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Thomas J. Pearson und Samuel Dodsworth waren immer zu gut bekannt miteinander gewesen, um einander zu kennen. Von ihrer Kindheit an waren sie zusammen. Jeder war dem andern eine Gewohnheit. Tub hatte die Gewohnheit gehabt, einmal in der Woche zu Sam Poker spielen zu gehen, Sam die Gewohnheit, sich jeden Dienstag oder Mittwoch telephonisch mit ihm zum Lunch zu verabreden. Sie untersuchten oder betrachteten einander als Individuen ebenso wenig, wie man sich mit den Eigenschaften seiner einzelnen Zehen abgibt, so lange sie nicht weh tun. Sogar daß Sam nach dem College während seiner Technischen-Hochschulzeit von Tub getrennt war, brachte ihnen kein Verständnis füreinander. Sie standen im Banne des Collegeglaubens, daß die Jahrgangskollegen, die man hat, die prächtigsten Burschen sind, die es gibt.
Aber während der sechs Monate, die Sam im Ausland war, hatte Tub neue Gewohnheiten angenommen. Jetzt war es das Haus Dr. Henry Hazzards, in dem Tub seine wöchentliche Dosis Poker einnahm. Sam sah, daß Tub jetzt Hazzard mindestens ebenso brauchte wie ihn, und manchmal mußte er Front gegen die beiden machen, wenn das Gespräch auf Arbeiterfragen oder die europäische Bündnispolitik kam und die beiden die albernen Ansichten äußerten, an denen Sam früher selbst festgehalten, jetzt aber zu zweifeln begonnen hatte. Er war ein wenig eifersüchtig, ein wenig kritisch. Es fiel ihm auf, daß Tub nicht ganz so vollkommen war, wie er ihn in Erinnerung gehabt hatte. Wenn Tub im Verlauf einer Pokerpartie rief: »Jetzt ist es aber Zeit, daß alle braven Leute dem Pott zu Hilfe kommen«, oder etwas ähnliches, war Sam nicht amüsiert. Und er merkte auch, daß Tub kritisch gegen ihn war. Wenn er davon sprach, daß das Pflaster der Conklin Avenue schlecht sei, oder daß der Kaffee im Landklub etwas zu wünschen übrig lasse, schimpfte Tub: »Ach Gott, sind wir Expatriierte aber schwer zufrieden zu stellen!«
Als Sam bei ihnen aß, merkte er, daß er sich öfter an Tubs gute Frau Matey wandte, als an Tub selbst.
Aber hin und wieder spielten sie zufrieden ihre neunzehn Löcher, heiter wie zwei alte Hunde auf der Kaninchenjagd. Wenn Sam sich manchmal dabei ertappte, daß er sich nach Ross Irelands dramatischen Erzählungen von Revolutionen und einsamen Tempeln sehnte, wenn Tub hin und wieder provinziell wirkte, dann war Sam überaus empört und wies sich zurecht: »Tub ist der beste Kerl auf der ganzen Welt!«
Es ist schwer zu sagen, ob es ihn mehr störte zu finden, daß er ohne Tub, oder, daß Tub ohne ihn auskommen konnte.
Nach Sams ersten begeisterten Briefen aus Europa hatte Tub geglaubt, ihn in diesem Jahr noch nicht zurückerwarten zu dürfen, und sich deshalb vorgenommen, mit Dr. Hazzard eine Auto-Golf-Tour zu machen, die einen Monat dauern sollte. Die beiden freuten sich sehr darauf. Sie wollten auf den besten Plätzen in Winnemac, Indiana, Illinois, Michigan und Ohio spielen. Sie sprachen davon, wie schön es sein würde, über neue Zusammenstellungen von Golflöchern, Gras und Rosensträuchern zu stolpern. Sie träumten von langen Schüssen über Sanddünen und gefährlichen Teichen, in denen sie Dutzende von Golfbällen verlieren würden.
Sie hatten zwar vorgehabt, die Tour allein zu machen, aber jetzt luden sie Sam ein. Er zögerte. Er kam sich überflüssig vor.
Natürlich hatten sie nicht gewußt, daß er zurückkommen würde –
Und sie hatten ihn sehr dringend gebeten mitzukommen –
Aber hätten sie denn nicht abwarten können, ob er zurückkommen würde?
Er schloß ein Kompromiß mit sich und kam auf zwei Wochen mit.
Es war ein sehr schöner Ausflug. Sie lachten und fühlten sich frei von Frauengesellschaft und unangenehmen Sekretären, erzählten sich zum hundertsten Mal alle unanständigen Witze, die sie kannten, tranken vorsichtig, fuhren rasch und bewunderten die wunderschönen Golfplätze an der Nordküste oberhalb Chicagos. Sam genoß es sehr. Aber als er die beiden verließ, glaubte er zu merken, daß es sie freute allein weiter zu fahren.
Brent – Emily – das Geschäft – jetzt Tub und Hazzard – sie alle brauchten ihn nicht.
Alles Denken über weniger naheliegende Dinge als die Befriedigung von Hunger und Sexualtrieb, das Geschäft, und die Sicherheit der eigenen Kinder ist eine Krankheit, und diese Krankheit bekam Sam jetzt. Alles wurde noch schwieriger.
Er dachte über den Alkohol nach.
Er merkte, daß die meisten Männer vom Landklub, ihn selbst nicht ausgenommen, zu viel tranken. Und sie redeten zu viel davon, daß sie zu viel tranken. Die Prohibition hatte das Trinken aus einer angenehmen, nicht überaus wichtigen Begleitung des Gesprächs zu einer Manie gemacht. Sie waren so aufgeregt dabei und so fasziniert, wie Schuljungen, die ein obszönes Bild anstarren.
Und er begann, fast ganz aufrichtig, über seine Bekannten nachzudenken.
Er gestand sich ein, daß er jetzt nicht zufrieden war mit Dr. Hazzards besten Witzen, mit Tubs authentischen Erklärungen über die Finanzverhältnisse der Zenither Firmen, nicht einmal mit Richter Turpins Geflüster über die häuslichen Geheimnisse ihrer Bekannten.
Verflucht, es waren eben doch gute Gespräche gewesen in Paris, auch wenn er sie nicht ganz verstanden hatte – Atkins' Vorträge über Maler, das seichte Geplauder von Renée de Pénables Räuberbande, und noch viel mehr die Erzählungen Ross Irelands. Er hatte von Anastasia gehört, von der behauptet wurde, sie sei die Tochter des Zaren, von dem Sinovieff-Brief, der der Labour Party in England so sehr geschadet hatte, vom Selbstmord des Kronprinzen Rudolf, von der Kaiserin Charlotte, die in melancholischem Wahnsinn durch die gespenstischen Zimmer des Schlosses Miramar wanderte, von Systemen, mit denen man in Monte Carlo gewinnen kann, von Floyd Gibbons' Plan, eine Automobil-Straße von Tierra del Fuego zum Rio Grande zu bauen, von türkischen, in Harems geborenen Frauen, die sich jetzt das Haar schneiden ließen und Biologie studierten, vom chinesischen »christlichen General« – ach, hundert Geschichten von großen Reichen und verborgenen Ländern. Und er hatte den König und die Königin von England im offenen Automobil zum Constitution Hill hinauffahren sehen, er hatte den Boxer Carpentier tanzen sehen – einen bleichen, feierlichen, unatlethisch aussehenden jungen Mann. Er hatte Briand in der Oper und Arnold Bennett im Theater gesehen.
Er hatte interessante Dinge gehört und gesehen.
Aber selbst wenn er sich bemühte, Tub, Dr. Hazzard und Richter Turpin von diesen Dingen zu berichten, hatte er das Gefühl – und nach einigen unsicheren Versuchen wußte er es – daß es sie gar nicht interessierte.
Er sah jetzt ein, daß es durchaus nicht daran lag, daß Ross Ireland sich für Königreiche interessierte, und Tub nur für Aktienkupons und Asse. Er sah langsam ein, daß keiner seiner wohlhabenden Industriellen-Freunde in Zenith sich überhaupt für etwas sehr interessierte. Sie hatten die Behutsamkeit kultiviert, bis ihnen die Kraft, sich für etwas zu interessieren, verloren ging. Sie waren wie alte sauertöpfische Bauern. Die Dinge, über die sie am meisten redeten – Geld, Golf, Trinken – bezauberten sie nicht, wie der Strich eines Malers oder Waldwinde den glotzäugigen Endicott Everett Atkins bezauberten; diese Zerstreuungen waren für die Herren Zeniths nicht Vergnügungen, sondern Mittel zum Zweck, sich genügend zu beschäftigen, um sich nicht eingestehen zu müssen, wie sehr sie sich langweilten, wie leer ihre Ziele waren. Ihre Politik war nichts weiter als eine eigensinnige Angst vor der Arbeiterklasse. (Ja, Sam konstatierte mit Unbehagen, daß das ganze Land das aufregende Spiel der Politik ein paar schmutzigen Stimmenfängern überantwortete!) Die Frauen waren ihnen nicht mehr als Bettgenossinnen, Haushälterinnen, Erzeugerinnen von Erben und ein Publikum, das nicht entrinnen konnte und ihnen zuhören mußte, wenn man im Bureau schon mehr als genug von ihren Klagen hatte. Die Künste bestanden für sie bloß aus Jazzmusik, nach der man mit jungen Mädchen tanzen kann, Bildern, die dem Haus ein reiches Aussehen verleihen, und Geschichten als Betäubungsmittel, in denen sie die Langeweile ihres Daseins vergessen konnten.
Sie taten etwas, sie hetzten und jagten, sie beaufsichtigten, sie kämpften – aber nichts interessierte sie.
So schwierig Fran auch manchmal sein mochte, dachte Sam, so albern Madame de Pénable mit ihrem falschen Haar und ihren falschen Gigolos, so aufgeblasen und gönnerhaft Mr. Endicott Everett Atkins auch war, sie ließen sich von allem im menschlichen Leben bezaubern, angefangen von ihren eigenen Liebhabereien, bis zu Suppe und Flugzeugen.
Gern wäre er einer der ihren geworden. Nur eines stand im Weg. Konnte er?
Solche Betrachtungen stellte Samuel Dodsworth an, allein auf der Veranda des Klubhauses auf die Rückkehr Tub Pearsons wartend.
Teufel, was tat er denn hier? Er war so tot, als läge er schon im Grabe. Er mußte »etwas tun« – entweder wieder arbeiten, sofort, oder zu Fran stoßen.
Welches von beiden?
Dann beschäftigte es ihn für ein oder zwei Wochen sehr, sich mit der Sanssouci-Siedlung abzugeben.
Im Norden Zeniths, zwischen den bewaldeten Hügeln über dem Chaloosa River, wurde eine jener überraschenden Vorstädte angelegt, die in Amerika seit 1910 in Erscheinung treten. Die Baumeister erhielten, so weit es möglich war, die Schönheiten von Wald und Berg und Fluß; die Straßen sollten nicht breite gerade Schnitte werden, die sich gewaltsam zwischen die Hügel drängen, sondern gewundene, freundliche Pfade … wenn man nur die Automobilisten los werden könnte. Hier, verborgen zwischen Bäumen und Gärten, entstanden überraschende Häuser – weitaus erstrebenswertere Wohnstätten als die harten, befestigten Burgen des Rheins, die großartigen und ganz und gar unbewohnbaren Museen der französischen Châteaux. Sie alle kopierten natürlich etwas – italienische Villen und spanische Patios und Tiroler Gasthöfe und Tudorgutshäuser und holländische Bauernhäuser, so vermischt und durcheinander, daß es dem Beschauer schwindelte. Sie waren so nachgemacht und so normalisiert, daß es nicht schwer wurde über sie zu lachen. Aber sie waren nicht mehr nachgemacht, als München Italien, oder Italien Griechenland nachahmt, und wie die anderen Häuser der großen amerikanischen Architektur dieser Ära waren sie wohl die behaglichsten Wohnstätten der Welt … für Menschen, die es nicht stört, wenn ihr venetianischer Balkon nicht mehr als dreißig Meter vom Schweizer Schlößchen ihres Nachbarn entfernt ist, und wenn ihnen die Wäsche des Nachbarn ein wenig in den Tee kommt, den sie auf ihrem Rasen im Garten trinken.
Als Sam durch die Sanssouci-Siedlung fuhr, war er bezaubert. Ihm gefiel die Energie, mit der die Straßen ausgehoben wurden, Häuser emporwuchsen, florentinische Steinbrunnen montiert und kleine Straßenschilder aufgestellt wurden: »Piazza Santa Lucia«, »Assisi Crescent« und »Plaza Real«.
Sam hatte wohl den etwas unklaren Eindruck, es sei etwas Lächerliches daran, Spanien, Devon, Norwegen und Algier durcheinander zu mischen und auf die sandigen Hügel einer Stadt im Mittelwesten zu verpflanzen, wo vor noch nicht langer Zeit die Indianer Kaninchen, und rotbärtige Yankees die Indianer gefangen hatten. Aber für ihn war das Ganze ein phantastisches Spiel, sehr fröhlich und vergnüglich im Gegensatz zu der feierlichen Wohlanständigkeit und den scheußlichen Mansardendächern der älteren Wohnstraßen Zeniths.
Hier wenigstens, so dachte er, war all die Farbigkeit und Regellosigkeit, die zu suchen er ins Ausland gereist war; all das Rot und Gelb und leichtsinnige Rosa, all die verrückten Fenster und Türbeschläge, die gekerbten Klinker, die gestreiften Markisen und sizilianischen Weinkrüge, und dazu (er dankte dem Himmel) alle serienweise hergestellten amerikanischen elektrischen Kühlschränke, Petroleumöfen, Staubsauger, Mülleinäscherer, Polsterstühle und eingebauten Garagen, die Sam, allem Höhnen Frans und aller Expatriierten-Bekümmertheit Mr. Atkins' zum Trotz noch immer schätzte.
Es fiel ihm ein, daß es mit der Pionierzeit der Automobilfabrikation jetzt vorüber war, daß es ihn nicht sehr danach verlangte, noch mehr Wagen auf die überfüllten Straßen zu schleudern. Häuser schaffen, vielleicht weniger lunaparkartig als diese hier – schöne Häuser, die über dreihundert Jahre dauern können, nicht nach einem Jahr zum alten Eisen geworfen werden wie Autos –
»Das wäre interessant«, meinte Sam Dodsworth, der Baumeister.
Er wußte natürlich nichts von Architektur, aber er wußte sehr viel von Technik, von Stahl und Holz und Glas, von der Organisierung einer Gesellschaft, vom Umgang mit Arbeitern.
»Und! Das ist etwas, wofür Fran sich interessieren würde! Und sie versteht auch etwas von Innendekoration und diesen Sachen … Das könnte sie hier festhalten!«
In aller Ruhe, ohne sich den Anschein eines zu großen Interesses zu geben, sorgte Sam dafür, daß er den Direktor der Sanssouci-Gesellschaft kennenlernte, und daß sie miteinander Golf spielten. Er wurde aufgefordert, die Siedlung in Gesellschaft des Direktors zu besichtigen, und dann verwandte er viel Zeit darauf, im Gelände spazieren zu gehen, mit Architekten, Zimmerleuten und Gärtnern zu sprechen. Im übrigen wartete er bloß.
Er konnte ausgezeichnet warten.
Zweimal in der Woche zogen ihn Briefe von Fran zu ihr und nach Europa. Ihr erster Brief war am Tage seiner Ankunft in Zenith gekommen:
Villa Dorée,
Vevey,
Montreux,
La Suisse.
Lieber Sam, es ist zu schön! Unten der See, auf dem nette kleine Dampfer fahren – die Spitzen des Dent du Midi – wirklich zu himmlisch – bei Sonnenuntergang sind sie wie goldene Wolken und ich bin wirklich gegangen! (War es sehr schlimm mit Fran in Paris, die immer in Nachtklubs laufen wollte, wenn du lieber spazieren gegangen wärst? Jetzt hast du deine Rache – ich sehne mich fürchterlich nach Deinem Bärengebrumm und überhaupt nach Dir, obwohl die Schönheit dieser Gegend sehr auf mich wirkt und ich eigentlich dankbar für ein bißchen Ruhe bin.) Spaziergänge durch Weingärten zu den herzigsten kleinen Häusern.
Die Villa ist reizend – nicht sehr viel Boden, aber Rasen und Rosen und eine Terrasse zum Teetrinken direkt am See. Renée de Pénable ist ebenso froh wie ich, daß wir eine Zeit lang Ruhe von allen den lärmenden jungen Tanzleuten haben. Wir haben uns beide geschworen, daß wir eine Zeit lang alte Damen mit Häubchen und Strickarbeiten sein wollen. Wahrscheinlich werden wir fromm werden und Kamillentee trinken. Ich warte immer auf Deine Briefe. Eben ist Deine Nachricht vom Dampfer gekommen, ich freue mich ja so, daß es Dir Vergnügen gemacht hat, mit Mr. Ireland zu fahren, wahrscheinlich hast Du mit ihm viel mehr Spaß gehabt, als mit so schlechter Gesellschaft wie mir – das hätte ich nicht sagen sollen, es klingt gemein, und ich freue mich wirklich ganz aufrichtig darüber, daß Du ein angenehmes Junggesellenleben gehabt hast. Schreib mir ganz bestimmt alles über Brent und Emily und McKee. Grüße Tub und Dr. Hazzard von mir. Eben hat sich eine riesengroße Möwe auf den Rasen vor dem Fenster gesetzt, an dem ich schreibe. Wir haben zwei sehr komische Mädchen – die eine sieht aus wie ein Vogel, und ich habe sie im Verdacht, daß ihre Absichten mit dem Briefträger nicht die reinsten sind, und die Köchin ist gebaut, wie ein japanischer Ringkämpfer – nur hat sie natürlich mehr an. Hoffentlich wirst Du mit Deinem Aufenthalt in Zenith zufrieden sein. Du fehlst mir sehr. Komm bald zurück und im Frühherbst wollen wir wieder zusammen auf Reisen gehen. Ich weiß, Du hast ein bißchen genug von Paris und mir liegt auch nicht viel daran vor dem Frühling wieder hinzukommen, vielleicht können wir uns ein halbes Jahr lang Ägypten, Italien usw. ansehen. Renée läßt Dich grüßen, von mir alles Gute, alter Bär!
Deine Fran
Ihre beiden nächsten Briefe waren kurz und handelten von der Landschaft und von Sorgen. Sie hatte immer Sorgen – immer. Es waren nicht sehr ernsthafte Sorgen, dachte er: Renée war böse gewesen, die Köchin war böse gewesen – Fran selbst war anscheinend nie böse gewesen. Der Ball im Hôtel des Deux Mondes war langweilig gewesen, der Regen naß, die englische Familie nebenan unhöflich, sie hatte Zahnschmerzen. Zwei dieser Briefe waren unpersönlich, fast kalt; dazwischen ein zärtlicher Ruf der Sehnsucht nach ihm, so daß er ganz verwirrt wurde und ein gut Teil seiner Stunden des Meditierens dem Wunsch widmete, sie möchte etwas weniger kompliziert sein.
Der vierte Brief hatte mehr Leben:
Du würdest es Dir ja gedacht haben, Sam! Nachdem sie geschworen hat, sie will nie wieder einen Tanzmenschen sehen überhaupt keinen Mann, der aufregender sein könnte als ein Beichtvater, hat Renée jetzt schon eine funkelnagelneue Schar von Apollos um sich (was unglückseligerweise bedeutet, mehr oder weniger um mich) versammelt. Wie sie das macht, weiß ich nicht! Irgendein netter Jüngling von sechzig Jahren ist mit seiner ehrwürdigen Mutter im Hotel hier, irgend jemand in Paris fordert ihn auf bei uns Besuch zu machen, er kommt formell zum Tee; und am nächsten Tag steht er schon wieder keuchend auf der Schwelle, mit einem Haufen Männer, von sechzehn bis achtzig, und von Rennmodellen bis zum modernen Leichenwagen. Natürlich kennt sie einfach alle – wir können nicht ins Deux Mondes einen Cocktail trinken gehen, ohne daß mindestens ein Kavalier mit einem freudigen, alkoholfeuchten Begrüßungsgeschrei auf sie losstürzt. Und so stehen und sitzen jetzt überall im Haus Faune und Bacchusse herum.
Ein englischer Jagdliebhaber namens Randall ist hier, der blaue Kragen und Hemden trägt, und ein anderer Engländer mit dem romantischen Namen Smith, ein österreichischer Baron, der, so viel ich weiß, Uhren verkauft und ein Mann, der die französische Börse gepachtet zu haben scheint, und ein reicher amerikanischer Jude namens Arnold Israel – er ist an die vierzig und sieht sehr gut aus, so schwarzhaarig, schwarzäugig, ein bißchen üppig, aber für meinen einfachen Geschmack etwas zu orientalisch, wenn er mir die Hand küßt, beißt er fast, uff! Natürlich ist es nett, wieder tanzen zu können, aber es hat mir wirklich ehrliches Vergnügen gemacht, herumzulungern und Ruhe zu haben. Sei doch so gut und überweise mir fünftausend (Dollars) an die Guaranty in Paris. Das Essen hier ist teurer als ich dachte, und ich muß mir noch ein paar Sommersachen kaufen – ich habe in Montreux ein Geschäft mit einfach entzückenden Hüten entdeckt, und obwohl es ganz schön ist, zu gehen und das liebe, nette, riechende gewöhnliche Volk auf Tramwayfahrten zu studieren, jetzt, wo Renée wieder dieses idiotische Leben begonnen hat, mußten wir eine Limousine mit Chauffeur mieten. Hoffentlich bist Du glücklich und zufrieden, mein Herz.
Fran.
Bei ihrem nächsten Brief begann er unruhig zu werden. Dieser erreichte ihn, während er mit Tub Pearson und Dr. Hazzard auf dem Ausflug war:
So ein wunderbarer blaugoldener Tag! Die Berge sehen aus, wie die Säulen des Himmels. Ein paar von uns nehmen ein Motorboot und fahren zum französischen Ufer hinüber. Arnold – Arnold Israel, ein Amerikaner hier, ich glaube, ich habe schon von ihm erzählt – hat ein wunderbares kleines Gasthaus zum Frühstücken entdeckt – so ganz romantisch mit wildem Wein und Feigenbaum. Er ist wirklich ein schrecklich netter Mensch, einer von diesen unglaublichen internationalen Juden, die alles können und alles wissen – er reitet wie ein Engel, schwimmt sieben Meilen, erzählt die komischsten Anekdoten, er weiß mehr von Malerei als der alte Atkins und mehr von Biologie und Psychologie als sechzehn College-Professoren, und ich muß sagen, er tanzt wie Maurice selbst! Und er ist Amerikaner. Es ist komisch, ich weiß, daß das Wasser auf Deine Mühle ist, aber ich muß zugeben, so sehr ich auch die Europäer bewundere, es ist wirklich nett, auch nach Renées besten, geschliffenen geistreichen Bemerkungen usw. usw. sich auszuruhen, indem man einfach und natürlich mit einem Landsmann ist – mit jemand, der es versteht, wenn man sagt: »Das muß sie aus dem Fünfzehn-Cent-Bazar haben« oder so etwas. Jetzt wo Du nicht da bist, mit Deinen netten Gewöhnlichkeiten, macht es mir wirklich Freude, wenn ich jemand sagen höre: »Ach, zum Teufel.« Dann bekomme ich beinahe Heimweh. Ach ja, ich glaube, ich bin schon richtig amerikanisch! Ich muß mich jetzt beeilen, viele, viele Grüße
F.
Zehn Tage lang kein Brief, dann zwei auf einmal:
Du wärst sehr einverstanden mit Deiner schlimmen Fran, wenn Du wüßtest, was für ein gesundes Leben sie führt. Natürlich bleibe ich manchmal bei Bällen etwas lange auf – wir haben eine schrecklich nette jüdische Familie aus Amerika hier kennengelernt, die ausgerechnet Lee heißen muß, Freunde von Arnold Israel – sie haben ein wunderbares altes Schloß abseits vom See oberhalb von Glion gemietet und geben dort die herrlichsten Gesellschaften. Aber sonst bin ich die meiste Zeit im Freien – Reiten, Schwimmen, Laufen, Autofahren, Tennis – dieser Israel hat einen fürchterlichen Schlag beim Tennisspielen. Und dann liest er Shelley vor, wie eine zwanzigjährige Studentin! Das ist ein Mann! Und zu denken, daß er im Jute- und Hanfimport ist! Allerdings hat er das Geschäft von seinem tüchtigen alten Vater geerbt und ist in der Lage, in jedem Jahr vier oder fünf Monate auf Urlaub zu gehen und sich in ganz Europa herumzutreiben.
Du lieber Gott, in dem ganzen Brief scheint ja nur von Arnold Israel die Rede zu sein! Das ist aber nur, weil ich meine, er wird Dich von allen Menschen hier am meisten interessieren. Ich brauche Dir ja nicht erst ausdrücklich zu sagen, daß wir nichts weiter sind als ganz uninteressierte Freunde. Ach, ich glaube, er würde schon sentimental werden, wenn ich das zuließe, aber ich lasse es eben nicht zu, und trotz all seinen Maharadschaherrlichkeiten ist er kollossal zart und empfindsam. Was Du von Brent und Emily sagst, daß sie jetzt wirklich erwachsen sind, und uns kaum noch brauchen, kann ich sehr gut verstehen. So sehr ich sie auch liebe und mich nach ihnen sehne, habe ich doch fast Angst davor, ich würde mir bei ihnen so alt vorkommen, und wenn Du mich jetzt sehen könntest in weißer Bluse, schamlos rotem Rock, weißen Schuhen und Strümpfen würdest Du sagen, ich bin ein Flapper, und es ist wunderschön still hier am See bei Nacht – ich schlafe fürchterlich viel und ruhe mich glänzend aus.
Deine Fran.
Lieber Sam, das ist eigentlich kein Brief, sondern nur ein P. S. zu dem gestrigen. Ich habe so ein Gefühl, als hätte ich so viel über Mr. Israel geschrieben, daß Du denken wirst, ich denke zu viel an ihn. Das ist ja das schreckliche an Briefen – man redet einfach darauf los und erweckt manchmal einen ganz falschen Eindruck. Wenn ich ihn ein paarmal erwähnt habe, so war das nur deshalb, weil die meisten anderen Leute auch wenn sie noch so gut tanzen oder schwimmen, wirklich ziemlich langweilig sind, während er nett zum Unterhalten ist, und natürlich – ich brauche es Dir ja nicht ausdrücklich zu sagen, sonst habe ich gar kein Interesse für ihn. Übrigens, Renée ist ganz verrückt nach ihm und will ihn für immer in ihre Clique haben, und da sie hier wirklich die Macherin vom Ganzen ist, sie hat die Villa gefunden usw., obwohl sie selbstverständlich nur die halbe Miete zahlt, wenn sie ihren alten Arnold haben will, kann sie von mir aus meinen Segen kriegen. In Eile,
F.
Der nächste Brief kam erst nach nahezu zwei Wochen, und als Sam sich das Glas aufsetzte, um die Marke anzusehen, stellte er fest, daß er nicht aus Vevey war, sondern aus Stresa in Italien.
Sam, etwas ganz fürchterliches ist passiert. Madame de Pénable und ich hatten einen einfach schauerlichen Krach, sie sagte Dinge, die ich einfach nicht verzeihen konnte, und ich bin von der Villa fort und hierher an den Lago Maggiore gefahren. Es ist sehr hübsch hier, aber da ich nicht weiß, ob ich bleiben werde, schreibe mir lieber c/o Guaranty, Paris. Und das Ganze war eigentlich wegen nichts.
Ich habe Dir schon von einem Mr. Israel geschrieben, den wir in Vevey kennengelernt haben und wie verrückt Renée nach ihm war. An einem Abend, es ist mir fürchterlich, das von einer Frau zu sagen, die mir doch schließlich und wenn sie auch noch so gewöhnlich und skrupellos ist, sehr viel Zeit gewidmet hat, aber ich muß wirklich sagen, sie hatte mehr getrunken als gut für sie war, und wie die Gäste gegangen waren, fuhr sie plötzlich auf mich los wie ein Fischweib und sagte einfach fürchterliche Dinge und behauptete, ich hätte eine Affäre mit Mr. Israel und stehle ihn ihr, was ebenso idiotisch wie falsch war, weil ich nämlich sagen muß daß sie ihn nie gehabt hat wie soll ich ihn ihr also gestohlen haben wenn ich überhaupt gewollt hätte! So wie sie hat noch nie in meinem Leben jemand mit mir geredet, es war einfach fürchterlich!
Natürlich habe ich mich nicht herabgelassen auf ihr Niveau hinunterzusteigen und ihr zu antworten, ich habe nur sehr höflich gesagt: »Meine liebe Madame de Pénable, ich fürchte Sie sind hysterisch und nicht ganz verantwortlich dafür, was Sie sagen, und ich möchte die ganze Angelegenheit nicht vor morgen früh weiterbesprechen.« Aber auch dann hat sie nicht aufgehört und so bin ich ganz einfach in mein Zimmer gegangen und habe die Tür versperrt und am nächsten Tag bin ich in ein Hotel gezogen und dann hierher gefahren – es ist wirklich reizend hier, die Boromäischen Inseln liegen um die berühmte Isola Bella herum, die mitten im See ist, und auf der anderen Seite, hinter dem hübschen Dorf Pallanza steigen die Berge auf, ziemlich hoch und an den Straßen, die in die Berge hinaufführen, liegen Dörfer usw. Ich bin schrecklich einsam hier und das fürchterliche Zahnweh, das ich in London hatte, kommt wieder, aber schließlich ist alles besser als mit einer keifenden ordinären Gans wie Madame de Pénable zusammen zu leben.
Es ist mir schrecklich zu beichten, und das wird Dir wohl auch eine wunderbare Gelegenheit geben über mich zu triumphieren, nur weiß ich, daß Du viel zu edelmütig bist und zu viel Verständnis für Dein schlimmes kleines Mädchen hast, um so etwas gegen sie auszunutzen, aber Du hast wirklich ganz recht gehabt mit dem, was Du gesagt oder eigentlich nur angedeutet hast, weil Du viel zu freundlich bist, um etwas Grobes ganz herauszusagen, ich meine nämlich über dieses Frauenzimmer die Pénable und ihre schrecklichen, ordinären Freunde. Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe aber, daß ich daraus etwas gelernt habe. Nur möchte ich nicht, daß Du denkst, Mr. Israel wäre an irgend etwas schuld, wie diese Pénable und ihre Freunde.
Er war genau so unschuldig wie ich und war so freundlich, mich in Vevey zum Zug zu bringen. Ich möchte gern, daß Du ihn kennen lernst, ich glaube, Du würdest in ihm alles das Nette, Lustige, Gesellige und Witzige finden, das Du an Ross Ireland hast, und trotzdem eine Delikatesse und einen guten Geschmack, wie sie, das wirst Du doch sicher zugeben, Mr. Ireland trotz allen seinen guten Eigenschaften nicht hat. Vielleicht treffen wir Arnold auch irgendwo, wenn Du zurückkommst. Ich glaube nämlich, er reist diesmal ein ganzes Jahr in Europa herum.
Ach, komm doch bald, Liebling! Du fehlst mir heute so! Wenn Du hier wärst, würden wir das kleine Batello nehmen – bist Du nicht stolz auf mich, ich habe schon am ersten Tag zehn italienische Worte gelernt; »Herein« heißt avanti und die Rechnung ist le conto oder nein, il conto heißt es, glaube ich – und wir würden ganz schnell über den See fahren. Es wäre sehr nett, wenn Du mir noch ein paar Tausend, Guaranty, Paris schicken möchtest – natürlich muß ich meinen Anteil von der Miete für die verfluchte Villa in Vevey bezahlen, obwohl ich nicht dort bin. Wenn ich es nicht täte, und das wäre mir wirklich das liebste, würde diese Person, die de Pénable wahrscheinlich herumlaufen und allen Leuten erzählen, daß ich nicht nur verkommen und eine Männerjägerin bin, sondern außerdem noch eine Hochstaplerin!
Am liebsten wäre es mir, wenn Du sie für mich mit Deiner großen schönen starken Hand hauen würdest! Du würdest es so ruhig und so gründlich machen! Aber so muß ich natürlich meinen Anteil von der Miete und für die Limousine dort bezahlen und weil ich auch meine Zimmer hier, oder wo ich sonst noch hingehe, bezahlen muß (verlaß Dich lieber nicht auf diese Adresse und schreibe c/o Guaranty) wird alles etwas kostspieliger werden als ich erwartet hatte. Ach, Liebster, ich hatte gehofft, daß es ein netter sparsamer Sommer werden würde und der Himmel weiß, daß ich mir auch wirklich Mühe dazu gegeben habe, aber ich habe wirklich nicht erwartet, daß das Unerwartete so verheerend unerwartet kommen wird. Jetzt nachdem ich Dir alles erzählt habe, ist mir etwas besser – ich habe fast die ganze letzte Nacht geweint – und von jetzt an werde ich wie eine Nonne leben und mich dem Studium der italienischen Sprache und Bevölkerung widmen, wie es einer alten Dame wie mir zukommt.
Deine zerknitterte und zerknirschte
Fran.
Dieser Brief war an dem Tag gekommen, für den der Direktor der Sanssouci-Gesellschaft Sam zum Lunch eingeladen hatte.
Der Direktor war sehr aufrichtig. Er war studierter Architekt. Er verblüffte Sam mit dem Geständnis, daß er Sanssouci ziemlich fürchterlich finde.
»Es ist ein zu großes Durcheinander von Stilen, und die Häuser stehen zu nahe aneinander«, sagte er, »aber den meisten Amerikanern, wenn sie auch verflucht viel für ein großes, imposantes Haus zahlen, liegt nicht so viel an Zurückgezogenheit, daß sie ein Grundstück von einiger Größe bezahlen würden. Und sie wollen wirklich französische Châteaux in einem Henry Ford-Viertel. Aber wenigstens haben wir sie schon dazu erzogen, daß sie bereit; sind, auf das Land herauszukommen, und nicht in der Stadt aufeinander sitzen wollen. Und jetzt plane ich, wenn Sanssouci mich nicht ruiniert, eine noch viel größere Siedlung, in der wir die Stile nicht durcheinander mischen werden. Ach, wahrscheinlich werden wir weiter von Europa und dem Kolonialamerika klauen müssen. Wenn eine natürliche Begabung kommt und einen ganz neuen Häuserstil schafft, finden nur sehr wenige Leute wirklich Gefallen daran. Aber ich stelle mir eine neue Siedlung vor – hoffentlich mit einem weniger entsetzlichen Namen als Sanssouci; den hat dieser herrliche alte Franzose erfunden, Mr. Abe Blumenthal, einer meiner Partner – eine Siedlung, bei der wir zumindest verhindern können, daß sie aussieht wie eine Weltausstellung. Zum Beispiel, in einem Viertel mehr oder weniger nur Häuser im Tudorstil, und ein anderes nur holländisch, oder mit etwas, das das Holländische nicht schlägt, oder vielleicht die ganze Siedlung in einem Stil. Wie Forest Hills auf Long Island.«
Aber – erzählte der Sanssouci-Direktor weiter – er selbst sei zu phantastisch und zu ungeduldig. Und als Partner brauche er jemand (er gab zu verstehen, daß Sam das sein könnte) der die hundert oder mehr Pläne für Hotels und Luxusjachtreisen und Schnellimbißstuben, die er jeden Monat ausspinne, nehmen und die praktischsten davon aussuchen und das Finanzielle und den Verkauf übernehmen könnte.
Er schmunzelte. »Das scheint kein sehr vielversprechendes Angebot zu sein. Es basiert auf meiner Überzeugung, daß ich ein paar neue und interessante Ideen habe, und außerdem ein ganz anständiges Wissen von Architektur und Bauen. Aber – Ich möchte gern wissen, ob es für uns nicht möglich wäre zusammenzuarbeiten. Während Sie den Entschluß gefaßt haben, von Ihren Automobilen nichts mehr wissen zu wollen, und Erkundigungen über mich eingezogen –«
»So, dahinter sind Sie also gekommen?« brummte Sam.
»Natürlich!«
»Ich werde es mir überlegen, ganz bestimmt«, sagte Sam.
Er kehrte in den Landklub zurück, etwa ein Dutzend neuer Siedlungen seiner eigenen Schöpfung erfindend, und fand Frans betrübten Brief aus Stresa vor.
Alles schien sich ineinander zu fügen. Er würde sie zurückbringen und gemeinschaftlich würden sie Häuser bauen. Er kabelte ihr: »Zu schlimm mit pénable bin froh daß du sie los bist warum nicht zenith zurückkommen dann in einem jahr oder so wieder ins ausland.«
Sie antwortete: »Nein will noch einige monate bleiben wenn du lust hast komme.«
Und der große Samuel Dodsworth wußte ebenso wenig, was er tun wollte, wie damals, als er im Seniorenjahr auf dem East Rock saß, über den Long Island Sund blickte und Brückenbauer in den Anden zu werden plante.
Er schrieb ihr von der Sanssouci-Siedlung und wartete. Er las Bücher über die heimische Architektur und reiste nach Cleveland und Detroit, um neue Siedlungen zu besichtigen.
Der nächste Brief, der von ihr kam, war geschrieben, bevor er ihren Brief aus Stresa, und bevor sie sein Kabel bekommen hatte.
Ja, mein lieber Samivel, ich bin noch in Stresa, obwohl ich nach Deauville könnte – ich wollte immer einen der Orte sehen, wohin verdrossene Grafen gehen, um ihr Geld im Chemin de Fer zu verlieren. Aber ich habe mich hier sehr wohl gefühlt, nachdem ich einmal meine ersten hysterischen Anfälle über die Gemeinheit dieser Person der de Pénable überwunden hatte. Ich habe bei einem ganz reizenden Mädchen hier täglich italienische Stunden genommen und mit ihr und anderen Bekannten, die ich im Hotel kennen gelernt habe, sind wir in alle die himmlischen Dörfer hier in der Gegend gegangen – Pallanza und Baveno und Gignese, hinten in den Bergen, und Cannobio und Arona usw. usw. Ich bin mit dem Dampfer nach Locarno am Schweizer Zipfel des Sees gefahren und mit der Tramway auf Monte Mattarone hinauf – Sam, es ist so steil, wenn man von oben auf den See hinunterschaut, daß die Wasserfläche aussieht wie eine aufgestellte Schüssel! Du brauchst Dir also gar keine Sorgen über mich zu machen, ich bin ganz vergnügt und munter. Ich muß Dir wohl auch noch sagen, daß Arnold Israel von Vevey hergekommen ist, Du weißt doch noch der nette Amerikaner, von dem ich Dir geschrieben habe er wohnt hier im selben Hotel.
Ich weiß eigentlich nicht, ob ich Dir das sagen soll – sogar Du, Du alter Brummbär mit Deiner netten, anständigen, verständnisvollen Art könntest es vielleicht falsch auffassen, denn trotz allen Deinen Tugenden hast Du schließlich eine amerikanische Art, die Dinge anzusehen, aber ich fürchte es könnte eines Tages Klatsch zu Dir kommen und möchte, daß Du verstehst. Überflüssig zu sagen, daß unsere Beziehungen so unschuldig sind, als wären wir ein Junge und ein Mädchen von acht Jahren, und ich amüsiere mich so nett mit ihm – Sam, Arnold fährt fast noch rascher als Du, gestern ist mir das Herz fast stehn geblieben wie er 118 Kilometer in der Stunde gefahren ist, aber er ist ein so ausgezeichneter Fahrer, daß ich mich im Allgemeinen ganz sicher fühle. Jetzt muß ich rasch machen und mich umziehen. Alles Gute. Hoffentlich bist Du wohlauf und zufrieden. Viele Grüße für Emily und Harry.
F.
An diesem Nachmittag rief er den Direktor der Sanssouci-Gesellschaft an, um ihm mitzuteilen, daß er ins Ausland abberufen werde und erst in einigen Monaten eine Entscheidung treffen könne. Er telegraphierte nach New York um einen Dampferplatz. Er eilte zu Emily, Tub und Hazzard und verabschiedete sich. Aber es verging eine Woche, bevor er abreisen konnte, und mittlerweile kam noch ein Brief von Fran aus Deauville:
Ja. Ich bin hier, und es gefallt mir gar nicht so sehr. Es ist hier sehr lustig, aber etwas gemischt; sehr viele nette Leute aber auch fürchterliche Kriegsgewinnler, die Cocktailgesellschaften geben, und Rennbahnanreißer machen die Hallen unangenehm. Ich wollte, ich wäre an den Lido gefahren, vielleicht tue ich das noch. Sieh mal, Samivel, in Deinem Brief, den Du mir nach Vevey geschrieben hast, der mir aber nachgeschickt wurde, sagst Du, Du hoffst, daß ich nach meinem Winter in Paris, wie Du Dich ausdrückst, »Ruhe geben und eine Zeitlang früh schlafen gehn werde«. Ich glaube ja nicht, daß Du es unfreundlich gemeint hast, aber Du kannst Dir eben nicht vorstellen, wie empfindlich und gekränkt und entsetzt ich nach der schauerlichen Sache mit der Pénable war, wie ein verloren gegangenes Kind, und wie sehr Dein Schimpfen mich verletzen mußte. Soll ich den Rest meines Lebens damit vollbringen so anmutig und so rasch wie ich kann alt zu werden. Was ja Dein Ideal zu sein scheint!
Du redest, als wäre ich ein Flapper, der weiß Gott wie angibt und nicht eine Frau von Welt, die etwas für zivilisierte Vergnügungen übrig hat. So! Ich bin überzeugt, daß Du nicht wirklich schimpfen wolltest, aber konntest Du Dir nicht denken, wie mich das in meinem wirklich angegriffenen Zustand treffen mußte! Versuch doch ab und zu, Deine Phantasie ein wenig anzustrengen! Jetzt habe ich es herausgesagt und wir wollen es ganz einfach vergessen, nicht? Nur muß ich sagen – Sam, Du wirst mich vielleicht für ungerecht halten, aber es war wirklich zum größten Teil Deine Schuld, daß ich überhaupt die Unannehmlichkeit mit dieser de Pénable hatte. Wenn Du nicht darauf bestanden hättest, zu Deinem Abituriententag nach Amerika zurückzufahren, was doch schließlich wirklich nicht gar so notwendig war, wenn Du bei mir geblieben wärst, so daß ich nicht, in die merkwürdige und fast demütigende Situation gekommen wäre, ohne Mann da zu sein, ganz wie eine Abenteurerin, so hätte diese Person, die de Pénable es nie gewagt, mich so zu behandeln als ob ich wirklich eine Abenteurerin wäre und so mit mir umzuspringen. Ich hoffe sehr, Du verstehst, daß ich das nur freundlich und lieb meine, und schließlich sind wir, nicht wahr? eines von den wenigen Ehepaaren, die sich so gut verstehen, daß sie ganz offen miteinander sein können und das nächste mal wirst Du wohl hoffentlich daran denken. So, das wäre vorbei und jetzt zu den Nachrichten.
Ja, sagt die böse Person trotzig, Arnold Israel ist mit mir hier, das heißt, wie Du bestimmt verstehen wirst, er ist absolut nicht mit mir hier, sondern er ist eben in Deauville. Zuerst wollte ich nicht, aber er war so aufmerksam, so lieb und so verständnisvoll. Er hat irgendwie – ich weiß nicht, wie er diese Sache macht, aber man könnte wirklich sagen er hat sowohl geistig wie finanziell den Midasgriff, weißt Du, ich bin eben dahintergekommen, daß er hier in Europa, wo ich meinte, daß er nichts tut und froh ist, von seinem scheußlichen alten Jute- und Hanfgeschäft fort zu sein, daß er 40 000 Dollars verdient hat, er hat an der Börse gespielt und einen, also einen einigermaßen wirklich echten Rembrand gekauft und wieder verkauft und er wollte mir Perlen schenken, aber das habe ich natürlich nicht zugelassen, aber ich verliere ja den Faden meiner Geschichte.
Er hat in Stresa erfahren, daß ein sehr respektables altes Paar aus Philadelphia hier ist, so richtige Rittenhouse Square-Leute, nur mit Verständnis für Lustigkeit, und auf seine Veranlassung hin haben die mich aufgefordert unter ihrem Schutz hier zu wohnen, und damit ist alles in Ordnung und jeder häßliche Klatsch, den dieses Frauenzimmer eventuell verbreiten könnte, unmöglich. Schließlich habe ich mir gedacht, es wäre doch albern, nicht herzukommen. Sam wird das nie mißverstehen, er hat Phantasie und außerdem habe ich mir gedacht, ich bin doch weder eine junge Gans noch eine von diesen fürchterlichen Abenteurerinnen, wie diese de Pénable, sondern eine durchaus ehrwürdige Matrone, die einen erwachsenen Sohn und eine verheiratete Tochter hat und da kann kein Mensch an Klatschereien denken.
Ich bin also hier und obwohl der Ort mir, wie schon gesagt, nicht übermäßig gefällt unterhalten wir, Arnold und ich und seine Freunde, Mr. und Mrs. Doone, wirklich reizende Leute, und so wunderbar lebendig, obwohl sie bald siebzig sind, unterhalten wir uns sehr gut und sind sehr oft viele, viele, viele Stunden am Strand. Schreibe mir c/o Paris, obwohl ich bestimmt noch mindestens drei Wochen hier bleibe, weil ein großartiges Kostümfest kommt, zu dem Arnold und ich gehen werden ganz ausgefallen als Scirokko und Nordwind, ich mit meinem netten hellen Schwedenhaar natürlich als Nordwind. Viele, viele Grüße
F.
Sam kabelte: »Reise carmania erwarte mich paris hotel universel zweiten September.« Er fügte hinzu »Grüße«, strich es aus und schrieb es wieder hin.
Zwölf Tage später sah er die langen Festungsmauern von Cherbourg und beobachtete die kleinen unaufhörlich schwatzenden Franzosen im Bahnhof.
Auf dem Deck war er Tag und Nacht auf und ab gegangen und hatte sich allen Ärger über Fran, allen Haß gegen Arnold Israel aus dem Leib geschafft. Als er ihren Brief aus Deauville zu Ende gelesen hatte, war ihm plötzlich etwas klar geworden, das er in den dreiundzwanzig Jahren seiner Ehe nie ganz begriffen hatte: daß sie nichts weniger war als eine reife und verantwortliche Frau, Mutter und Gattin, sondern ganz einfach ein gewecktes Kind, und daß sie eben, wie ein Kind, sich gern auf eine etwas verwirrte Weise wichtig nahm. Diese Entdeckung hatte ihn bekümmert. Dann hatte sie ihn nur um so zärtlicher gestimmt. Seine anderen Kinder, Brent und Emily, brauchten ihn nicht; sein Kind Fran aber brauchte ihn! Es gab etwas im Leben, das ihn noch brauchte! Er träumte von ihr, sie warte dort in Paris auf ihn – so, wie er in den unkomplizierten Tagen seines Werbens von ihr geträumt hatte.