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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der gute Herr Rechtsanwalt Biedner gab in seiner Wohnung am Tiergarten ein Dinner für seine Kusine zweiten Grades, Fran Dodsworth, und ihren Mann. Herr Dr. Biedner war sehr preußisch, mit kurz gestutztem Haar, kleinen Augen, hartem Kinn und Speckfalten im Nacken, und dabei war er wohl der angenehmste und freundlichste Mensch, der am internationalsten gesinnte, den die Dodsworths je kennen gelernt hatten.

Jetzt, im Frühjahr 1927, sah Berlin wieder wohlhabend aus; Herr Biedner hatte auch eine ausgezeichnete Anwaltspraxis, und sein Haus strotzte von Behaglichkeit wie ein guter Kaffeekuchen von Zucker. In der Diele waren ein Schrank aus geschnitzter Eiche und ein Hirschgeweih; im Wohnzimmer stand um einen ungeheueren grünen Kachelofen eine ganze Versteigerungskollektion alter Lehnstühle herum, und hinter dem großen Flügel hingen scheinbar Hunderte von Bildern des Kaisers, Bismarcks, Moltkes, Beethovens und Bachs.

Sam entdeckte zu seiner Erbauung, daß ein Kachelofen ein Zimmer wirklich erwärmen kann, und daß der Klavierspieler des Hauses nicht Frau Biedner oder irgend eine versteckt gehaltene Tochter war, sondern Herr Biedner selbst, obwohl er ein durchaus würdiger und tüchtiger Anwalt zu sein schien. Ebenso freute es ihn, bei jedem Gedeck drei Weingläser zu sehen, und schlanke grüne Flaschen Deidesheimer Auslese 1921.

Aber die Konversation entsetzte ihn.

Sie waren so freundlich, diese fünf oder sechs deutschen Geschäftsleute mit ihren Frauen, die Herr Biedner zur Bewillkommnung der amerikanischen Vettern versammelt hatte, und alle sprachen Englisch. Aber sie redeten von Dingen, die für Sam gar keine Bedeutung hatten – vom Berliner Theater, von der Oper, von einer Kokoschka-Ausstellung, von Stresemanns Rede im Völkerbundsrat, von der landwirtschaftlichen Lage in Oberschlesien –

»Herrgott noch einmal, das wird aber düster«, seufzte Sam. »Wenn doch jemand einen Witz erzählen würde.«

Und mit gewichtiger Höflichkeit beantwortete er die gewichtig höflichen Fragen der Dame neben ihm: Ob das seine erste Reise nach Deutschland sei? Ob er lange in Berlin bleiben wolle? Ob es wirklich wahr sei, daß man seit der Prohibition in Amerika nur schwer Wein bekommen könne?

Der einzige Lichtpunkt war Frans Tischherr. Biedner hatte ihn, anscheinend mit Genugtuung, als Grafen Obersdorf vorgestellt und dann Sam auf die Seite genommen, um ihm auseinanderzusetzen, daß Kurt von Obersdorf das Haupt einer der großartigsten österreichischen Familien sei. Seine Vorfahren hätten Schlösser, Ortschaften, Tausende Morgen Landes, ganze Provinzen besessen; sie hätten Gewalt über Leben und Tod gehabt; Könige hätten um ihre Gunst gebuhlt. Aber in den letzten zweihundert Jahren sei die Familie allmählich verarmt, und schließlich habe der Weltkrieg, in dem Graf Kurt als österreichischer Artilleriemajor gedient habe, sie ganz ruiniert. Obwohl seine Mutter in einem baufälligen alten Haus im Salzkammergut noch mit zwei schwerfälligen Bauernbedienten einen Anschein von Standeswürde aufrecht erhalte, arbeite Kurt im Berliner Bureau der Internationalen Touristen-Agentur (der berühmten I.T.A.). Er könne es sich nicht leisten, zu heiraten. Er beziehe ein ganz anständiges Gehalt, er sei der Chef der Bankabteilung in der I.T.A.; aber er müsse sich nach der Decke strecken, sagte Herr Dr. Biedner. »Er benimmt sich großartig dabei. Und er macht nicht viel Gebrauch von seinem Titel. Seine Ahnen haben wahrscheinlich meine Vorfahren wegen Wildern hängen lassen, aber jetzt ist er wie einer der unseren hier in meinem Haus, und er sagt, sonst kann er nirgends in Berlin eine anständige Leberknödelsuppe bekommen.«

Während der Grafentitel und eine Vision gepanzerter Ahnen hoch zu Roß großen Eindruck auf Sam machten, redete er sich ein, er lasse sich nicht im geringsten von einem Titel oder von Ahnen imponieren, und beobachtete aufmerksam den Familienhelden.

Kurt von Obersdorf mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Er war ein großer, schlanker, lebhafter Mann mit dichtem schwarzen Haar. Er hatte zwar eine gewisse Würde, aber er lachte sehr gern, und man merkte, daß er nicht ungern den Hanswurst spielen würde. Er machte allen Frauen den Hof und befreundete sich mit allen Männern. Fran wurde rot, als er ihr die Hand küßte, und Sam fühlte sich weniger trostlos, weniger von der ausländischen Umgebung bedrückt, als Kurt ihm die Hand schüttelte und in Oxforder Akzent mit gelegentlichem Abgleiten in den Witzblattstil darauf losplauderte: »Ich weiß sehr viel von Ihrem Revelationwagen. Herr Dr. Biedner hat mir erzählt, daß Sie sein Schöpfer sind. Ich freue mich wirklich sehr, Sie hier in Berlin zu sehen. Ich fahre seit sechs Jahren einen Revelation, immer noch den gleichen Wagen, er gehört einem Freund von mir, er sieht zwar schon sehr abgeklappert aus, aber erst vor ein paar Tagen bin ich mit hundertfünfzig Stundenkilometern nach Wildpark gefahren.«

Kurt wollte den Enkel der Biedners sehen (ein ziemlich unangenehmes Kind, dachte Sam, aber Kurt zwitscherte vergnügt mit ihm); dann spielte er Klavier; dann mischte er die Cocktails, die Herr Biedner seinen amerikanischen Gästen vorsetzen zu müssen glaubte, und die von der guten Bürgergesellschaft in höflicher und strahlender Besorgtheit gekostet wurden.

»Ein lebhafter Kerl, der Graf. Macht zu viel von sich her. Sitzt nie still«, dachte Sam mit gesundem amerikanischem Widerwillen gegen ausländische Possenreißerei, und die ganze Zeit war ihm Kurt der sympatischste von allen Menschen, die er seit Paris gesehen hatte.

Während des Essens widmete Kurt sich ausschließlich Fran.

Sam wurde unruhig, als er hörte, wie Kurt Fran vergnügt erzählte, was für ein »Typ« sie sei, und sie lustig damit aufzog, was ihm an diesem Typ gefalle, und was er daran verabscheue.

»Ja«, hörte Sam, »Sie halten sich für sehr europäisch, Mrs. Dodsworth, aber Sie sind ganz und gar amerikanisch. Sie funkeln. Sie sind ein Automobilscheinwerfer. Sie lernen rasch. Aber Sie beeilen sich sehr, alles anzuwenden, was Sie lernen. Es macht Ihnen gar keinen Spaß, wenn Sie nicht aller Welt zu verstehen geben, daß Sie etwas wissen. Sie sind sehr schön. Vor allem haben Sie wohl das allerschönste Haar, das ich je gesehen habe. Aber Sie wären sehr unzufrieden, wenn jemand käme, der das nicht zu würdigen weiß. Sie sind ein Theaterstück – Autor und Heldin und Schauspielerin, alles in einem. Ein großartiges Stück. Aber Sie könnten nie im Leben etwas für einen Mann kochen.«

»Wozu sollte ich auch?« fragte Fran.

 

Es fiel Sam auf, daß er das schon einmal gehört hatte.

Major Lockert, der Fran von ihr selbst erzählte und sie damit entzückte, daß er von ihr sprach, in ihr das Begehren nach Männern, die nach ihr begehren, wach rief.

Ja. Lockert hatte diesen biologischen Prozeß ausgelöst, der Fran in Brand gesetzt, sie zu etwas ganz anderem gemacht hatte, als die Fran gewesen war, die mit ihm aus Amerika abreiste – Aber war das auch richtig? Vielleicht hatte ihr erster Roman die wirkliche, die echte Fran enthüllt, die weder er, noch sie selbst, in den kühlen, höflichen Tagen Zeniths gekannt hatte.

Zum Teufel mit Lockert!

Und dann hatte der Flieger, der Italiener, dieser Gioserro, den Prozeß fortgesetzt. Zum Teufel mit Gioserro!

Und Arnold Israel hatte endlich wirklich die dünne Eisdecke, die sie umgab, zerbrochen. Zum Teufel mit Arnold Israel!

Und jetzt war Kurt von Obersdorf, ein Mensch, der lachen konnte, dabei, sie zu bezaubern – Ach, zum Teufel mit Kurt!

Oder sollte er Fran zum Teufel wünschen? Fran, für die das Leben eine Modeschau war.

Oder den Sam Dodsworth zum Teufel wünschen, der Vergaser faszinierender gefunden hatte als Frauenseelen und -leiber.

Auf keinen Fall wollte er eine zweite Arnold Israel-Geschichte haben. Imkeimersticken. Selbstverständlich!

Er arbeitete sich in eine gute gesunde Wut über Kurt von Obersdorf hinein, mit der es im Nu vorbei war, als Kurt nach dem Dinner mit Fran im Schlepptau zu ihm kam.

»Mr. Dodsworth«, sagte Kurt, »ich habe mich schauderhaft gegen ihre Frau Gemahlin benommen. Sie meint, ich hätte sie beleidigt, weil ich ihr gesagt habe, daß sie sich bloß etwas einredet, wenn sie sich für europäisch hält – sie ist entzückend, wirklich, gerade weil sie amerikanisch ist! Aber ich bin sehr proamerikanisch! Ich bewundere alles Amerikanische kolossal – riesige Gebäude und Zentralheizungen und Rechenmaschinen und Fords. Bitte, darf ich Sie in Berlin herumführen? Es würde mir wirklich ein Vergnügen sein!«

»Ach, wir können Ihnen nicht zur Last fallen.«

»Aber es wäre eine Freude für mich! Ihre Vettern, die Biedners, waren so nett zu mir, als ich von Wien herkam, und ich habe so wenig Gelegenheit, mich zu revanchieren. Und der Herr Doktor hat so viel mit seiner Praxis zu tun – es ist wirklich unglaublich! Ich habe viel mehr Zeit. Gönnen Sie mir doch das Vergnügen, etwas für den Herrn Doktor zu tun!«

Aber der Blick, mit dem Kurt Fran ansah, ließ Sam auf den Gedanken kommen, ob Kurt nicht einen lebhafteren Grund für seine Zuvorkommenheit habe.

»Haben Sie morgen – Sonntag – etwas vor? Darf ich Sie zum Lunch in ein komisches Lokal führen?«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte Sam ohne alle Begeisterung.

»Ausgezeichnet! Ich hole Sie um zwölf ab.«

 

Ihr Appartement im Hotel Adlon hatte den Blick auf den Pariser Platz, der sie an das achtzehnte Jahrhundert, an Staatskarossen und Lakaien mit Perrücken denken ließ, und hinter dem Brandenburger Tor, am Ende der Linden, konnten sie die Bäume und kleinen Wege im Tiergarten sehen. Der Sonntagmorgen nach der Gesellschaft bei Herrn Biedner war überschwänglicher Frühling, jenes jubelnde und überraschte Wiedererwachen, wie nur Städte im Norden es kennen. Sam trieb Fran um halb neun aus dem Bett, pfiff vergnügt während des Rasierens, aß trotz Frans täglich ausgesprochenem Widerwillen gegen amerikanisches Frühstück in Europa Eier (dennoch gelang es ihr immer sie hinunterzubringen, wenn sie einmal für sie bestellt waren) und lockte sie in den Tiergarten hinaus. Die schauderhaften Hohenzollernstatuen in der Siegesallee bewunderten sie – man hatte sie noch nicht darauf aufmerksam gemacht, daß diese Denkmäler scheußlich und lächerlich sind – dann spazierten sie auf kleinen Pfaden an Wasserläufen, über winzige Brückchen, an einem See entlang, zu den Lunaparkminaretts hinter der Einfriedungsmauer am Zoo. Ganz verirrt, gingen sie um den Zoo herum, stolperten in das Bräustübel und nahmen zum Gabelfrühstück Bratwürstchen und Münchner Bier, das dick war wie Sirup. Nach den weicheren Lüften Italiens wurde ihr Blut von dem Frühlingswind in lebhafteren Umlauf gebracht, und plaudernd, lächelnd, zufrieden, kamen sie ins Adlon zurück, gerade zur rechten Zeit, um den Grafen Obersdorf in der Halle zu treffen.

Er hüpfte ihnen entgegen, als ob er sie schon seit zehn Jahren kennte. »Es ist ausgezeichnet, daß ich Sie heute hinausführe! Es ist wunderbares Wetter, und wenn man Sie nicht irgendwo hinschleift, wo Sie nichts tun können, würden Sie als gewissenhafte Touristen in Museen und Schlösser und lauter so fürchterliche Sachen gehen!«

»Ich bin keine gewissenhafte Touristin!« protestierte Fran.

Kurt schüttelte den Kopf. Mit seiner Erfahrung von der Internationalen Touristen Agentur konnte er sich keinen Amerikaner vorstellen, der nicht Sehenswürdigkeiten sammelte, der sich auf einer Reise nicht plagte, als wäre sie ein Tournier mit dem Ehrenpreis für denjenigen, der die größte Anzahl von Museen über sich ergehen lassen kann. Er war ebenso fest überzeugt davon, daß alle Amerikaner in ihrem Baedeker buchführen, wie die Amerikaner davon, daß jeder Deutsche allabendlich Bier trinkt.

Er rief eine Autodroschke. Sam war es ganz lieb, daß Kurt kein Geld für eine scheinbare Privatlimousine verschwendet hatte. Wenn Kurt allein auf das Land hinausführe, dachte Sam, würde er sicherlich ganz zufrieden im Autobus sitzen und mit dem Schaffner gut Freund geworden sein, noch bevor er draußen ankäme. Er hatte schon beobachtet, wie Kurt sich in lebhafte Unterhaltungen mit dem Portier im Adlon, dem Zeitungsmann, zwei Boys und dem Droschkenchauffeur einließ; und während des größten Teils der Fahrt zu dem kleinen Binnenhafen mit dem fürchterlichen Namen Pichelsberg erzählte Kurt ausgelassen davon, was für Angst er während des ganzen Krieges ausgestanden hätte, wie er von einem sehr kleinen Italiener mit einem sehr langen Gewehr gefangen genommen worden sei und dann den italienischen Major, der ihn dem ersten Verhör unterzog, in einer Debatte über die Stücke Pirandellos geschlagen habe.

Der Chauffeur hielt den Wagen auf der Straße an, um den Ventilatorriemen zu verkürzen, und Kurt stieg aus, um ihm zuzusehen.

»Er hat etwas Amerikanisches, der Graf«, sagte Sam. »Er hat Sinn für Humor und nimmt sich nicht allzu ernst.«

»O nein, das ist etwas ganz anderes«, widersprach Fran. »Er ist völlig europäisch. Die Amerikaner haben ihren Humor, um zu verbergen, daß sie sich über etwas Gedanken machen. Sie glauben, alles, was sie tun, ist unerhört wichtig, und die ganze Welt wartet darauf. Der echte Europäer spürt, daß tausend Jahre mit Ahnen, wie er selbst, hinter ihm sind; er weiß, daß seine Liebesaffären, seine Politik oder seine Tragödien nicht sehr anders sind als hundert andere, die schon längst vorüber sind. Und er ist nicht so wütend auf Erfolg versessen – er will sich lieber dem Leben anpassen, wie er es vorfindet, nicht das Leben anders machen – und er zieht sich lieber in eine kleine Hütte unter Bäumen zurück, als daß er ein großes Stuckhaus auf eine Anhöhe baut, damit die Fremden es bewundern können. Der Graf Obersdorf nimmt sich selbst nicht ernst – aber er nimmt die Obersdorfs im allgemeinen, die Österreicher im allgemeinen und Europa im allgemeinen ernst. Und er ist doch wirklich ein ziemliches Schaf, nicht! Ich werde übrigens froh sein, wenn er sich etwas an uns gewöhnt hat und wieder er selbst sein kann – wenn er versteht, daß wir nicht seine gewissenhaften Touristen sind – stell dir nur vor! – sondern Leute, die –«

»Ja, netter Kerl«, sagte Sam.

Es reizte ihn, daß sie wieder überlegen sein wollte, und es langweilte ihn, daß sie wünschte, dieser neue Anbeter solle ihre Überlegenheit anerkennen. Als Kurt wieder in die Taxe gestiegen war, sah sie ihn so strahlend an, als wäre er ein netter kleiner Junge, dem sie ein Vergnügen machen wollte.

Sam seufzte.

An einem Weg, der in ein Kieferngehölz hineinführte, ließen sie den Wagen stehen und spazierten in dem faul warmen Tag über Kiefernnadeln zu einem schimmernden Fluß, der Havel, und dann diese entlang zu einem ungeheueren Gartenrestaurant, dem Schildhorn, wo am Fluß Tische unter den Bäumen standen und Kellner wie verrückt umherschossen. Aber so sehr die Kellner sich auch beeilten, sie brauchten volle eineinhalb Stunden zu ihrem Lunch. Und es gefiel ihnen. Unter dem gemeinsamen Einfluß der Frühlingsluft, des plätschernden Wassers und eines guten, schweren, verblödenden Essens wurden sie schlapp und waren zufrieden damit, da zu sitzen und Bier zu trinken, alle Städte und Hotelhallen zu vergessen, alle Automobile und die Gesellschaftsnachrichten im New York Herald. Marinierter Hering und Bier – Nudelsuppe und Bier – Eisbein mit von Butter triefendem Kartoffelpüree und Bier – Apfelstrudel mit Schlagsahne und Kaffee – der langsame Sam, die lebhafte Fran, der quecksilberne Kurt, sie alle schlangen mit dem gleichen Eifer, sie saßen in der Sonne am Wasser, in einer behaglichen, ganz ungesellschaftlichen Betäubung, in einer Betäubung, die so tief war, daß Fran und Kurt nicht sprachen und Sam nur sanft erstaunte über das fabelhafte Schauspiel, das sich ihm bot, als ein Mann auf einem Fahrzeug auf die Havel hinausfuhr, das angetrieben wurde wie ein Fahrrad – eine Prozedur, die für Sam ein ebensolches Sakrileg war, wie wenn man in einem Automobil rudern wollte.

Als sie sich von ihrem Verdauungsfieber wieder erholt hatten, machte Kurt mit ihnen, ohne nach ihren Wünschen zu fragen – er war immer ein wohlwollend despotischer Gastgeber – einen langen Spaziergang am Fluß entlang bis nach Potsdam.

Hier, erläuterte Kurt, lebe, von der Republik depossediert, eine kleine Kolonie der alten Junker, die Hofkreise der Vorkriegszeit, ausgediente Minister und Generäle mit ihren stolzen Gattinnen. Er führte sie zum Tee in das Haus seiner Tante, der alten Fürstin Drachenthal, deren Mann Diplomat gewesen war – er hatte sich sehr um die Verhinderung des Krieges bemüht und dann das durch diesen verursachte Elend nicht überleben können.

»Der Kronprinz kommt oft zum Tee zu ihr. Meine Tante wird ihnen gefallen. Sie ist ein liebes altes Ding«, sagte Kurt.

»Spricht sie Englisch?« fragte Sam unbehaglich.

Kurt sah ihn neugierig an. »Sie ist in England erzogen worden. Ihre Mutter war die Tochter des Herzogs von Wessex.«

Sam marschierte unermüdlich. Fran, in einem Kostüm, das so forsch war wie eine Kavallerieuniform, ging mit der raschen Nervosität der Tennisspielerin, während Kurt um die beiden herumhüpfte wie ein Airedale.

Sie gingen an Landhäusern – viereckigen weißen Würfeln auf riesigen Rasenflächen – und sonntäglich lauten Biergärten vorüber und kamen zu den feierlich grauen, schlichten Häusern Potsdams, das still ist wie der Gramercy Park oder wie ein Platz in Bath. Es war ein sauberes, anheimelndes, beruhigendes Land, und Sam merkte, daß ihm die Ordnung hier besser gefiel als die romantische Schlamperei Italiens. Und er merkte auch, daß er an den Deutschen nicht bloß Gefallen fand, sondern sich ihnen wesensverwandt fühlte.

Er litt noch immer an einer Kriegspsychose. Er hatte erwartet, in Deutschland despotische, »säbelrasselnde« Beamte und widerliche Polizisten zu finden, er hatte sich schon im voraus in eine angemessene Empörung hineingesteigert. Er war nahezu enttäuscht, als die Zollbeamten freundlich waren, als ein Berliner Schutzmann seine Fragen mit einem höflichen Gruß und englischer Auskunft beantwortete, und als der Zimmerkellner im Adlon sich daran erinnerte, sie im Blackstone Hotel in Chicago gesehen zu haben! Jetzt gestand er sich, daß er in ganz Europa, so interessant auch andere Nationen, so munter auch die Italiener und so lebendig die Franzosen sein mochten, nur in den Engländern und den Deutschen seine eigene Art wiederfand. Nur bei ihnen konnte er verstehen, was sie dachten, wie sie lebten, und was sie vom Leben haben wollten.

Dieser Strom der Berliner Sonntagsausflügler gefiel ihm – große Familien mit Babys und Kornbrot und Gurken und kaltem Schinken; eifrige junge Männer und Mädchen ohne Hut, die Mädchen mit dem kurzen Haar etwas männlich bis zum Hals, aber weiter unten ganz und gar weiblich; und ab und zu dazwischen Bayern, die getreulich an ihren grünen Hüten mit den Federn und den Krickelverzierungen festhielten, an den grünen Jacken, den grünen Lederhosen und Rucksäcken – in den Rucksäcken brauchte nicht mehr zu sein als ein Taschentuch, da ein wahrer Bayer den Rucksack weniger zu Transportzwecken trägt als aus angeborener Züchtigkeit; wie manche Völker das Gesicht, und manche die Brust verhüllen, so verhüllt der Bayer sein Kreuz.

Fran beschwerte sich darüber, daß sie so wenig von »Landestrachten« sah; sie betonte, daß die meisten dieser Ausflügler, von den wenigen Bayern abgesehen, von Leuten in Amerika nicht zu unterscheiden wären. Aber gerade das gefiel Sam ja an ihnen, nachdem er sich monatelang von dem Rosinenkuchen des Fremdartigen genährt hatte, und an diesem Nachmittag hatte er weniger Heimweh als seit Wochen; der Graf Obersdorf wurde ihm immer sympathischer; er spürte, daß der Spaziergang »ihm den Rost aus den Gelenken fraß«, er freute sich, daß Fran an Kurt eine muntere Gesellschaft hatte, und heiter kam er vor dem dunkelbraunen Herrenhaus der Fürstin Drachenthal an.

 

Sie war eine überzarte alte Dame, wie eine Porzellantasse, und sie wirkte auch so durchscheinend wie Porzellan. Sie sagte zu Fran »Mein liebes Kind« und hieß Sam in Deutschland willkommen. Kurt schien ihr von den Dodsworths telephoniert zu haben, sie sagte, es freue sie, daß ein »amerikanischer Großindustrieller« Deutschland aus erster Hand kennen lerne.

»Mein armes geschlagenes Land braucht die Mitarbeit Amerikas. Wir blicken Sie erwartungsvoll an – und wenn Sie unsern Blick nicht erwidern, werden wir nach Rußland schauen müssen.«

Sie schien es für selbstverständlich zu halten, daß Sam in einer Limousine gekommen sei, sie fragte, ob sie den Chauffeur ins Hinterhaus Tee trinken geschickt hätten, und als sie erfuhr, daß Kurt mit diesen fremden Würdenträgern tatsächlich in einem gewöhnlichen Volkslokal geluncht hatte und zufuß nach Potsdam gegangen war, schüttelte sie den Kopf, als könnte sie nicht begreifen. Es gab so viele Dinge, die die kleine alte Fürstin in diesen von den Maschinen regierten Tagen nicht begriff, sie, die als Mädchen in der beschützten Behaglichkeit eines alten, nach Kühen duftenden Landhauses in Schlesien und eines rosaroten Tudorgutshauses in Wiltshire aufgewachsen war, zu einer Zeit, als Grafen noch nicht in Touristen Agenturen arbeiteten und Amerika eine Wildnis war, in die sich, höchst unverantwortlich und böse, rebellische Bauern flüchteten. Aber sie hatte den Wirklichkeitssinn der guten Rasse und bemühte sich diesen riesigen »amerikanischen Großindustriellen« zu verstehen, der so still und freundlich war, diese lebhafte amerikanische Dame mit der wunderbar gekrausten Bluse unter der dunkelblauen Kostümjacke, das amerikanische Mädchen von unbestimmbarem Alter, neben deren heiterer Ausgeglichenheit der Graf Obersdorf wie ein lärmender kleiner Junge wirkte.

Sam gewahrte, wie abgetragen die Eleganz der Fürstin war, er war stolz auf Frans ehrerbietiges Benehmen und fand etwas Ausruhsames in dem Salon mit den sehr schlechten Goldstühlen, dem mit Ornamenten überladenen Kachelofen, den sehr schlechte Plaketten mit tanzenden Schäferinnen verzierten, mit den sehr schlechten Hirschjagden und Mondlandschaften, mit allzu zahlreichen Glaskästen, in denen die Orden des Fürsten Drachenthal zur Schau lagen, mit den allzu zahlreichen, verblaßten Kabinettphotographien aus den achtziger und neunziger Jahren – und doch, so schlimm auch alle Einzelheiten waren, das Ganze hatte die Atmosphäre vieler aristokratischer Generationen.

Zum Tee kam ein pensionierter deutscher General mit einem russischen Baron, der unter dem Zaren Oberst gewesen war, eine Frau von Soundso, die anscheinend so vornehm war, daß niemand daran dachte, etwas Erklärendes über sie zu sagen, und ein hübscher, temperamentvoller Junge, der Enkel der Fürstin, der in Bonn sein juristisches Examen machte und, wie er erzählte, nach Amerika gehen wollte. Sie alle hatten nichts von Renée de Pénables pretenziösem Wesen, sie waren so einfach wie eine Gesellschaft bei Tub Pearson, meinte Sam. Nein, sie waren einfacher, denn Tub hätte sich verpflichtet gefühlt, zum Besten der Herren und Damen komisch zu sein, und wenn es noch so weh tun sollte. Kurt von Obersdorf hatte alle kleinen Ungezogenheiten fallen lassen, in die er verfiel, wenn er auf Fran Eindruck machen wollte, und unterhielt sich mit dem russischen Oberst über den Bolschewismus.

Irgendwie gelang es ihnen, Sam zum Sprechen zu bringen. Er merkte, daß er sehr beredt war über Chromstahl und General Motors-Aktien, während Fran in einer Ecke ehrfürchtig heiter mit der Fürstin Drachenthal plauderte.

»Wie ein Nachhausekommen – nein, es ist mehr Nachhausekommen als das Nachhausekommen sein wird, weil Fran hier zufrieden ist. Ach, Herrgott, sie wird aber in Zenith zufrieden sein, wenn – Ach, hör doch auf damit! Natürlich wird sie zufrieden sein!« reflektierte Sam in seinem Innern, während Mr. Dodsworth nach außen höchst weise erläuterte: »– und meiner Meinung nach ist die größte Torheit im Weltgeschäft heute ein Wettbewerb zwischen amerikanischen, deutschen, französischen, englischen und italienischen Wagen in Südamerika, statt daß wir alle uns zusammentun und die Südamerikaner dazu erziehen, mehr Automobile zu kaufen, und daß wir ihnen vor allem dabei helfen, mehr durchgehende Chausseen zu bauen, die jede einzelne Quadratmeile des Kontinents aufschließen würden –«

 

Er begriff nicht, warum Fran sich in der Gesellschaft Edith Cortrigths in Venedig nicht wohlgefühlt hatte, während sie hier bei der Fürstin Drachenthal, die eine viel größere Persönlichkeit war, ganz zu Hause zu sein schien.

»Weil sie eifersüchtig war? Weil Mrs. Cortright als Amerikanerin eine Stellung, eine Wohnung in einem Palazzo und alles mögliche hat? Oder weil sie gespürt hat, daß Mrs. Cortright sie leichter erwischen kann, wenn sie blufft? Nein! Das ist ungerecht! Fran blufft nicht! Wie nett sie zu der alten Fürstin ist, und wie der Graf und der General und alle sich in sie verlieben!«

 

Ziemlich still fuhren sie mit der Bahn nach Berlin zurück. Sam sprach davon, daß Kurt eine Verabredung für den Abend haben müßte, aber Kurt protestierte fast kindisch: »O nein! Habe ich Sie gelangweilt? Sie müssen erlauben, daß ich Sie zum Dinner einlade!«

»Natürlich, es wird uns ein großes Vergnügen sein!« sagte Fran, und Sam rang sich, auf einen ermahnenden Blick hin, ab: »Kolossal nett von Ihnen, Graf.«

»Wenn Sie wirklich Lust haben, werde ich Ihnen ein nettes Restaurant zeigen, und nachher können wir vielleicht – wenn Sie nicht zu müde sind, Madame – noch irgendwohin tanzen gehen. Ich weiß, Sie tanzen wie ein Engel.«

»Gleich nach Carry Nation und Susan B. Anthony«, sagte Fran ernsthaft, »bin ich wohl die beste Tänzerin Amerikas.«

»Sind das berühmte Tänzerinnen?« fragte Kurt.

»Ja, sie sind so gut, daß man sie in Amerika die Goldstaubzwillinge nennt«, erklärte Sam.

»Wirklich? Und Sie tanzen wie die, Madame? Da werde ich mich sehr zusammennehmen müssen!« antwortete Kurt.

 

Während Fran sich zum Dinner umkleidete, tranken Sam und Kurt Cocktails in der Adlonbar. Sam fand Gefallen an den leuchtend roten chinesischen Chippendalewänden mit den kleinen burmesischen Figuren; an den etwas üppigen Bacchanalien der Malerei über dem Bartisch; an den Ecken mit den behaglichen Sitzbänken für die Trinker; und an der Tatsache, daß es hier ein Plätzchen in Europa gab, wo man niemals eine fremde Sprache hörte, das heißt keine Sprache außer Amerikanisch und, sehr selten, Englisch.

In der Bar waren immer fünf oder sechs von den in Berlin ansässigen amerikanischen Geschäftsleuten, Reedereivertreter, Bankiers, Filmleute, und den amerikanischen Journalisten diente sie als Klub, in dem sie sich gegenseitig mit Tips über Rußland und Rumänien, über die erwartete Rede Breitscheids und die Schulpolitik der Zentrumspartei versorgten.

»Hier gefällt es mir; ich sehe schon, daß ich ziemlich oft herkommen werde«, versprach sich Sam.

Er vergaß die Bar, während er Kurts Ergüssen zuhörte. Er hatte nie jemand gekannt, der so offen von seinen Gefühlen über seine Freunde sprach wie Kurt, niemand, der so viel Eifer gezeigt hätte, Sympathien zu gewinnen.

»Ist es ungezogen, wenn ich über Mrs. Dodsworth spreche?« fragte Kurt bittend. »Sie ist so reizend! Gewissermaßen eine arktische Schönheit, schimmernd wie Eis, und doch so warm und anmutig und nett. Und ein solcher Mut – eine Forscherin – aber sehr elegant – wie in einem Roman mit vielen Dienern und Umkleiden zum Dinner im Dschungel. Man merkt, daß sie alles tun könnte, was sie ernsthaft genug will. Ewig jung. Sie ist – vielleicht fünfunddreißig? – man könnte sie für achtundzwanzig halten. Unsere europäischen Frauen sind sehr gemütlich, es ist leicht, mit ihnen umzugehen, sie warten uns auf, aber es gibt nicht viele unter ihnen, die so etwas Rapierartiges haben wie Mrs. Dodsworth und so lustig sind – Ach, hoffentlich bin ich nicht ungezogen! Es ist ein Glück für sie, daß sie von einem riesigen roten Indianer wie von Ihnen – einem richtigen Häuptling – begleitet wird, der sie führen und beschützen kann!«

Sam produzierte ein höchst verlegenes Geräusch – etwas zwischen »Danke« und »Dreck!«

»Wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe, ich bewundere Amerika sehr, und es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen beiden, daß Sie mit mir bummeln gehen wollen! Und meine Freunde kennen lernen.«

»Die Freundlichkeit ist ganz auf Ihrer Seite, Graf. Du lieber Gott! Es ist wirklich kolossal nett von Ihnen, daß Sie uns mit so netten Leuten wie mit der Fürstin bekannt machen, und –«

»Ach, sagen Sie nicht ›Graf‹ zu mir. Ich bin kein Graf – es gibt gar keine mehr – die Republik wird bleiben – ich bin ganz einfach ein Angestellter der I.T.A.! Wenn ich nur mit einem Titel etwas bin, will ich lieber gar nichts sein! Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Kurt zu mir sagen wollen. Wir Österreicher haben dieselbe Vorliebe wie Sie Amerikaner dafür, Leute, die wir gern haben, beim Vornamen zu rufen. Ja.«

»Ja, das ist kolossal nett von Ihnen –«

Sam wäre gern wärmer geworden. Aber er spürte, daß er auf Fran wartete, daß Kurt wartete. Die Aussicht, wieder gütigst als Frans geduldige Eskorte zugelassen zu werden wie seinerzeit bei der Clique der Madame de Pénable, verdroß ihn. Und doch spürte er, daß Kurt es ehrlich meinte, wenn er von seiner Bewunderung für sie beide sprach, und zwang sich, in freundlichem Ton zu sagen:

»Ich glaube, zu den Dingen, die wir Amerikaner uns albernerweise einreden, gehört auch, daß wir behaupten, das einzige wirklich gastfreundliche Volk der Welt zu sein. Sie können mir glauben, noch nie ist ein Fremder in Amerika freundlicher aufgenommen worden, als Mrs. Dodsworth und – als Fran und ich hier und in England. Kolossal nett!«

Dann war Fran über ihnen in amethystfarbenem Seidensamt, und mit dem Seidensamt hatte sie eine begönnernde Erhabenheit angelegt. Der naive und arglose Kurt war verwirrt, und es dauerte zehn Minuten, bis er begriff, daß sie nicht aufgehört hatte munter zu sein, um Unzufriedenheit zu bekunden, sondern daß sie lediglich eine andere Rolle spielte. Sie wurde gebeten, mit den beiden einen Cocktail zu trinken, und stimmte voll Herablassung zu. »Es wäre ja ganz entzückend, einen Apéritif in der Bar zu nehmen, aber meinen Sie wirklich, kann man das?«

»O ja, das ist ganz schicklich … beinahe!« bat Kurt.

Sam sagte nichts. Er hatte Fran zu oft in den verschiedensten Bars mit sehr viel Vergnügen etwas trinken sehen, und »Apéritifs« hatte sie es auch nicht genannt.

Sie war höchst vornehm bei dem teuren Essen bei Horcher und lobte herablassend den Rheinlachs. Aber irgendwie fiel sie aus der Rolle – irgendwie, irgendeinmal begann Kurt sie »Fran« zu nennen, und sie gab es zu, indem sie »Kurt« zu ihm sagte; sie lachte, ohne ihr eigenes Lachen zu bewundern, sie gönnte den beiden einen Zwischenakt in ihrer Darbietung als weltkluge amerikanische Dame im Ausland und gestatte ihnen, wieder menschlich und vergnügt zu sein. Kurt sprach jetzt weniger funkelnd, natürlicher, und Sam merkte, daß Kurt, wenn er auch noch so sehr behauptete, jetzt kein Adliger, sondern ganz einfach Angestellter einer Touristenagentur zu sein, trotzdem einer der einst Mächtigen auf Erden war und, wäre der Krieg nicht gewesen, in Pracht und Herrlichkeit auf einer Burg sitzen würde. Sein Vater war Kammerherr und Freund des Kaisers gewesen, sein Großonkel, der Feldmarschall, hatte den Krieg gegen Preußen organisiert, und er selbst hatte als Junge mit dem Erzherzog Michael gespielt.

Sam mußte denken, ob Kurt trotz aller Echtheit seiner Familie nicht einer jener Romanabenteurer sein könnte, bei denen man immer darauf gefaßt sein muß, daß sie sich Geld borgen und einem Hinterwäldler aus dem Mittelwesten Schwindler auf den Hals hetzen. Er wies den Gedanken von sich. Nein. Wenn er überhaupt Menschenkenntnis hatte, dann war dieser Mann ehrlich und machte sich ohne jeden egoistischen Hintergedanken ein Vergnügen daraus, andere Leute zu unterhalten. Außerdem bürgten die Biedners für ihn, und für Frans Vater, den vorsichtigen alten Bierbrauer, war ein Biedner immer etwas nahezu ebenso Schönes und Zuverlässiges und überhaupt Biblisches gewesen, wie Aktien einer Nationalbank.

Fran hegte selbstverständlich nicht die geringsten Zweifel über Kurt von Obersdorf. In ihrer Freude über seine Erzählungen von den heiteren Tagen des alten Wiens vergaß sie sogar ihre eigenen Reize. Sie stimmte zu, als Kurt den Vorschlag machte, man solle in die Königin tanzen gehen; sie stimmte zu, als er den Vorschlag machte, man solle dieses dekorative, aber überfüllte Lokal der lebenslustigeren Junker verlassen und sich in das durchaus nicht vornehme Kabarett von Vetter Caspar wagen.

Der Witz dort befaßte sich in der Hauptsache mit dem Wasserklosett, und Sam war erstaunt, als er sah, daß Fran schamlos in Kurts brüllendes Gelächter einstimmte. Natürlich lachte er selbst auch, aber trotzdem – Na ja, dieser Obersdorf amüsierte sich über alles so, daß man selbst mitlachen mußte über – na ja, über Dinge, von denen man in Zenith nicht sprach, jedenfalls nicht in Damengesellschaft – Aber trotzdem –

 

Um ein Uhr nachts kamen sie aus dem Kabarett. »Jetzt nur noch eines!« bat Kurt. »Ein Lokal, wie Sie es in Amerika nicht sehen können, glaube ich. Etwas Schreckliches! So komische Männer gehen dorthin und tanzen miteinander. Aber sehen müssen Sie es einmal.«

»Ach, es ist ziemlich spät, Kurt. Ich glaube, es ist besser, wir gehen nach Hause«, sagte Sam. Ein ganzer Abend mit netten Geschichten und einer Flasche Champagner hatte ihn so weit erwärmt, daß es ihm natürlich vorkam, Kurt beim Vornamen zu nennen, aber nicht so weit, daß er die Wonnen eines guten weichen Kissens vergaß.

»Ja, es ist wirklich spät«, sagte Fran, aber ziemlich zögernd.

»Ach nein!« bat Kurt. »Das Leben ist so kurz! Schade um jede Stunde, die man verschläft! Und Sie sind nur so kurze Zeit hier. Dann werden Sie weiterreisen, und vielleicht sehe ich Sie nie wieder! Sie haben sich doch heute ganz gut amüsiert, nicht wahr? Wir sind doch gute Freunde, nicht? Wir wollen doch nicht so ernst sein! Bitte! Das Leben ist so kurz!«

»Aber natürlich kommen wir!« rief Fran; und obwohl Sam innerlich brummte: »Das Leben wird um ein verdammtes Stück kürzer sein, wenn ich nicht ab und zu schlafen kann!« machte er eine freundliche Miene, als sie in eine Autodroschke stiegen.

Das Restaurant, zu dem sie fuhren, hieß »Die neueste Ehe«, und nach zwei Minuten mußte Sam sich sagen, daß ihm die alte lieber sei. Hier, in einer Stadt, in welcher nach Ansicht der amerikanischen Witzblätter alle Männer dick wie Pfannkuchen und plump wie Ackergäule sein sollten, sah er viele zierliche junge Leute mit Stimmen wie Ballettmädchen, die miteinander tanzten und in den Ecken flüsterten, junge Leute mit violetten und rosa Krawatten, die Armbänder und große Ringe trugen. Und dann war noch ein Mädchen in lila Chiffon da – nur der Bau ihrer Schultern überzeugte Sam davon, daß es ein Mann war.

Als sie eintraten, winkte ihnen der Barjüngling – es war ein sehr hübscher Barjüngling mit rosa Bäckchen – mit seinem Tuch zu und sagte in einem schrillen, raschen Deutsch etwas, das Sam ungefähr dahin verstand, daß Kurt ein reizender Mensch sei, den man näher kennen lernen müsse, und er selbst ein stählerner Turm und ein ganzes Gebirge von Herrlichkeit.

Das war neu für Sam.

Er stand mit offenem Mund da. Seine Fäuste ballten sich halb. Das starke, rötliche Haar auf seinem Handrücken sträubte sich. Aber es war nicht Kampflust, was er empfand – es war Angst vor etwas Unheiligem. Er sah, daß Fran ebenso entsetzt war; stolz sah er, daß sie sich Schutz suchend an ihn schmiegte.

Kurt sah den spaßenden Barjüngling an, warf rasch einen Blick auf Fran und Sam und murmelte: »Das ist ein blödsinniges Lokal. Kommen Sie! Kommen Sie! Wir gehen wo anders hin!«

Schon war der Geschäftsführer bei ihnen, geziert lächelnd, und forderte sie in zwei Sprachen auf, ihre Garderobe abzugeben. Kurt sagte ihm etwas in einem raschen, zischenden Deutsch – etwas, das den Geschäftsführer erschrocken zurückspringen ließ – etwas so Fürchterliches und Verächtliches, daß Sam dachte: »Der Kurt ist doch ein ganzer Kerl. Wäre gar nicht so schlecht, ihn bei einer Rauferei bei sich zu haben!«

Als Kurt den schweren Brokatvorhang am Ausgang aufhob, um sie hinauszuführen, rief ihnen der Barjüngling noch etwas nach. Kurts Kinn schob sich vor. Es war eine gute Kinnlinie. Aber er wandte sich nicht um, und draußen auf der Straße bat er mit einer fast leidend aussehenden Miene Fran um Entschuldigung:

»Es tut mir wirklich leid. Ich war noch nie dagewesen. Ich hatte nur davon gehört. Ich dachte nicht, daß es so fürchterlich sein würde. Ach, Sie werden mir nie verzeihen!«

»Aber es hat mir gar nichts gemacht!« rief Fran. »Ich glaube, es wäre ganz amüsant gewesen, zuzusehen, einige Zeit.«

Kurt protestierte: »O nein, nein, nein! Selbstverständlich waren Sie außer sich! Kommen Sie! Ich weiß, gleich hier auf der anderen Straßenseite, noch ein anderes Lokal. Wenn Sie mitkommen, werde ich wissen, daß Sie mir verzeihen –«

Sie tanzten bis drei, und um diese Zeit schlief außer Kurt alles im Café. Das Orchester ging, und unter dem Beifallsgeschrei der unermüdlich heiteren Gruppen, die noch über ihrem Champagner schlummerten, ging Kurt nach vorn und spielte Klavier, und alle wachten gehorsam zu den letzten Überresten der Lustigkeit auf. Ein Deutscher mit einem Monokel, der aussah wie ein Offizier, bat Fran um einen Tanz, und Sam war imstande sich drei Minuten heimlichen Schlafes zu stehlen.

Es freute ihn, daß Fran und Kurt ihn ernst genug nahmen, um ihm zuzustimmen, als er brummte:

»Jetzt müssen wir aber nach Hause gehen.«

Es regnete, und die Straße sah aus wie das Innere eines polierten Stahlzylinders. Eine späte Droschke fuhr vor, aber der Portier mit dem großen Schirm war schon heimgegangen. Kurt zog sich den Rock aus, legte ihn Fran um die Schultern und wartete in Hemdsärmeln, bis Sam im Wagen war … Und er ließ es sich nicht nehmen, sich auf den kleinen Klappsitz zu setzen, er wollte sich nicht von ihnen nach Hause bringen lassen, sondern geleitete sie zum Adlon, und beim Abschied sagte er: »Es war aber nett, nicht! Und die Neueste Ehe verzeihen Sie mir, ja? Es war ein wunderbarer Tag, nicht wahr! Und Sie kommen doch Dienstag abend zu einem kleinen Essen zu mir, um ein paar Freunde von mir kennen zu lernen? Ach, Sie müssen!«

Ja, sie würden kommen, vielen Dank –

 

Als sie ganz verschlafen in ihrem Zimmer waren, fragte Fran: »Du hast dich doch amüsiert, nicht wahr?«

»Ja, höchstens in der letzten Stunde nicht. Ich war schon gehörig schläfrig.«

»Kurt ist doch reizend, findest du nicht auch?«

»Ja, er ist ein netter Kerl. Kolossal liebenswürdig.«

»Aber du lieber Gott, wie rechthaberisch er ist! Er hat ganz einfach verlangt, daß ich über diese Lasterhöhle empört bin, und ich mußte alles tun, um ihn zufrieden zu stellen – und dich auch, ihr unschuldigen, keuschen Männer! Na, er ist ein netter Junge, und du auch, und ich werde bis mittag schlafen, Berlin gefällt mir!«


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