ohne etwas Interessanteres vor sich zu haben als ein Glas Kaffee (und warum trinken sie überhaupt den Kaffee aus Gläsern statt aus Tassen)?

Sie reden so gern und so viel. Zum Teufel, wo nehmen sie denn den Stoff her, um stundenlang reden zu können? Und wie halten sie das überhaupt aus, ohne etwas zu tun?

Warum gibt es so wenig grasbewachsene Höfe bei den Häusern? Wie ist es möglich, daß höchst ehrbare alte Paare, silberhaarige alte Männer und gebeugte kleine alte Frauen keine Scheu davor empfinden, sich des Abends in ganz gewöhnlichen kleinen Cafés sehen zu lassen, während ihre Seitenstücke in Amerika das Wirtshaus und das Café für die letzte Zufluchtsstätte der Verworfenen halten? Er sah die Franzosen freundlich in ihren Geschäften, den Kindern im Luxemburgpark zulächeln, einander anlachen, wenn sie durch die Straßen bummelten, und er kam zu der Ansicht, sie seien die gutartigsten Menschen der Welt. Er sah einen Franzosen amerikanischen Barbaren, die es wagten, sein nicht einmal halbvolles Eisenbahnkupee zu betreten, wütende Blicke zuwerfen, er hörte einen Geschäftsmann, der eben noch gelächelt hatte und überliebenswürdig gewesen war, Fran auf die fürchterlichste Weise beschimpfen, als sie behauptete, man hätte ihr zehn Centimes zu viel für Handschuhputzen abgenommen, und er kam zu der Ansicht, daß die Franzosen gemein und widerlich unhöflich seien; und daß Fran eine Vorliebe zum Zanken entwickle, die ihm ein wenig unangenehm war.

Er sah den Louvre, die Seidenstoffe in den Geschäften an der Place Vendôme, das Geschick, mit dem ihr eigenes Appartement in Grand Universel eingerichtet war, und meinte, die Franzosen hätten den besten Geschmack der Welt. Er sah die Warenhäuser mit ihren fürchterlichen Messingschaufenstern, ihren Zusammenstellungen von Fisch, Geflügel und kitschigen Farbdrucken, ihren Büfetts mit geschnitzten Holzblüten, und ihren Stühlen, deren Unbequemlichkeit nur noch von der Grellheit ihrer Bezüge übertroffen wurde; er sah in dem stolzen Parc Monceau die importierten Ruinen; er sah anscheinend intelligente Franzosen über unanständigen Ansichtskarten und den ewig gleichen Bildern nackter Mädchen in der Vie Parisienne und im Rire kichern, und er meinte, die Franzosen hätten überhaupt keinen Geschmack.

Doch hinter allen diesen Meinungen stand die Meinung, daß Sam Dodsworth von diesen fremden Gewohnheiten stets nur entsetzt sein könnte, während Fran sie vielleicht mit so viel Eifer annehmen würde, daß es mit ihrer Kameradschaft für immer vorbei wäre.


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