Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einunddreißigstes Kapitel

Sam machte die Saison am Lido keine übermäßige Freude. Die Hotels kamen ihm so ziemlich vor wie die Chicagoer Weltausstellung von 1893, vermehrt um die Düfte eines Schwitzbades; und die Intimität, mit der zwei Drittel dieser sich sonnenden, badenden, lunchenden, tanzenden Gesellschaft einander kannten, ob es nun Italiener, Engländer, Amerikaner oder Österreicher waren, ließ ihn nur um so mehr fühlen, daß er außerhalb stand. Er ging wieder nach Venedig zurück, in das Bauer-Grünwald, weil ihm dieses Hotel trotz seiner deutschen Atmosphäre, die ihn allzu sehr an sein Berliner Unglück denken ließ, behaglicher war als das Royal Danieli.

Venedig ist die freundlichste Stadt der Welt. Es gibt andere Städte, in denen man vielleicht freundlichere Menschen finden kann. Aber in Venedig ist es die Stadt selbst, das Bild der Piazza San Marco, die gemütlichen Gäßchen, die offenen Werkstätten der Kupferschmiede, die zahllosen stets geöffneten Kirchen, die abwechselnd überschwänglichen und zänkischen Gondolieri, die gierigen, aber liebenswürdigen Tauben, der sanfte Himmel, das plätschernde Wasser des Canale Grande, die Caféhäuser, die ihre Tische über die halbe Piazza vorschieben, die Paläste, die in ihren prächtigen Balkonen so stolz sind, und so heiter arm in ihren Bewohnern, die Volksmenge, die nichts anderes zu tun hat, als herumzuflanieren und auf die Orchesterkonzerte zu warten – all dies ist so liebenswürdig, daß dem Fremden hier weniger als anderswo in der Welt die Unterhaltung mit Bekannten und Freunden fehlt.

Sam fand das Warten, zu dem sein ganzes Leben geworden war, jetzt erträglicher, als es jemals gewesen war, außer wenn er auf seiner Wanderung mit Ross von Müdigkeit betäubt war, oder als die durchaus nicht jungfräuliche Heilsarmeesoldatin Nande Azeredo ihn aufopferungsvoll gerettet hatte. Er blieb bis neun Uhr im Bett liegen, zufrieden dem Rauschen des Canale Grande und dem Gezänk der Gondolieri unten lauschend. Er stand auf, um sich friedlich an das Fensterbrett zu lehnen und die Wunder von Santa Maria della Salute und San Giorgio Maggiore zu betrachten, die auf ihren winzigen Inselchen auf das Meer hinauszuschwimmen schienen; das Panorama der Gemüse-, Ziegel- und Zementkähne zu beschauen, die sich in Seitenkanäle quetschten, während die Schiffer mit den aristokratischeren Gondolieri und den uniformierten Führern der Motorboote, die Beamten gehörten, großartig stritten. Er trank ein bescheidenes Täßchen Kaffee und schlenderte, unterwegs die neueste Pariser Ausgabe der Daily Mail, der Chicago Tribune und des New York Herald kaufend, auf die Piazza zum eigentlichen Frühstück.

Am Nachmittag waren Florian und Aurora die bevorzugten Lokale, weil sie vor der stechenden Sonne geschützt waren, aber vormittags lagen Quadri und Lavena im Schatten, und in einem dieser Cafés trank er seinen Kaffee, aß er Hörnchen mit dickem Honig vom Monte Rosa und las die Zeitungen, freute sich über die Nachrichten aus Washington und New York, freute sich, wenn er sah, daß jemand, den er kannte, Ross Irland oder Endicott Everett Atkins, mit einer Berühmtheit bei Ciro gespeist hatte. Und einmal sah er in den Nachrichten aus Berlin, daß Mrs. Samuel Dodsworth Ehrengast bei einem von der Fürstin Drachenthal gegebenen Dinner gewesen sei, und daß man unter den Anwesenden den Grafen Obersdorf, die Baronesse de Jeune, Sir Thomas Jenkins von der Interalliierten Kommission und den neuen Geheimrat Dr. Biedner gesehen habe. Er blieb lange sitzen und blickte verloren über die Piazza auf die Schar der Touristen, die sich von ihren Frauen photographieren ließen, während sie die Tauben von San Marco fütterten.

Er beschäftigte sich mit seinem neuen Steckenpferd, der Architektur. Ruskins »Steine von Venedig« unter dem Arm, sah er täglich eine neue Kirche, einen neuen Palast, und hin und wieder zeichnete er ganz gute Skizzen, wobei er durchaus nicht unzufrieden war, wenn Touristen laute Bemerkungen austauschten und ihn für einen wirklichen Künstler hielten. Er lunchte einfach; hierauf schlief er eine Stunde, und dann widmete er sich der eigentlich einzigen wichtigen Pflicht, die ein kluger Besucher Venedigs hat – den größten Teil des Nachmittags und des Abends auf der Piazza sitzend zu verbringen und nichts anderes zu tun, als zu schauen.

Es war schön gewesen, in Paris oder Unter den Linden das Straßenleben zu betrachten, aber dort hatten die Automobile, die Pferde und die energischen Polizisten es etwas schwer gemacht. Hier, wo es keinen Verkehr gab, wo die von Marmorwänden eingefaßte Piazza einer Opernbühne glich, gab es nur eine faule und ungehetzte Behaglichkeit. Das Bild änderte sich jeden Augenblick, bald kamen zwei Fascisten-Offiziere vorbei, schmuck in schwarzen Hemden, olivengrünen Uniformen und Dienstmützen mit Goldquasten, bald waren es zwei Carabinieri mit napoleonischen Dreispitzen und der feierlichen Haltung von Richtern. Dann spie ein Touristendampfer einen Haufen freudig erregter Neulinge aus – wißbegierige Deutsche, gelassene Engländer, goldhaarige Skandinavier, oder Amerikaner, die Frauen aufgeregt, und die Männer mit Zigarren in den Mundwinkeln, in aller Öffentlichkeit erklärend, wenn das Venedig sei, dann könne es ihnen nicht so verflucht imponieren.

Die Führer, etwas geringer an Zahl, aber viel zudringlicher, als die Tauben, attakierten jeden, der nicht in der heiligen Handlung des Photographiertwerdens begriffen war, und schrien in schauderhaftem Englisch, daß sie ausgezeichnet Englisch sprächen und San Marco zeigen wollten. Die Kinder liefen allen unter die Füße. Die Zigarettensammler stürzten sich auf jeden Stummel, der zu Boden fiel. Die englischen Paare schritten voll freundlich gelassener Verachtung vorbei. Und schließlich verwandelte der Sonnenuntergang das dunkle verbleite Glas hinter den Pferden von San Marco in flammendes Gold.

 

Er war zufrieden im Vergleich zu seinen Leiden in Paris, aber er war auch einsam, trotz allem, was sich auf der Piazza tat. Er mußte jemand zum Sprechen haben, und niemals sah er einen Menschen, den er kannte.

Es war nicht leicht für ihn, Bekanntschaften zu machen. Einmal saß am Nebentisch eine amerikanische Gesellschaft. Die Leute sahen nicht sehr kompliziert und schwierig aus; es schienen Kleinstadtkaufleute und -anwälte mit ihren Frauen zu sein; und Sam nahm die Gelegenheit wahr. Er beugte sich zu einem kleinen Mann mit Brille vor, der ihm am nächsten saß, und fragte: »Auf einer Weltreise?«

Der kleine Mann machte eine höhnisch vorsichtige Miene. Er hatte die Zeitungen gelesen. Er würde sich von keinem dieser glatten internationalen Gauner drankriegen lassen!

Er schnaubte: »Ja«, und hatte weiter nichts hinzuzufügen.

»Äh – gefällt es Ihnen in Italien?«

»Ja, danke!«

Der Kleine drehte ihm den Rücken, und Sam wurde rot und schämte sich und war noch viel einsamer als zuvor.

Er war dankbar, als er von einem großen, trübseligen Bayern mit grünem Hut angesprochen wurde, der anscheinend noch trostloser war als er; sie hatten wohl nicht mehr gemeinsam als hundert englische, zwanzig deutsche und zehn italienische Worte, aber sie waren beide starke Männer, die viele Handbewegungen ertragen konnten, ohne zu ermüden. Sie standen einander bei im Kampf mit den Gondolieri und wanderten gemeinsam zum Colleoni-Denkmal, zu San Giovanni und San Paulo, bestaunten die Glasmacher in Murano und besichtigten das armenische Kloster auf der friedlichen Insel San Lazzaro. Sam brachte den bayerischen Freund ebenso bedauernd an die Bahn, wie er Ross Ireland in Interlaken begleitet hatte, und diesen ganzen Abend blieb er an seinem Tisch bei Florian, als wäre das sein einziges Heim.

 

Er hörte in regelmäßigen Abständen von Fran, aber jetzt zauderte er, bevor er die Briefe öffnete, die einst immer Feste für ihn bedeutet hatten.

Sie klagte ziemlich viel. Es hatte geregnet – es war heiß gewesen. Sie war eine Woche in Tirol gewesen (sie sagte nicht, daß Kurt mitgekommen war, aber er erriet es) und die Hotels waren überfüllt gewesen. Sie hatte das noch nie dagewesene Unglück gehabt, in einem kleinen Hotel wohnen zu müssen, wo das Essen schlecht, die Gäste noch schlechter waren. Sie hatte einen Vetter von Kurt kennen gelernt, einen österreichischen Gesandten, und obgleich sie ihren ganzen Witz und ihre ganze Höflichkeit an diesen Menschen verschwendet hatte, war ihr kein Erfolg beschieden gewesen.

Ob Sam selbst zufriedener sei als sie, danach fragte sie niemals.

Ihre Briefe stimmten ihn immer ein wenig melancholisch. Und er konnte aus ihnen herauslesen, daß sie ihn gern wiedersehen würde.

 

An einem glühend heißen Nachmittag saß er kurz nach vier Uhr auf der Piazza und dachte über einen dieser Briefe nach. Er sah eine Frau, die ihm bekannt vorkam, an seinem Tisch vorübergehen. Sie war etwa vierzig; sie war zierlich und ziemlich klein. Sie war in schmucklosen schwarzen Krepp gekleidet und trug einen großen schwarzen Hut mit einer kleinen Brillantenagraffe. Ihre Hände waren fein wie Spitzen.

Er erinnerte sich. Es war Mrs. Cecil R. A. Cortright, Edith Cortright, die in Amerika geborene Witwe des englischen Botschafters in Rumänien (oder war es Bulgarien?), die sie vor Monaten auf Veranlassung von Tubs Neffen zum Tee im Palazzo Ascagni gebeten hatte. Er sprang auf, um das erste bekannte Gesicht zu begrüßen, das er seit Wochen sah; er zögerte – Mrs. Cortright war keine Frau, die man achtlos begrüßen konnte. Er wagte es noch einmal. Er warf einen Zehnlireschein für den Kellner auf den Tisch, ging mit seinen langen Schritten um den Platz herum und richtete es so ein, daß er ihr begegnete, als sie über die Piazzetta Dei Leoni kam und in die Calle di Canonica einbog.

»Oh, guten Tag«, rief er. »Erinnern Sie sich noch, daß ich im Frühling mit meiner Frau bei Ihnen zum Tee war – wir sind Bekannte von Jack Starling –«

»Ach, aber natürlich! Mr. –?«

»Samuel Dodsworth.«

»Sie sind aber wirklich mit Ihrer Frau sehr bald wieder hierher gekommen.«

»Ach, sie, äh, sie hat in Berlin bleiben müssen.«

»So? Sie sind allein hier? Sie müssen wieder einmal zum Tee kommen.«

»Mit dem größten Vergnügen. Gehen Sie hier entlang?« Höchst feierlich, ziemlich hoffnungsvoll.

»Ich muß nur eine Kleinigkeit holen. Da unten ist ein Kaninchenbau von einem Bäcker – Vielleicht können Sie mitkommen und heute bei mir eine Tasse Tee trinken, wenn Sie nicht von Freunden erwartet werden.«

»Ich kenne keine Menschenseele hier.«

»Dann müssen Sie selbstverständlich kommen.«

Er ging etwas schwerfällig neben ihr einher und meinte: »Sie müssen schrecklich viel Leute am Lido kennen, jetzt wo die Saison angefangen hat.«

»Ja. Leider Gottes!«

»Die Photographiergesellschaft ist Ihnen nicht sympathisch?«

»Ach, das ist ein netter Name dafür!« rief sie. »Ich habe immer schon eine Bezeichnung gesucht. Manche sind ja wirklich sehr angenehm; nette einfache Leute, die tatsächlich gern tanzen und schwimmen, und nicht bloß an den Lido gehen, um gesehen und photographiert zu werden. Aber es gibt eine internationale, eine anglo-franko-amerikanische Clique – elegante Frauen, nur etwas zweideutig, Männer, die nicht viel mehr haben als Titel und Schneider, merkwürdige Paare, die zu gut Bridge spielen, und Millionäre mit drei Kinnen – ja, mir kommt das ganze vor wie eine Menagerie. Eine fürchterliche Frau ist da, eine gewisse Renée de Pénable –«

»Ach, die kennen Sie?«

»Das läßt sich ja nicht vermeiden! Die Frau bringt es zuwege, gleichzeitig in Paris, am Lido, in Deauville, Cannes, New York und auf allen bekannten Zügen und Schiffen zu sein! Sie kennen sie? Gefällt sie Ihnen?«

»Sie ist mir fürchterlich«, antwortete Sam. »Ach, ich weiß nicht, ob ich das hätte sagen sollen. Sie hat sich schrecklich anständig gegen uns benommen. Aber ich bin überzeugt davon, daß sie eine Schwindlerin ist.«

»Nein, dazu ist sie viel zu klug. Sie benimmt sich ganz anständig gegen neunundneunzig von Hundert in ihrer Gesellschaft – lauter in Gold gefaßte Vagabunden! – damit sie den geblendeten Hundertsten dazu gewinnen kann, daß er ihr ein Modeatelier oder eine Wohltätigkeitsgesellschaft oder irgend etwas anderes einrichtet, das dann nach zwei Monaten auf rätselhafte Weise zusammenbricht. Sie – ach, sie ist natürlich sehr amüsant.«

Sie lächelten einander verständnisvoll an, zur Zufriedenheit sieben junger Venetianer, die sich damit beschäftigten, nichts zu tun, wozu sie sich den dunkelsten und übelriechendsten Sottoportico ausgesucht hatten.

Sam freute sich darüber, daß Edith Cortright so menschlich war und Geduld für große, verirrte Männer hatte. Noch mehr freute er sich, als er sie mit dem Inhaber der kleinen Bäckerei um ein Dutzend Küchelchen feilschen hörte. Der Bäcker verlangte fünf Lire, Mrs. Cortright bot zwei, und schließlich einigten sie sich auf drei, was wahrscheinlich dem Werte entsprach.

Oft genug hatte Sam Fran dasselbe tun sehen. Aber von ihr war immer zu erwarten, daß sie die Geduld verlor, und noch mehr, daß sie den Geschäftsmann dazu brachte, die seine zu verlieren. Bei Mrs. Cortright schüttelte der Bäcker sämtliche Finger, er starb nahezu an der Schmach, die seinen Meisterwerken angetan wurde, und behauptete, seine neun Kinder und seine Großmutter würden verhungern, aber sie lachte nur, und er lachte ununterbrochen zurück. Er nahm die drei Lire in größter Freundlichkeit und rief ihnen sein »Addio!« nach, als ob es ein Segensspruch wäre.

»Die gute Seele!« sagte Mrs. Cortright auf dem Rückweg zur Piazza. »Wir machen das jede Woche. Das ist eigentlich auch der Grund dafür, daß ich selbst hingehe und nicht ein Mädchen hinschicke, das sie wahrscheinlich um zwanzig Centesimi billiger als ich bekommen, und zehn davon einstecken würde. Aber dieser Bäcker ist ein Künstler, und wie alle Künstler konservativ. Er versucht die Tradition der guten alten Zeiten aufrecht zu halten, als Kaufen und Verkaufen in Italien wirklich noch ein Abenteuer war, weil es für alle Welt ein Sport war, zu handeln – Das sind die Zeiten, die Baedeker meint, wenn er darauf aufmerksam macht, man soll eine ruhige und angenehme Haltung während solcher Geschäfte bewahren. Aber ich fürchte, das alles wird bald vorbei sein. Unter der vereinigten Wirkung der fascistischen Ordnung und des geschickt aufgezogenen Geschäftes, auf die Reisenden Eindruck zu machen, werden die Läden allmählich ebenso zuverlässig wie Swan and Edgar oder Woolworth, und ungefähr ebenso schauderhaft. Ich glaube, ich werde zurückfahren und die wenigen Jahre, die mir noch bleiben, in der Mulberry Street in New York verbringen. Das ist jetzt so ziemlich der einzige Teil von Italien, der noch nicht zu Tode bereist und geschildert und gemalt und erklärt ist; der einzige Teil, in dem die gute Tante des Geistlichen noch nicht allein reisen kann.«

In der Gesellschaft der aggressiv vornehmen Fran war Edith Cortright nicht allzu gesprächig gewesen, hatte sie ihr Herz hinter pflichteifriger Höflichkeit verborgen, so wie sie die Zartheit ihres Leibes unter Kleidern aus schwarzem, unauffälligem Material verbarg. Aber jetzt, als sie, der Sonne unter Arkaden und riesigen, aus winzigen Gäßchen aufsteigenden Mauern ausweichend, zum Palazzo Ascagni schritten, als sie die feierliche Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstiegen und in den kühlen, riesigen Zimmern hinter den Jalousien, durch die die Sonne einzelne, wütende Strahlen schicken konnte, erleichtert und erlöst aufseufzten, ließ sie sich ein wenig gehen und war, bei aller Gehaltenheit, sehr munter. Es war, als ob sie alles im Leben amüsant fände und es liebte laut darüber nachzudenken. Und sie wirkte jünger. Er hatte sie für fünfundvierzig gehalten, jetzt sah sie aus wie vierzig.

Der Steinfußboden in ihrem Salon, viereckige Platten, die elfenbeinern glänzten, und das alte Nußbaumholz eines Schrankes aus dem sechzehnten Jahrhundert erzählten von Stille und einer Zivilisation, die im Verlauf von Jahrhunderten sicher und ruhig gewachsen ist. Die steifen Klosterstühle, die dem Raum etwas Feierliches gegeben hatten, als Sam ihn im Frühjahr sah – und ebenso die gepolsterten amerikanisierten Lehnstühle, mit denen Mrs. Cortright die Starrheit venetianischer Pracht gemildert hatte – waren von Korbstühlen mit bunten Kissen ersetzt.

Sams Seele wurde hier erfrischt, sein heißer Leib wurde erfrischt, und als Mrs. Cortright sich so erhaben über den Expatriierten-Amerikanismus zeigte, daß sie es wagte, amerikanisch zu sein und eisgekühlten Tee anzubieten, freute er sich über sie mehr als über die Mosaike von San Marco, die er mit einer überraschenden Dosis Aufrichtigkeit bewundern gelernt hatte. Mrs. Cortright und der Raum, in dem ihr Wesen sich ausdrückte, schienen ihm ebensoviel Tradition zu haben wie der verblichene Glanz der Fürstin Drachenthal in Potsdam; aber Mrs. Cortright konnte er erreichen, konnte er verstehen, bei ihr mußte er sich nicht vorkommen wie ein kleiner Junge, der von der Frau des Schullehrers zum Tee eingeladen ist und idiotisch grinst. Er hatte ein wenig Angst vor ihr, ein wenig Angst davor, daß hinter ihrer blassen Zurückhaltung ein Urteil über einen so wankelmütigen Reisenden, wie er es war, verborgen sein könnte. Aber es war eine Furcht, die er begreifen, der er antworten konnte, nicht ein Albdruck Entsetzen erregender Fremdheit.

Er sah, daß Mrs. Cortright in der Zeit der kurzgeschnittenen Haare, da keine Frau es wagen würde so exzentrisch zu sein, ihr Haar lang trug, einfach gescheitelt, nicht einmal gar zu sorgfältig. Und er sah wieder die lieblichen Hände sich zwischen den Tassen aus hellbrauner Majolika bewegen, wie weiße Katzen.

Diesmal sprach sie nicht von Diplomaten, Rivieravillen und Malerei. Sie sagte:

»Erzählen Sie mir – Ich bin wirklich nicht zudringlich; ich frage mich dasselbe, und vielleicht suche ich eine Antwort für mich selbst. Was finden Sie an Europa? Warum bleiben Sie hier?«

»Ja, das ist nicht leicht zu sagen.« Er trank von seinem kalten Tee und genoß mit der Zunge den leicht herben Geschmack. »Ach, ich glaube – Also, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, es ist wegen meiner Frau. Es hat mir Freude gemacht, daß ich ins Ausland gekommen bin. Ich habe eine Menge gelernt, nicht nur über Bilder und solche Dinge, sondern auch in meinem eigenen Beruf. Ich bin Automobilfabrikant, wie Sie vielleicht noch wissen. Ich habe mir zum Beispiel die Rolls-Royce-Werke in England angesehen, und es war wirklich eine Offenbarung für mich, daß man dort bereit ist, Geld zu verlieren, indem man mit der Hand poliert, statt mit Maschinen wie wir, weil man überzeugt ist, daß es mit der Hand besser gemacht wird. Aber – ach, ich kann sehr gut verstehen, daß die Künstler, die sich in Orten wie Florenz aufhalten, und denen es ganz gleichgültig ist, ob die Regierung monarchistisch oder kommunistisch ist, solange nur der Tee und die Sonnenuntergänge gut sind, völlig zufrieden Jahre lang hierbleiben können. Aber ich – mich beunruhigt es, daß ich immer außerhalb stehe. Ich komme mir vor wie der kleine Junge, den man bei der Beratung, wo das Picknick stattfinden soll, gar nicht hat mitreden lassen. Ich glaube, es ist schrecklich ungebildet von mir, daß mir nichts daran liegt, noch mehr Galerien und Ruinen zu sehen, aber – ich möchte nach Hause und etwas machen! Und wenn es nicht mehr ist als ein Hühnerhof!«

»Aber könnten Sie das nicht hier tun? In England zum Beispiel?«

»Nein. Ich bin überzeugt, die englischen Hühner würden mich nicht verstehen, weil ich amerikanisch rede, und würden eingehen.«

»Sie wollen also nicht hierbleiben? Warum fahren Sie dann nicht nach Hause?«

»Ach, ja, meine Frau meint noch immer –«

Mrs. Cortright murmelte rasch, als müßte sie eine Entgleisung verdecken: »Sie ist wirklich eine reizende Frau. Ich erinnere mich sehr gern an sie. Es muß ein Vergnügen sein, mit ihr zu reisen … Und bitte, glauben Sie nicht, daß ich zu den Dummköpfen gehöre, die Bildermalen für etwas besseres halten als die Arbeit des Fabrikanten – ich halte es weder für etwas schlechteres, wie Ihre Handelskammern, die der Ansicht sind, daß alle Künstler überflüssig sind, die nicht Bilder für Strumpfreklame malen, noch halte ich es für etwas besseres, wie alle eingebildeten Gänse, die der Meinung sind, daß jedem Geschäftsmann mit sauberen Nägeln unweigerlich Golf spielen lieber ist als Beethoven.«

 

Es war keine funkelnde Konversation, und Sam wurde auch von nichts ganz Neuem geblendet. Sowohl in Europa wie in Amerika hatte er alle Theorien über moderne Geschäftsleute kennen gelernt: daß sie die Könige und einzig Schaffenden im Zeitalter der Industrien seien, daß sie langweilige und widerwärtige Despoten seien. Er hatte sich seine eigene Ansicht gebildet: daß sie genau so seien wie andere Menschen, untereinander ebenso verschieden wie Schuhflicker, Arbeiterführer, javanische Tänzer, Kehlkopfspezialisten, Walfisch-Fänger, Geistliche oder Spargelzüchter. Doch in den Worten Edith Cortrights lag eine Sympathie, etwas, das Achtung vor ihm zu sein schien, und etwas, das ihn fühlen ließ, daß sie viele seltsame Länder gesehen und viele seltsame Menschen gekannt hatte, und das belebte ihn. Es erschien ihm selbst unglaublich, aber er versuchte ihr einen Begriff von seiner Lebensphilosophie zu geben; noch unglaublicher, er fand sich bereit zuzugeben, daß er gar keine hätte. Sie nickte, als wollte sie dasselbe gestehen.

Er drängte: »Es hat mich wirklich gefreut, mit Ihnen zu sprechen. Hören Sie: wäre es ungezogen von mir, wenn ich Sie bitte, jetzt, wo es kühler wird, wenn Sie frei sind, eine Gondelfahrt mit mir zu machen und dann vielleicht am Lido mit mir zu essen? Ich bin, äh – ein bißchen allein gewesen.«

»Ich würde es sehr gern tun, aber ich kann nicht. Sehen Sie, meine Freunde hier gehören größtenteils zu den ziemlich schwerfälligen, schrecklich peniblen, ganz reizenden alten italienischen Familien, die noch nicht einmal ihre Empörung über Colleoni völlig überwunden haben. Ich fürchte, ich könnte höchstens mit einer Garde eine Gondelfahrt mit Ihnen machen, und das wäre schauerlich langweilig. Aber wollen Sie nicht morgen abend zum Dinner hierher kommen – halb neun, schwarzer Binder?«

»Mit Vergnügen. Halb neun … Aber warum bleiben Sie in Europa?«

»Ach … ich glaube, Amerika erschreckt mich. Ich fühle mich unsicher dort. Ich habe das Gefühl, alles beobachtet mich und bekrittelt mich, wenn ich nicht sehr geschäftig tue, mit irgend einer überaus wichtigen Sache – das Filmniveau heben, oder Einstein studieren, oder Bridgemeisterschaften gewinnen, oder Schnauzer züchten oder so etwas. Und man hat drüben gar kein Privatleben, und was diesen Luxus angeht, bin ich sehr anspruchsvoll.«

»Aber hören Sie! In Amerika könnten Sie Gondel- oder Automobilfahrten machen, so viel sie wollen. Hier müssen Sie eine Garde mitnehmen, wenn Sie Gerede vermeiden wollen!«

»Nur in einer Gesellschaftsschicht – bei den formellen Menschen, mit denen ich (kluger- oder törichterweise) zu leben beschlossen habe. Mein Kaufmann und mein Zahnarzt und mein Nachbar unter mir (ein nett aussehender Mensch – ich glaube, es ist ein Spieler) die glauben nicht das Privileg zu haben, mir bei der Ordnung meiner Angelegenheiten helfen zu müssen, oder besser, sie täten es nicht, wenn ich so extravagant wäre, überhaupt Angelegenheiten zu haben! Daheim aber täte man es. Nur in Europa kann man das Vergnügen haben, anonym zu sein, in der Menge zu verschwinden, man selbst zu sein, die Würde eines privaten Daseins zu genießen!«

»Versuchen Sie es mit New York! Dort können Sie ausgezeichnet verschwinden!«

»Ach, aber New York – dort spielt man Internationalismus. Russische Juden in Londoner Kleidern besuchen italienische Restaurants mit griechischen Kellnern und afrikanischer Musik! Hundertprozentige Bastarde! Kein Wunder, daß die Amerikaner sich wieder nach Hause flüchten, nach Sussex oder Somerset! Und niemals, weder bei Tag noch bei Nacht oder in der Dämmerung, kann man dem Lärm der Hochbahn entrinnen! New York – nein. Aber ich bin überzeugt, daß es noch ein gesundes, echtes Amerika gibt – das auch nicht puritanisch ist, nicht puritanischer, als Lincoln oder Franklin war – ein Amerika, das Sie kennen. Aber sagen Sie mir (um von meinem verirrten, vaterlandslosen, schrecklich ziellosen und unwichtigen Ich abzukommen) sagen Sie mir aufrichtig: Was haben Sie in Europa gesehen – ich meine Dinge, an die Sie sich auch noch in zehn Jahren erinnern werden?«

Er sank in seinem Sessel zusammen, rieb sich das Kinn und seufzte:

»Ja, ich glaube ungefähr ebensoviel, als ich erfahren könnte, wenn ich die Schiffs- und Hotelinserate in einer New Yorker Sonntagszeitung lese! Ich weiß noch weniger als vor meiner Reise. Damals wußte ich, daß alle Engländer Eiszapfen sind, daß alle Franzosen schwatzen, und daß alle Italiener in der Sonne sitzen und singen. Jetzt weiß ich nicht einmal so viel. Ich habe den Verdacht, daß die meisten Engländer freundlich, die meisten Franzosen schweigsam sind, und daß die meisten Italiener arbeiten wie der Deibel – entschuldigen Sie!«

»Ganz richtig!«

»Ich habe an allem zweifeln gelernt. Ich habe gelernt, daß sogar ein ziemlich erfolgreicher Geschäftsmann – und das war ich wirklich, wenn ich auch jetzt nichts weiter als ein Faulenzer zu sein scheine –«

»Ach, ich weiß!«

»Ich habe gelernt, daß sogar ein ganz tüchtiger Garagenboss wie ich nicht viel taugt, wenn es sich um die Wahl zwischen Poiret und Lanvin oder zwischen zwei Möbelstilen handelt. Ein amerikanischer Geschäftsmann sollte niemals ins Ausland gehen, höchstens zu einer Rotary-Zusammenkunft oder mit einer Rundreisegesellschaft, auf jeden Fall so, daß er von allen Ausländern isoliert ist. Es beunruhigt ihn. Es verdirbt ihm die Freude an seiner eigenen Großartigkeit und seinem Wissen! … Was habe ich gelernt? Das ist schnell gesagt: die Namen von vielleicht fünfzig Hotels, von denen ich in ein paar Jahren höchstens noch fünf wissen werde. Die Fahrpläne von fünf oder sechs Luxuszügen. Die Namen einiger Burgundersorten. Wie man ein normannisches Tor von einem gotischen unterscheidet. Wie man sich französisch etwas zum Essen bestellt, vorausgesetzt, daß nichts Ausgefallenes auf der Speisekarte steht. Und ich kann ›Wie viel‹ und ›Zu viel‹ auf englisch, französisch, deutsch, italienisch und spanisch sagen. Das wird so ziemlich alles sein, was ich hier gelernt habe. Ich glaube, ich habe zu spät angefangen.«


 << zurück weiter >>