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Dreiunddreißigstes Kapitel

In den nächsten zwei Wochen sah er Edith Cortright täglich – beim Tee, beim Dinner, beim Lunch am Lido. Sie schien ganz zu vergessen, daß sie eigentlich eine Garde brauchte, und begleitete ihn bei seinen architektonischen Studien, ging mit ihm in die Sommeroper, fuhr mit ihm nach Torcello und Malamocco – in einer Gondel mit orangerotem lateinischen Segel, von der sie zurückblickend Venedig auf dem schimmernden Wasser schwimmen sahen.

Er redete von Zenith und Emily, von Automobilen und den Vorzügen des Revelationwagens, von Technik und Finanz. Er hatte noch nie eine Frau gekannt, die es nicht langweilte, wenn er seine sehr fest umrissenen, durchaus nicht unwichtigen Ansichten über die Verwendung von Chrommetall klar zu machen suchte. Und sie sprach von allen möglichen Dingen. Sie las dicke Bücher voll unersättlicher Wißbegier für jede Äußerung des Lebens. Sie sprach von Bertrand Russel und von Insulin, von Stefan Zweig, amerikanischen Wolkenkratzern, der katholischen Kirche. Aber sie war weder pedantisch noch dogmatisch. Was sie sowohl an Tatsachen wie an Konstruktionen interessierte, war der Schwung, den sie ihrer eigenen Phantasie gaben. Im Grunde war es ihr gleichgültig, ob die Welt auf dem Wege zum Fascismus oder Bolschewismus, zum Methodismus oder Atheismus war.

Er folgte ihr durch alle ihre verwirrenden Überlegungen. Er fühlte sich nicht abgestoßen von ihren Ideen, wie es ihm so oft mit Frans schnippischen kleinen Klugheiten gegangen war. (Denn Fran trug ihr Wissen, ebenso wie ihre Pelze, um Eindruck damit zu machen.)

Von sich selbst sprachen sie nur selten, und sie glaubten sehr wenig über Fran und Cecil Cortright zu reden. Aber in abgerissenen, eingestreuten Sätzen begannen sie einander so ausführlich von ihrem Eheleben zu erzählen, daß Sam anfing, von »Cecil«, und Edith, von »Fran« zu sprechen, als wären sie immer zu viert zusammen gewesen. Als Edith es merkte, lachte sie.

»Wir sollten ein Abkommen treffen, daß ich von Cecil ebenso viele Minuten reden darf, wie Sie von Fran. Oder wir könnten auch eine Art Litanei zusammenstellen –

›O Herr, Cecil war reizbar vor dem Frühstück,
O Gott, du weißt, daß Fran für Stromlinien nichts übrig hatte!‹«

Und einmal tauchte sie unter die Oberfläche, sagte ihm, in seinem Unterbewußtsein habe er Fran an Kurt, oder an den ersten besten anderen, verlieren wollen.

Und doch blieb zwischen ihnen stets etwas Formelles, auch dann noch, als sie sich selbst ebenso wie ihre ewig problematischen Ehegefährten bei den Vornamen nannten. Sie diskutierten nicht über ihre Seelen. Sie diskutierten nicht darüber, woher es kam, daß sie einander sympathisch zu sein schienen. Einer Intimität kamen sie am nächsten, wenn sie, auf nahezu kindische Weise, Pläne für ihre »Zukunft« schmiedeten.

 

Beim Kaffee nach dem Dinner in Ediths Wohnung sagte er plötzlich: »Was soll ich tun? Soll ich ohne Fran nach Amerika zurückfahren? Und soll ich die Arbeit machen, die ich gelernt habe, oder mit Experimenten spielen? Ich möchte Ihnen ein paar dumme Ideen erzählen, die ich habe.«

Er umriß kurz seine Gedanken für den Bau von Wohnwagen und seine Pläne für eine Sanssouci-Siedlung.

»Warum nicht beides?« meinte Edith. Sie schien seine geplanten Experimente ernster zu nehmen, als Fran es getan hatte. »Mir gefällt Ihre Idee, eine Vorstadt bauen zu wollen, die weder geschmacklos noch übertrieben künstlerisch wäre. Und die Wohnwagen könnten sehr nett werden. Cecil und ich hatten in England zwei Monate lang einen.«

»Soll das heißen, daß Sie gekocht haben?«

»Natürlich! Ich bin eine ausgezeichnete Köchin! Ich schwatze über Freud und Einstein, aber ich habe keine Ahnung von Psychoanalyse, und keine Ahnung von Mathematik. Aber von Knoblauch und Estragonessig verstehe ich etwas! Ich beschäftige mich sehr gern mit dem Haushalt. Ich hätte in Michigan bleiben und einen Kleinstadtanwalt heiraten sollen.«

»Könnte Ihnen eine Stadt wie Zenith gefallen? Nach Venedig?«

»Ja, wenn ich meinen eigenen Platz dort hätte. Hier verfällt alles – ein sehr lieblicher Verfall, aber ich habe genug vom Herbstlichen. Ich möchte zur Abwechslung das Wachsen im heißen Sommer und das Knospen im Frühling sehen – auch wenn die Maisstengel häßlich sind!«

Jetzt erst kam er auf den Gedanken, daß es durchaus nicht lächerlich wäre sich vorzustellen, Edith und er könnten eines Tages zusammen nach Zenith zurückkehren, zur Arbeit und zum Leben. Von dem Gefühl, das in aller Stille ruhige und heilsame Liebe zu werden schien, sagte er sich sehr wenig und ihr gar nichts, aber ein oder zwei Tage später folgte er seinem Impuls und zeigte Edith den Brief von Fran.

 

Frans Brief verriet mehr von ihr und ihrer Beziehung zu Kurt, als alles, was sie bisher geschrieben hatte.

 

Ich habe seit einer Woche nichts von Dir gehört, mein guter Sam, ich gebe zu, daß ich auch keine große Briefschreiberin gewesen bin, aber ich habe mich nicht allzu wohl und munter gefühlt, ich glaube, ich bin zu viel in der Stadt, ich muß wirklich auf das Land hinaus, und Kurt und ich – es ist wirklich sehr lieb und schrecklich großmütig von Dir, ich weiß es sehr gut, daß Du mich so offen über ihn reden läßt und mir doch noch ein Freund bist – wir wollen versuchen, für eine Woche in den Harz zu gehen.

Es ist komisch – Du meinst immer, ich habe gar keine Bescheidenheit, aber wirklich, ich habe eine geradezu biblische Demut bewiesen und versucht, mich in sein ganz anderes Leben einzufügen.

Er hat mich in seiner komischen, rührenden kleinen Wohnung herumwirtschaften lassen – ach, Sam, es bricht mir ganz einfach das Herz, so sehr zeigt diese Wohnung, wie arm der arme Mann ist, der ein großer Edelmann sein sollte wie seine Vorfahren und es wohl auch wäre, wenn nicht der Krieg gekommen wäre, für den er schließlich doch gar nichts kann. Zuerst habe ich mich über die restlose Nachlässigkeit usw. usw. von seinem komischen alten Dienstmädchen geärgert, dann habe ich gemeint, es liegt vielleicht daran, daß sie eine so primitive Kücheneinrichtung hat. Wirklich, es war ungefähr 60, wie man es sich in der Wildnis, in der Kurt zu Hause ist, vorstellt, ein fürchterlicher alter Kohlenherd, in dem sie immer herumstochern muß, und er hat keinen Zug. Ich wollte ihm einen netten, neuen elektrischen Herd schenken, und schließlich hat er mir das erlaubt, obwohl nur ungern, wirklich – bitte, bitte, bitte, hoffentlich verletzt Dich das nicht, ich weiß ja sehr gut, wie großmütig Du bist, aber Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie stolz er ist! Aber die Köchin hat geschimpft. Nein! Sie will keinen netten neuen elektrischen Herd und keine elektrische Geschirrwaschmaschine haben. Ihre alten Sachen sind ihr lieber! Sie ist wirklich feudal, und Kurt auch. Ich glaube, ich habe wahrscheinlich gemeint, daß man mit einem Chauffeur, selbstverständlich kann Kurt sich jetzt noch keinen eigenen Chauffeur, noch nicht einmal einen eigenen Wagen leisten, obwohl ich glaube, daß er mit seiner großen Finanzbegabung in zehn Jahren ein sehr reicher Mann sein wird, aber jetzt kann er sich noch keinen leisten, aber so oft er ihn bekommen kann, nimmt er einen österreichischen Chauffeur von einer Mietsgarage hier in der Nähe, der im Krieg in Kurts Regiment gedient hat und jetzt eigentlich praktisch fast Kurts Privatchauffeur ist.

Also zuerst, weißt Du, war ich entsetzt darüber, wie gemütlich sie miteinander sind. Der Chauffeur erzählt dem Herrn Grafen, daß der Herr Graf heute wunderschöne neue Handschuhe an hat, und Kurt fragt ihn nach seinem Schatz, und sie machen Witze darüber, und Kurt sagt ihm, er sollte seinen Schatz zu einer anständigen Frau machen, und der Chauffeur droht dann verschmitzt mit dem Finger, so daß ich ganz wild darüber werde, und darum habe ich Kurt eines Tages deshalb zur Rede gestellt, aber da habe ich es schön abbekommen!

Er hat gesagt: »Du bist eine Bourgeoise, ich bin feudal! Wir Feudale können mit unseren Dienstboten so umgehen, weil wir wissen, daß sie niemals unverschämt werden können!«

 

Sam ließ den Brief sinken und mußte an Edith und ihre Art, mit Dienstboten umzugehen, denken.

 

Ich werde langsam ruhiger, mein lieber, guter Sam, obwohl es so aussieht, als ob wir für immer auseinander wären, und es ist wirklich einigermaßen tragisch, wenn man daran denken muß, nach wie vielen, vielen glücklichen Jahren, die wir doch wirklich miteinander verbracht haben, nicht wahr, aber auch wenn wir auseinander gegangen sind, ich weiß, daß Du weiter mein Freund bleibst und Dich freust, wenn Du hörst, daß ich allmählich zur Ruhe komme und mich daran gewöhne, Europäerin zu sein. Es ist nicht leicht gewesen, und ich kann von Dir nicht erwarten, daß Du verstehst, wie viel Mühe, fast schmerzliche Mühe ich darauf verwendet habe. Manchmal bin ich aufrichtig einsam – denn was Du auch über mich zu Tub und Deiner lieben Matey gesagt hast, ach, Sam, ich bin überzeugt davon, daß Du mit ihr in Paris viel mehr über mich gesprochen hast, als Du zugeben willst – aber ich will sagen, was Du auch über mich sagst, vielleicht mit sehr viel Gerechtigkeit, Du mußt doch wenigstens zugeben, daß es zu meinen, wahrscheinlich sehr wenigen Tugenden gehört, aufrichtig und ehrlich zu sein, und manchmal war ich eben wirklich sehr einsam und habe mir gewünscht, Du wärst da, damit ich Dir Dein komisches, dickes Haar zausen kann. Und manchmal war ich erschrocken, wenn ich mich mir als einsame femme americaine vorgestellt habe, ganz allein, dem ganzen kritischen Europa gegenüber. Und manchmal – Du kennst ja seinen netten, kindischen, fast ganz kritiklosen Enthusiasmus – habe ich mich über einige von Kurts lieben alten Freunden ärgern müssen, und doch liebe ich die Dichtheit des europäischen Lebens, und ich glaube, ich fange wirklich an, sie zu verstehen. Unser amerikanisches Leben ist so dünn, so traditionslos.

 

Sam legte den Brief aus der Hand und dachte an die Tradition der Pioniere, die unaufhaltsam westwärts wanderten, über die Alleghenies, durch die Wälder von Kentucky und Tennessee, weiter zu den fruchtbaren Ebenen von Kansas, und weiter nach Oregon und Kalifornien, eine fromme Prozession, nur unter Gefahren schlafend, niemals ruhend, die einer Million Menschen eine neue Heimat geschaffen hat. Aber er las still weiter:

 

Ich habe erfahren, und ich muß sagen mit einiger Überraschung, die wahrscheinlich für mein kleines Ich sehr gesund gewesen ist, daß Kurt von einem Geiger oder einem Chemiker viel mehr hält als von dem schönsten Fürsten mit dem wunderbarsten Wappen. Und – denn was Du auch sonst von mir denkst, Du mußt doch zugeben, daß ich die Europäer verstehe und wirklich eine Europäerin bin! – Es ist mir nicht allzu schwer gefallen, ihm zu folgen. Ach verzeih, wenn Dir das weh tut, aber er ist wirklich das, was romantische Schriftsteller die andere Hälfte nennen! Ich habe fabelhafte Pläne für ihn. Ich glaube, ich sehe eine Möglichkeit, ich kann natürlich noch gar nicht von Einzelheiten reden, nicht einmal Dir gegenüber, aber ich glaube, ich sehe eine Möglichkeit dafür, eine gewisse amerikanische Großbank dazu zu bringen, daß sie eine Filiale in Berlin einrichtet und Kurt die Leitung übergibt.

Es würde Dich wahrscheinlich amüsieren, und Du hast es Dir sicherlich nicht vorstellen können, wie bescheiden Deine wilde Fran jetzt ist und sich von Kurt in allen kleinen, ja, und wahrscheinlich auch großen Dingen kommandieren läßt, aber trotzdem, er ist so lieb – er merkt immer, was ich anhabe, wirklich, manchmal ist es ganz fürchterlich, wie er mir immer Vorschriften über meine Kleider macht, aber trotzdem ist er immer bereit, mit mir Besorgungen zu machen, und Du mußt doch zugeben, trotz Deiner Herrlichkeit und Größe, das hast Du nie tun wollen. Ach mein Lieber, es ist wohl unverzeihlich, daß ich Dir so über ihn schreibe, und wenn ich mich unterbreche, um darüber nachzudenken und diesen Brief noch einmal durchlese, werde ich ihn wahrscheinlich nie aufgeben. Ich schreibe in meiner herzigen kleinen Wohnung an einem Abend, der, ich muß es wirklich gestehen, etwas einsam ist, so daß ich mir wie eine arme verirrte amerikanische Touristin vorkomme, aber wir sind doch Freunde, nicht wahr – das Telephon klingelt, ich muß an den Apparat, Gruß F.

 

Er bekam den Brief um zehn Uhr vormittags. Um zwölf klingelte er an Ediths Wohnung. Er warf ihr wortlos Frans Brief hin. Als Edith ihn gelesen hatte, seufzte sie, und schlug vor:

»Hier ist es so heiß. Ich habe daran gedacht, nach Neapel zu fahren – nach Posillipo, draußen auf der Landspitze, wo es kühl ist – und ein kleines Haus auf dem Besitz der Ercoles zu nehmen. Baron Ercole hat ein sehr großes Grundstück, aber er ist schrecklich arm. Er ist Diplomat gewesen und liest jetzt Jura an der Universität in Neapel, und die armen Teufel leben fast ausschließlich davon, daß sie Häuschen auf ihrem Grundstück vermieten. Wollen Sie nicht mit mir hinfahren? Ich glaube, über Ihre Fran ist nach diesem Brief nicht mehr viel zu sagen. Es wird Ihnen gut tun, in Neapel zu schwimmen und zu segeln, statt hier zu bleiben und zu grübeln. Möchten Sie mitkommen?«

»Selbstverständlich! Aber was ist mit ihren Freunden, die so leicht Anstoß nehmen –«

»Ach, die Ercoles nicht. Die werden glauben, ich habe eine Liaison mit Ihnen und entzückt darüber sein – sie haben in zu vielen Ländern im Diplomatenkorps gelebt, um noch viel Moral zu haben. Sie werden ihnen gefallen. Edmondo Ercole und Sie werden sich ausgezeichnet miteinander ausschweigen! Ach, das klingt nach Fran, glaube ich! Verzeihen Sie!«

 

Eine italienische Bergstadt im Sonnenuntergang, Festungsmauern und ein verfallener Turm auf einem Felsen, der steil inmitten der Ebene aufragte. Die Fenster der Stadt fingen das Licht der niedrigen Sonne und funkelten auf, eines nach dem anderen, während der Zug vorüberfuhr. »Als ob die Häuser voll fröhlicher Menschen wären«, sagte Edith. Er betrachtete das Bild mit stillem Vergnügen. Er fühlte, daß ihre Gegenwart sein Herz geöffnet, ihn zum erstenmal gelehrt hatte, Italien zu sehen.

 

Er war wohl schon in Neapel gewesen, aber während sie vom Bahnhof zur Villa Ercole fuhren, begriff er, daß alles, was er gesehen hatte – alles, was er überall in Europa gesehen hatte – nicht der Ort selbst gewesen war, sondern Frans aufgeregte und anspruchsvolle Attitüden; ihr hysterisches Entzücken über eine Mondlandschaft oder ihr hysterischer Ärger über schlechte Bedienung. In Ediths stiller Gesellschaft gewahrte er, daß Neapel nicht, wie es in seiner Erinnerung ausgesehen hatte, ein ziemlich unfreundliches, sehr modernes Kasernenlager hoher Mietshäuser war, sondern eine Reihe sich aneinanderschließender Dörfer, die sich über viele Meilen am Golf entlang ziehen, zwischen blauem Wasser und Bergen, in welche die Menschen sich eingegegraben haben wie Taschenratten. Der Chauffeur ihres Wagens, ein Neapolitaner, war in einem Zustand der Raserei, solange sich auf der Straße auch nur ein Fahrzeug vor ihnen zeigte, und da das stets der Fall war, bestand ihre Fahrt aus einer Kette knapp überstandener Todesgefahren. Doch selbst in diesem Wagenrennen fand Sam Ruhe und Frieden, wie seinerzeit in den Tagen der Überarbeitung und der kurzen Urlaube, wenn er seine Ferien in einem Kanu verbrachte.

Er streichelte Ediths Hand, um einen Ausdruck für seine glückliche Zufriedenheit zu haben, als er den Vesuv aufsteigen sah, dessen Rauchfahne jetzt auf Neapel wies und gutes Wetter versprach; er sah Capri mit den weißen Häusern auf der Hochebene zwischen den ruinenübersäten Bergen, Sorrent, am Fuß seines riesigen Vorgebirges in Sonnenlicht gebadet, die Villen von Posillipo unter der Klippe, die ihr Wagen hinaufraste.

Sie kamen an einem gelben Pförtnerhäuschen vorüber, aus dem eine Frau heraussprang – eine lächelnde, lebenslustige, rundliche Italienerin mit zahllosen Kindern um sich – und augenblicklich war die lärmende Landstraße verschwunden, der rasselnde Verkehr, die schreienden Chauffeure, die drängenden Straßenbahnwagen, die selbstmörderischen Kinder und die vielen kleinen Läden zum Verkauf von Holzkohle und von Wein. Der Park der Villa Ercole zog sich von dieser hochgelegenen Chaussee bis zum Golf hinunter, mit einer Straße, die sich wand und Kehren machte wie ein Bergpfad. Sie fuhren unter riesigen Fichten, zwischen deren gewaltigen Stämmen er jenseits des freundlichen Golfs den Rumpf des Vesuvs sah, der in seiner Einsamkeit so erhaben war wie der Fudschi-jama. Sie kamen an goldgelben Villen vorüber, die still dalagen und an einen Glanz erinnerten, der noch nicht ganz der Vergangenheit angehörte. In einer modernen Steinmauer, die ein Stück der Korkzieherstraße trug, stak ein Stück alten italienischen Mauerwerks in Fischgrätenverband und darüber das Fragment einer Marmorbüste, der Kopf eines Kriegers, dessen Villa vielleicht vor zweitausend Jahren hier gestanden hatte.

Kein Laut war zu hören, nicht einmal von Vögeln, kein Laut von der Straße oben – die nur eine Minute entfernt und doch unfaßbar weit weg war.

»Gott, ist es hier still!« sagte Sam.

»Deshalb wollte ich hierher – deshalb und wegen der Ercoles.«

In der letzten Kurve der Straße, kurz vor ihrem Ende an dem hohen Schlößchen, in dem die Ercoles selbst noch wohnten, ließ Edith den Chauffeur an einem kleinen Holzbrückchen halten, das zu dem obersten Stockwerk eines gelben turmartigen Häuschens hinüberführte, dessen untere Teile von den Felsen neben ihnen verborgen zu sein schienen.

»Das ist unser Haus!« sagte sie. »Es ist das komischste Haus, das Sie sich vorstellen können. Es hat drei Etagen, der Garten ist so steil, daß man von jedem Stockwerk direkt hineingehen kann, und in jedem Stockwerk sind wirklich nur zwei Zimmer.«

Sie führte ihn über das Brückchen und einen Puppenhauskorridor in ein ganz einfaches Schlafzimmer. Der Fußboden war aus schimmernden Fliesen, an den Wänden keine Bilder, nur eine Majolika-Jungfrau mit Kind. Das hohe, schmale Bett, das weder am Kopf- noch am Fußende ein Brett hatte, war von vier schlanken Pfosten getragen, und darauf lag eine ziemlich abgenutzte goldübersponnene Brokatdecke. Ein nackt aussehender weiß lackierter Waschständer war noch da, ein schöner ovaler Spiegel, zwei schwere Brokatstühle, ein schwerer Eichentisch, auf dem Schreibzeug und Briefpapier lag, eine Holzkohlenpfanne und weiter nichts – und doch war alles da, denn vor den Glastüren lag eine Terrasse, anscheinend das Dach eines darunterliegenden Zimmers, mit der Aussicht auf den Golf, so daß man im Zimmer die Sonne des Südens auf dem Wasser funkeln, den Vesuv und seinen träg aufsteigenden Rauch sah.

»Das ist Ihr Zimmer, glaube ich«, sagte Edith. »Aber du lieber Himmel, es ist kein Schrank da, nicht einmal etwas, wo Sie Ihre Bürsten und Ihr Rasierzeug hinlegen können. Bianca – die Baronin Ercole – hat sich das wahrscheinlich noch nicht leisten können – sie hat mir geschrieben, daß sie das Haus jetzt wieder einrichtet, um es vermieten zu können.«

»Das macht nichts. Ich werde meine Sachen im Schrankkoffer lassen«, antwortete Sam. Er freute sich über die Einfachheit, freute sich, daß nicht mehr Möbel im Zimmer standen. Hier konnte er sich verjüngt sehen, in diesem kühlen Heiligtum mit der süßen Luft und dem leuchtenden Meer draußen, und mit Ediths unsentimentaler Freundschaft, die ihn wieder an sich glauben machte.

Sie traten auf die Balkonterrasse hinaus, und Sam stieß einen Ruf aus. Die Küstenlinie von Posillipo bis Neapel, die sie während ihrer Fahrt nach Neapel unter sich nicht hatten sehen können, war romantisch genug für einen Weihnachtskalender – und trotz allem Schelten Frans hatte Samuel Dodsworth sich seine Liebe für bunte Farbdrucke bewahrt. Der Golf war von Felsen eingerahmt, in die das Meer große Höhlen gefressen hatte. Rätselhafte Treppen führten von den Klippen bis zum Wasser hinunter und verschwanden in Felshöhlen. Sam dachte daran, wie sehr es ihn als Knaben entzückt hätte, diese verschwindenden Treppen zu entdecken, als er bei Stevenson und Walter Scott von geheimen Gängen, Schmugglern und unterirdischen Kammern gelesen hatte.

Am Fuß einer Klippe zog ein Fischer junge, barfuß und singend, sein plumpes Boot an einen winzigen Strand herauf. Seine Haut leuchtete golden im Sonnenlicht.

Allerdings schoß gerade in diesem Augenblick ein Vierskuller in das Bild, gerudert von den Mitgliedern eines Klubs, den die Fascisten gegründet hatten, aber dieses Schauspiel, das auf der Themse zeitgemäß gewirkt hätte, ignorierte Sam; es paßte nicht in seinen romantischen Traum vom Golf von Neapel.

Die Villen am Golf lagen weiß und imposant auf Felsspitzen, über steilen Schluchten, in denen Wein und Maulbeerbäume wuchsen, und weiter unten standen mittelalterliche Paläste aus gelbem Marmor mit Bogengängen, deren Fundamente ins Wasser ragten. Es war spät am Nachmittag, und ein sanfter Schimmer lag über dem fernen Neapel, dessen riesige lohfarbene Pyramide zu den steilen Bastionen des Castel Sant Elmo aufstieg – eine verzauberte Stadt, die seit Jahrhunderten im trägen Licht schlummerte.

Er murmelte: »Das – das –«

»Ja. Nicht wahr!« sagte sie.

Stunden schon schienen sie in diese Herrlichkeit versenkt zu sein, aber es waren wohl erst drei Minuten vergangen, seit sie das Haus betreten hatten. Kein Dienstbote hatte auf ihr Klopfen beim Kommen geantwortet, niemand hatte sie seitdem gestört. Sie setzten ihre Untersuchungen fort; sie stiegen die Steintreppe des Turmhäuschens hinunter, fanden ihr Schlafzimmer, das so primitiv war wie das seine, und ganz unten das Erdgeschoß. Sie kamen in einen Salon mit einem Fußboden aus polierten dunkelroten Kacheln, einen Raum, zu dessen Größe die fünf Meter hohen, mit Damast verhängten Fenster paßten; in hohen Weinkrügen standen Kamelienbäume in voller Blüte, und die Mitte nahm ein langer Rosenholztisch mit Bronzeverzierungen ein, etwas überladen mit Zierraten und doch elegant. Die zwei Frauen in Kattunkleidern und Kopftüchern, die auf den Knien lagen, um den Fußboden fertig zu polieren, bemerkte Sam kaum. Er riß den Mund auf, als die jüngere und zartere aufsprang, auf Edith Cortright zuflog und sie küßte.

Mit einem vergnügteren Lächeln, als er je an ihr gesehen hatte, sagte Edith: »Bianca, das ist mein Freund Mr. Dodsworth – Sam, die Dame des Hauses, Baronin Ercole.«

Und ohne auch nur im geringsten in Verlegenheit darüber zu geraten, daß sie bei den Sünden der Armut und der Arbeit ertappt war, begrüßte ihn die Baronin Ercole, reichte ihm die mit Wachs beschmierte Hand zum Kuß und lud die beiden zum Dinner ein.


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