Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Während Sam packte, um nach New Haven zu seinem dreißigsten Abituriententag zu fahren, klopfte es plötzlich leise an der Tür. Er brüllte »Herein« und blickte sich zunächst gar nicht um. Als aber nach dem Öffnen der Tür alles still blieb, sah er nach.

Tub Pearson stand grinsend auf der Schwelle.

»Na, du dicker kleiner Zwerg!« sagte Sam, und das hieß: »Mein lieber alter Freund, ich bin entzückt, dich wieder zu sehen!« Und Tub gab zur Antwort: »Du lange Latte, in Europa hat man also genug von dir gehabt? Und da hast du wieder nach Hause laufen müssen, was? Du Affenschwanz!« Was für jeden Kenner der amerikanischen Sprache bedeutete: »Ich habe mich in Zenith schrecklich nach dir gesehnt, und wenn du nicht zurückgekommen wärst, hätte ich wahrscheinlich auf den Abituriententag verzichtet und die Reise nach Europa gemacht, um dich zu sehen – allen Ernstes.«

»Du siehst aber gut aus, Tub.« Und sie klopften einander kurz auf die Arme.

»Du auch. Ausgezeichnet siehst du aus. Europa ist wohl zufrieden mit dir gewesen. Hast du mir etwas von dem feinen französischen Wein mitgebracht?«

»Selbstverständlich, ich habe eine ganze Kiste in meiner Kragenschachtel.«

»Na, her damit. Schieben wir das traurige Geschäft nicht auf.«

Hinter einem Koffer (wo, den neuen amerikanischen Regeln zufolge, alle Hotelgäste ihre Whiskyflaschen verstecken, um dem Hotelpersonal das Suchen leichter zu machen) holte Sam etwas hervor und sagte lächelnd: »Du wirst das vielleicht für ganz gewöhnlichen, geschmuggelten Methodistenkorn halten, Tub, aber du mußt bedenken, daß du nicht eine teure Reise gemacht und dich gebildet hast, wie ich. Sag halt … Ach, Tub, ich habe eine Flasche vom richtigen gehabt – Vorkriegs-Scotch – und die hat man mir im Hafen abgenommen.«

»Du guter Gott! So ein Sakrileg! Na, jetzt erzähl mir aber, wie es wirklich war.«

»Ach herrlich, herrlich! Paris ist eine herrliche Stadt. Sag einmal, wie geht es Matey und den Kindern?«

»Herrlich!«

»Wie gehts Harry Hazzard?«

»Herrlich gehts ihm. Er hat eine Enkelin gekriegt. Sag mal, in Paris schwoft man ziemlich lange in die Nacht hinein, was?«

»Ja, ziemlich lange. Hast du Emily in der letzten Zeit gesehen?«

»Erst vor ein paar Tagen im Landklub. Hat herrlich ausgesehen. Übrigens, Sambo, eines mußt du mir erklären. Besteht irgendeine Möglichkeit, daß die Bolschewisten die zaristischen Schulden an Frankreich bezahlen werden? Und wie sind eigentlich die französischen Behörden?«

»Na, da habe ich nicht viel erfahren können – Ach, ich hab schon ein paar erstklassige Franzosen kennengelernt – da war ein gewisser Andillet, Börsenmakler, ziemlich wohlhabend, glaub ich. Aber es ist nicht wie bei uns. Man kriegt die Leute außerhalb vom Bureau nicht leicht zu einem ernsten Gespräch. Sie wollen die ganze Zeit von nichts anderem reden als vom Theater und Tanzen und Pferderennen. Aber hörst du, ich hab was kolossal Interessantes erfahren: bei Citroën in Frankreich und bei Opel in Deutschland sollen jetzt billige Wagen herauskommen, die es dem Ford und Chev gehörig schwer machen werden, in Europa Geld zu bringen und – Ach! Sag mal! Tub! Kannst du mir irgendwas über die Gerüchte erzählen, daß Ford das T-Modell zum alten Eisen werfen und mit einem ganz neuen herauskommen will? Ich habs immer wieder versucht, aber ich hab nichts Näheres darüber erfahren können. Ich habe Alec Kynance danach gefragt und Byron Rogers von der Sherman und Elon Richards, und wenn die etwas wissen, so verraten sie es nicht und – Ich möchte doch wirklich etwas darüber erfahren.«

»Ich auch! Ich auch! Und ich kann nichts erfahren!«

Sie seufzten beide und füllten ihre Gläser wieder.

»Ist der Vergrößerungsbau im Landklub fertig?« fragte Sam.

»Ja, sehr schön ist er geworden. Spielt man viel Golf in Frankreich?«

»Ich denke schon, an der Riviera. Warst du mal in meinem Haus in der letzten Zeit? Alles in Ordnung?«

»Na klar. Ich bin da gewesen und hab mit deinem Hausmeister gesprochen. Scheint ein anständiger, verläßlicher Mensch zu sein. Sag mal, was macht man eigentlich am Abend in Paris? In was für Lokale geht man da? So wie die Nachtklubs hier?«

»Na, viel besserer Wein – nein, eigentlich nicht, nämlich in ein paar von den Lokalen, wo lauter Amerikaner hingehen, wird man für miserablen Sekt gehörig hochgenommen. Aber im ganzen – Ach, ich weiß nicht, man hat bald genug davon herumzubummeln. Und die hübschen Weiber, ununterbrochen reden sie!«

»Hast du dir was Nettes aufgezwickt, ja?«

Und sie lachten beide, und sie seufzten beide, und von Sams imaginären Liebesaffären wurde nicht mehr gesprochen.

Und sie merkten, daß sie nichts mehr zu sagen hatten.

 

Seit Jahren hatten sie Freunde, Spiele und geheime Geschäftsberichte miteinander geteilt. Sie waren imstande gewesen, lebhaft über den Mann zu sprechen, den sie am Tag zuvor gesehen, über die Pokerpartie, die sie vor zwei Tagen gespielt hatten, und über den Bankskandal, der im Augenblick von sich reden machte. Aber im Verlauf von sechs Monaten hatten die meisten der Bürger Zeniths, deren Skandale und Golfhandicaps wichtig gewesen waren, für Sam ihre Umrisse verloren, er konnte sie sich nicht vorstellen, konnte nichts denken, wonach er hätte fragen können. Die beiden Männer begannen auf höchst unbehagliche Weise mit Fragen und Antworten Fangen zu spielen.

Sam sagte sanft: »Eigentlich wünsche ich mir, ich hätte früher mit Auslandsreisen angefangen, Tub – es ist ganz interessant zu sehen, wie verschieden die Menschen alles tun. Aber jetzt ist es zu spät.«

Er gab sich große Mühe, klar zu machen, was ihn in England und Frankreich interessiert hatte – die winzigen, kaum zu benennenden Unterschiede des Anzugs, des Frühstücksspecks, der politischen Parteien, der Gemüse auf den Marktplätzen, der Gottesdiener – aber Tub hatte keine Geduld. Er wollte eine wonnevolle, lasterhafte Exkursion in funkelnde Restaurants mit verführerischen Mädchen, fabelhaftes Essen, unvorstellbar guten Wein, die Flasche zu fünfzig Cents, tolle Trinkgelage ohne Kater und endloses Tanzen ohne Atemlosigkeit. Sam bemühte sich ihm den Gefallen zu tun, aber –

»Komisch!« Er konnte sich die Tanzlokale, die er noch vor zwei Wochen gesehen hatte, gar nicht mehr vorstellen. Den dumpfigen Wandschrank sah er genau vor sich, wo das geduldige Stubenmädchen ihrer Hoteletage gesessen und gewartet hatte, anscheinend den ganzen Tag und die ganze Nacht, strickend, nach Hering und Armut riechend; aber vom Jardin de Ma Soeur konnte er nicht mehr sehen als die Tische, den glatten Fußboden und die zu tief entzückten Augen des Fliegers Gioserro im Tanze mit Fran.

Sam sank so tief in seiner Konversation, daß er sich nach dem Wohlergehen des Rev. Dr. Willis Fortune Tate in Zenith erkundigte.

Dann stürmte Ross Ireland herein.

»Ich fahre nach Mexiko, eine Ölreportage machen, geben Sie mir was zu trinken«, sagte er, und alles war wieder voller Leben.

Es bekümmerte Sam, daß er froh darüber sein konnte, im ersten Wiedersehen mit seinem ältesten Freund von diesem halb Fremden gestört zu werden, aber er freute sich, als er sah, daß Tub Pearson an Ireland Gefallen fand. Eine halbe Stunde später, nachdem Ross seine berühmte Anekdote vom Tierarzt Doc Pilvins und dem Plüschpferd erzählt hatte, gingen sie zu dritt essen, tranken Cocktails und wurden munter und zufrieden.

Nur einmal, an einem Abend mit verschiedenen Nachtklubs, die sich durchaus nicht von einander unterschieden, war Sam wieder betrübt:

»Du lieber Gott, werden wir alle hier in Amerika so, daß wir nicht zufrieden sein und nicht reden können, bevor wir eine Menge Cocktails getrunken haben? Was ist denn das mit uns?«

Aber als er am nächsten Nachmittag mit Tub im Yale-Campus war, schrie er vor Entzücken, die Kameraden der alten Tage wiederzusehen, die geliebten Jahrgangskollegen, die er so unerschütterlich fest im Gedächtnis hatte, daß er noch alles von ihnen wußte außer Beruf, Adresse und Namen.

 

Die Abteilung 1896 der Prozession zum Baseballspiel auf dem Yale-Feld, in blauen Jacken und weißen Hosen, wurde von Tub Pearson angeführt, der eine Klapper schüttelte und sang:

'nen Morgen, Mr. Zip, Zip, Zip
Hast du auch so kurze Haare unterm Hut?
'nen Morgen, Mr. Zip, Zip, Zip,
Mir gehts blendend gut.
Asche zu Aschen, Erde zu Er – deehn,
Will das Heer dich nicht, mußt du doch zur Flotte gehn –

Der Anblick seiner Jahrgangskollegen rührte Sam bis zur Traurigkeit und bis zum Beten. Eine der größten Überraschungen war es, wie alt manche von ihnen mit fünfzig oder zweiundfünfzig Jahren geworden waren – Don Binder zum Beispiel, im College ein eifriger Trinker mit milchigem Kindergesicht, war jetzt anglikanischer Oberpfarrer und sah aus, als ob er fünfundsechzig wäre und die Sünden des ganzen Landes auf seinen gebeugten Schultern zu tragen hätte. Bei diesem Anblick fühlte Sam sich selbst alt. Aber ebenso aufregend waren die Jahrgangskollegen, die mit ihren fünfzig aussahen wie fünfunddreißig und Sam, der ein Freund, aber durchaus kein Fanatiker der Bewegung war, aus der Fassung brachten, indem sie schrien, jedermann sollte täglich achtzehn Löcher Golf spielen.

Aber so komisch Sam sich auch fühlen mochte, Tub strahlte und war während des Aufmarsches wieder der Jahrgangsclown. Er hüpfte von einer Straßenseite zur andern, schüttelte seine Klapper, pfiff auf einem Pfennigpfeifchen und jagte einem Kind am Bürgersteig einen Todesschreck ein, indem er niederkniete und gemütlich zu sein suchte.

»Er ist großartig. Er ist komisch«, redete Sam sich ein. »Er ist ein prachtvoller Ziegenbock. Verflucht, er ist ein Idiot! Warum bin ich bloß ewig so unzufrieden mit dem Leben? Ich sollte lieber an den Schreibtisch zurück.«

 

So unbehaglich es ihm auch gewesen war, den albernen Jungen zu spielen, bei der Feier selbst fand Sam wieder Trost. Man wußte, wer er war! In Paris wußte das (außer Fran, manchmal) kein Mensch. Aber seinen Jahrgangskollegen war wohl bewußt, daß er Sambo Dodsworth war, großer Fußballstürmer, schöpferischer Ingenieur, Generaldirektor einer großen Firma, »Fürst aller Prachtkerle«.

Mit Ausnahme einiger weniger Schuljungen von Beruf, die noch mit fünfzig Jahren genau die Punktzahl des letzten Spieles Yale-Brown wußten, die noch mit fünfzig Jahren der Welt mit nichts anderem imponieren konnten, als mit der Tatsache, daß sie Yale-Absolventen waren, hatte sich der Jahrgang weit von dem gemütlich faulen und einfältigen Idealismus der College-Tage entfernt. Sie waren Bankdirektoren, College-Rektoren, Ärzte, Landschullehrer und Diplomaten; sie waren Viehzüchter und Abgeordnete und entlassene Sträflinge und Bischöfe. Einer war Generalmajor und einer – im College der schüchternste Bücherwurm – war der beste Komiker am Broadway. Sie waren Väter und Großväter, und die meisten von ihnen sahen aus, als hätten sie zu viel gearbeitet oder zu viel getrunken. Nicht einer von ihnen hatte in dem Leben ganz das vergnügliche und triumphierende Abenteuer gefunden, das er sich versprochen hatte; und sie kamen sehnsüchtig zurück, voll Verlangen danach, der goldenen Tage ihrer Leichtgläubigkeit wieder habhaft zu werden. Sie glaubten (eine Woche lang), daß ihre Jahrgangskollegen eine Sonderstellung in dem verbrecherischen und aufreizend schlechten Geschlecht der Menschen einnähmen.

Und all dies glaubte Sam Dodsworth – eine Woche lang. Es war schön, bei einem Muschelpicknick in Momauguin mit dem General, einem College-Rektor und zwei Stahlkönigen im Sande zu liegen, als ob sie alle wieder neunzehn Jahre alt wären, als »Oller Sambo« angerufen zu werden, ohne jeden Gedanken an Würde zu ringen und für einen Augenblick so sentimental zu sein, daß man eingestand, man verlange nach mehr und nach Größerem als nach seinen Oberflächenerfolgen. Es war schön, in den Zimmern, die ihnen in Harkness zugewiesen wurden, ihre Verpflichtungen als Hausherren und Geschäftsdirektoren zu vergessen, bengelhaft auf Fensterbänken zu lümmeln, an Fenstern, vor denen Ulmen standen, einander fabelhafte Lügengeschichten zu erzählen, bis ein, bis zwei Uhr morgens, ohne an Frühaufstehen und an Arbeit zu denken. Es war schön, beim Dinner in einem Privatzimmer zu singen: »Draußen auf der Bingo-Farm« und in langgezogenen, kläglichen Tönen das schöne alte Yale-Lied herauszuheulen.

Sogar die Männer, auf die er sich am ersten Tag nicht hatte besinnen können, wurden in seiner Erinnerung wieder klar. Natürlich! Das war ja der alte Mark Derby – es war immer so komisch gewesen, wie er auf einem Kamm blies und nie wußte, wo seine Krawatte war.

Sam war wieder neunzehn; in einer Welt, die ihm aller Kameradschaft bar zu sein schien, hatte er zweihundert Brüder gefunden; und er war zu Hause, jubelte er – und da wollte er auch bleiben.

Er fuhr also mit Tub Pearson von New York westwärts nach Zenith, froh, als die donnernden Hohlwege der Manhattan-Straßen verschwanden und er den schimmernden Hudson, stille Obstgärten, alte weiße Häuser und festgefügte Berge sah.

 

Das Frühstückszimmer bei Sams Schwiegersohn Harry McKee war ein freundlicher Raum mit weißen Wänden, kanariengelben Vorhängen an den großen Glastüren und einem nicht zu lauten Papagei in einem großen Käfig. Das Frühstücksservice war aus hellbrauner normannischer Bauernfayence, der elektrische Toaströster und die Kaffeemaschine auf dem Tisch aus Nickel, das in der frohen Morgensonne des Mittelwestens funkelte.

Sam war strahlender Laune. Er war ziemlich spät am Abend angekommen, und da es in seinem eigenen, seit einiger Zeit unbewohnten Haus ungemütlich aussah, war er zu Emily gegangen. Er hatte mit einem Gefühl der Sicherheit geschlafen, und heute früh war er ganz glücklich, weil er mit seiner Emily, dem muntersten und gesundesten aller Mädchen, wieder zusammen war. Er hatte seine Geschenke zum Frühstück herunter gebracht – die Dunhill-Pfeife und den Schlafrock von Charvet für Harry, die Toilettentisch-Garnitur aus Gold und Schildpatt und die Guerlain-Parfüms für Emily. Sie bewunderten die Geschenke, sie streichelten ihn dankbar, sie sorgten aufgeregt dafür, daß er seinen richtigen amerikanischen Porridge mit richtiger Sahne bekam. Voll Wonne redete er sich ein, er sei nach Jahrzehnten auf stürmischen Meeren zu seiner friedlichen Insel zurückgekehrt und hätte seiner erstaunten Sippe unglaubliche Geschichten von Troja und Circe und Menschen mit zwei Köpfen mitgebracht, und begann von Paris zu erzählen, ihnen zulächelnd, nach Emilys Hand greifend, sich bei jeder kleinen Einzelheit mit Behagen aufhaltend.

»– was ich aber an Paris nie recht begriffen habe«, sagte er, »ist, daß es eigentlich wie eine Anzahl von Dörfern mit schmalen Gäßchen ist, und mit kleinen, winzigen Geschäften, die kaum dem Besitzer zu tun geben. Man hört immer von den großen Boulevards und den tollen Tanzlokalen, mir haben aber die einfachen, kleinen Dinge viel mehr Eindruck gemacht –«

»Ja, das war auch im Krieg schon so, wie ich in Paris war«, sagte McKee. »Aber seitdem muß sich sehr viel verändert haben. Ich muß jetzt schleunigst ins Bureau, Vater. Hoffentlich kann ich heute den Leuten von der Axton-Automobil eine Million Schrauben verkaufen. Aber du mußt mir noch mehr von Paris erzählen. Um halb sieben bin ich wieder da. Schrecklich nett, daß du wieder hier bist. Auf Wiedersehen, Emily aller Emilys.«

Nach den Küssen und der Hast von McKees Abschied kam Emily strahlend zurück und rief: »Ach iß doch nicht den kalten Toast! Ich röste dir eine neue Schnitte. Du mußt von dem Aprikosenjam nehmen. Und jetzt erzähl weiter von Paris. Es ist wirklich zu schön, daß du wieder da bist! Harry ist der zweitnetteste Mann, aber du – Ach, du mußt noch etwas essen. Und jetzt erzähl von Paris.«

»Ja, eigentlich hab ich gar nicht viel zu erzählen. Es ist schwer zu schildern, wie einem in einer fremden Stadt zumute ist. Es ist sozusagen etwas anderes in der Luft. Ich fürchte, ich kann so etwas nicht sehr gut erklären … Emily, äh – Harry geht es finanziell doch gut?«

»Ausgezeichnet! Sein Gehalt ist jetzt um Fünftausend erhöht worden.«

»Du brauchst nicht einen kleinen Scheck für dich selbst?«

»Aber keine Spur. Vielen Dank, Vater. Verflucht noch einmal, Harry hat den Advocate mitgenommen, und ich weiß doch, du willst ihn lesen.«

Sam hörte gar nicht, daß sie vom Advocate sprach. Er war rot geworden und dachte: »Will ich meine Tochter bestechen, damit sie sich für mich interessiert? Will ich mir ihre Zuneigung kaufen?« Er flüchtete sich rasch von diesem Gedanken in eine Schilderung der Hallen im Morgengrauen, wie er sie gesehen hatte, als die de Pénable-Menagerie einmal, mit ihm als Wärter, eine ganze Nacht lang von einem Café ins andere gewandert war. Er hatte begonnen sich selbst über seine Erzählung zu freuen, er sagte: »Also, ich habe nie probiert, Weißwein und Zwiebelsuppe zu frühstücken, aber ich war schon so weit, alles probieren zu wollen«, und da begann das Telephon.

»Entschuldige mich eine Sekunde, Vater«, sagte Emily und führte fünf Minuten lang mit einer gewissen Mona ein angeregtes Gespräch über ein Tennisturnier, Strickkleider, Dick, Rennboote, Hummernsalat, Mrs. Logan und einen nächsten Donnerstag, den sie so ehrfürchtig betonte, daß Sam sich sehr unwissend vorkam, weil er nicht ahnte, was diesen Donnerstag vor anderen auszeichnen könnte. Er merkte auch, daß er nicht wußte, wer Mona, Dick und Mrs. Logan waren.

Als Emily wieder am Tisch war, interessierte ihn das Zwiebelsuppenfrühstück nicht mehr. Bevor er wieder warm geworden war und die Geschichte begonnen hatte, wie Hauptmann Gioserro einen Gemüsewagen mietete, um ins Hotel zurückzufahren, rief das widerliche Telephon Emily wieder ab, und jetzt verhandelte sie drei Minuten lang mit einem Kaufmann, der ihr anscheinend schlechtes Fleisch geschickt hatte. Sie war überaus sachverständig. Sie schien alles über die verschiedenen Fleischsorten und das Alter von Geflügel zu wissen.

Sie war nicht mehr sein vergnügtes, hilfloses Mädchen, sie war eine tüchtige junge Frau.

»Sie braucht mich überhaupt nicht mehr«, seufzte Sam.

 

Die Dodsworths hatten ihr Haus nicht vermietet, sondern nur einen Hausmeister hineingesetzt, der in einer Ecke des Souterrains, den ganzen Tag lang alte Zeitungen aus Mülleimern buchstabierend, ein verborgenes Dasein führte. Als er Sam nach fünf Minuten langem Klingeln eingelassen hatte, wollte er ihn durch das Haus führen, aber Sam sagte kurz: »Ich gehe allein, danke.«

In der Diele war es düster und luftlos wie in einer Grabkammer. Seine Schritte auf dem teppichlosen Fußboden hallten so laut, daß er auf den Zehenspitzen zu gehen begann. Es waren Gespenster da, die ihn als Eindringling in seinem eigenen Haus bedrohten. Er stand in der Tür zur Bibliothek. Der einst so warme und stille Raum war unheimlich und unfreundlich. Es war ein totes Zimmer in einem toten Haus. Die Teppiche waren aufgerollt, in einer Ecke zusammengestapelt und zeigten ihre farblosen, rauhen Unterseiten. Die Bücherregale waren mit Papier zugedeckt und die tiefen Stühle, in grauen Hüllen, sahen so formlos und häßlich aus wie der Schlafrock einer schlampigen Hausfrau. Der Kamin war ungemütlich sauber. Aber in einer Ecke lag noch ein Fetzchen Papier mit Frans rascher Schrift. Er bückte sich langsam, um es aufzuheben, und entzifferte die Worte: »– Wagen um 10 Uhr und –« Sie schien in das Zimmer zu kommen und wieder zu fliehen, ihn um so einsamer zurücklassend.

Schwerfällig stieg er die Treppe empor, mit hohlklingenden Schritten, und ging in das Schlafzimmer. Still sah er sich um.

Die Himmel der beiden Betten waren abgenommen, so daß die Pfosten dastanden wie kahle Masten; unfreundlich lagen die Kissen, die zusammengefalteten Decken und Leintücher da.

Er ging zu den Fensterjalousien.

»Die Jalousien bekommen Risse. Es müssen neue herkommen«, sagte er laut.

Er sah sich noch einmal um und schauderte. Er ging zu dem Bett, in dem Fran immer geschlafen hatte, und starrte es an. Er streichelte die Bettkante und ging rasch aus dem Zimmer – aus dem Haus.

 

Brent sollte auf zwei Wochen nach Zenith kommen, und Sam hatte hundert Pläne für Automobilfahrten und andere Ausflüge mit ihm. Aber Brent telegraphierte: »Zu blendendem jagdausflug nova scotia eingeladen möchte lieber nicht kommen«, und Sam schrieb, ohne eine Miene zu verziehen: »Selbstverständlich mitfahren viel vergnügen.« Als er aus dem Telegraphenamt kam, seufzte er ein wenig, blieb mit den Händen in den Taschen stehen und blickte sich nach beiden Seiten um, ein Mann, der nichts zu tun hatte.

 

Als er noch Generaldirektor der Revelation Company war, hatte er sich mit seinen fünfzig Jahren jung gedünkt. Damals begann das wahre Alter für ihn erst bei siebzig, vielleicht fünfundsiebzig, und er sah noch ein Viertel Jahrhundert voll Kraft und Energie vor sich. Doch die Tatsache, daß Emily mit ihren einundzwanzig Jahren reif geworden war und ganz allein mit ihrem Leben fertig werden konnte, ließ Sam meinen, daß er einer überflüssigen Generation angehöre, daß er, verblüffenderweise, alt sei. Aber der Nachmittag, an dem Elizabeth Jane's Geburtstag gefeiert wurde, ließ ihn so sehr fühlen, er sei ein Fremder, der mit dieser neuen Generation nichts zu tun habe, daß er aus Emilys Haus flüchtete und sich im Tonawanda Landklub verkroch.

Elizabeth Jane war Harry McKees elf Jahre alte Nichte. Wie überraschend viele andere unter den erfolgreichen jüngeren Männern Zeniths, die im Geschäft ein wildes Tempo entwickelten und außerhalb des Geschäfts nur von Sport und Tanzgesellschaften mit Cocktails in Anspruch genommen waren, hatte McKee ein fanatisches Interesse für Kinder. Er war im Zenither Schulausschuß und im Elternrat der St. Mark-Stadt- und Landschule. Die vergnügte Offenheit, mit der Emily und Harry McKee ihn davon unterrichteten, daß sie nicht mehr als drei Kinder haben wollten, die aber schleunigst, trieb Sam die Schamröte ins Gesicht. (Anscheinend hatten sie mehr Einfluß auf die Vorsehung, als Sam in seiner Unschuld ahnen konnte.) Während sie auf diese drei warteten, widmeten sie sich Elizabeth Jane, einem stillen, verlesenen Kind, daß Sam an einen Spielmann auf einem Bild von Maxfield Parrish erinnerte. (Er hatte immer Parrishs Traumschlösser bewundert, ohne sich durch Frans Spott stören zu lassen.)

Elizabeth Jane gefiel Sam. »Ein ganz unmodernes Kind«, sagte er. »So unschuldig und bescheiden.«

Und am nächsten Nachmittag bemerkte Elizabeth Jane, die sich bei Sam und Emily zum Tee eingeladen hatte, heiter gelassen: »Tantchen, würdest du es sehr ungezogen von mir finden, wenn ich sage, daß meine Lehrerin eine verfluchte Gans ist? Ja? Sie hat angefangen, uns sexuell aufzuklären, und dabei stellt sie sich so ängstlich und albern an, und natürlich wissen wir schon alles.«

»Mein Gott!« sagte sich Samuel Dodsworth.

McKee und Emily feierten Elizabeth Janes zwölften Geburtstag mit einer Nachmittagsgesellschaft für vierzig Kinder. Sam wußte, daß es dabei sehr üppig zugehen sollte; er merkte, daß auf McKees Rasen ein rotweiß gestreifter Pavillon aufgebaut wurde, daß man so einfache Genüsse bestellt hatte wie Pfirsichmelba, Biscuit Tortoni und Bombe Surprise, außerdem Wiener Backwerk, Brombeersaft, Import-Ingwerbier und Hummernsalat, und daß der Restaurateur ein halbes Dutzend befrackte Kellner schicken sollte. Aber er war noch altmodisch genug, sich vorzustellen, daß die Kinder Ringelreihen, Kämmerchenvermieten und Verstecken spielen würden.

Er frühstückte an diesem Tag mit Tub Pearson, dann ging er aufgeregt in den Fünfzehn-Cent-Bazar und füllte sich die Taschen mit allen möglichen dummen, netten Kleinigkeiten – falschen Nasen, Schokoladenzigarren, Papierhüten – und ging zu McKee, mit der Absicht, alle Kinder bei der Gesellschaft mit seinen kleinen Geschenken zum Lachen zu bringen.

Er verspätete sich ein wenig. Als er kam, saßen die Kinder feierlich auf Stühlen, die in vier Reihen auf dem Rasen standen, und sahen sich einen Akt des Sommernachtstraums an, der von richtigen Schauspielern des Zenither Theaters gespielt wurde. Und dann kam ein Zauberkünstler – allerdings langweilten sich die jungen Herrschaften über so langweilige Banalitäten wie Kaninchen aus dem Zylinder – und eine Lehrerin aus der Montessori-Schule, die mit eingeübter Vortragsstimme und eingeübten Gesten die reizendsten Volksmärchen aus der Tschecho-Slovakei, Serbien, Island und Yucatan erzählte. Hierauf gingen die Kinder, ohne Aufsicht, aber in wohlerzogener Ordnung, an einem Tisch vorbei, hinter dem Harry McKee, ohne jeden ersichtlichen Grund als Araber verkleidet, stand und jedem einzelnen ein Geschenk überreichte.

Alle sagten geduldig: »Danke schön« und wickelten ihre Geschenke aus, wobei sie ihre gesellschaftliche Wohlerzogenheit bewiesen, indem sie die Papiere sorgfältig in einen bereitgestellten Korb legten. Sam mußte über die Geschenke lachen. Es gab französisches Parfüm und Päckchen mit tausend Briefmarken, Reitpeitschen und kleine Grammophone, lithographiertes Briefpapier und ein Papageienpaar.

Hastig zog er die Klappen seiner Rocktaschen heraus, damit niemand die kläglichen Kleinigkeiten, die er besorgt hatte, sehen könnte.

Und später: »Ich muß schauen, daß ich hier wegkomme. Das ist zu viel für einen einfachen Mann wie mich.«

Er mußte eine Woche lang taktvoll täglich davon sprechen, daß er täglich acht Stunden Golf brauche, aber schließlich gelang es ihm, in eines der sachlich eingerichteten Schlafzimmer im Tonawanda-Landklub zu entrinnen, und dort, in einer Atmosphäre von Golf, Ginflaschen im Schrankraum, kleinen Dinners mit darauffolgendem Poker, und in einem Lesezimmer voller Magazine, die auf glattem Papier Landhäuser und Polomannschaften abbildeten, führte er das Dasein eines Lotusessers – der Lotus waren kalter Blumenkohl, zähe Lammkoteletts und geschmuggelter Whisky.

 

Er redete sich ein, manchmal auf einige Minuten, geschäftliche Angelegenheiten erforderten, daß er in Zenith bleibe, und wußte mißvergnügt, manchmal einige Stunden lang, daß das nicht stimmte.

Sein Kapital war mit sorgfältiger Auswahl angelegt – in U.A.C.-Aktien, in Eisenbahn-, Industrie- und Staatspapieren. So oft er auch mit seinen Bankiers und Maklern konferierte, in Finanztransaktionen konnte er keine sehr absorbierende Tätigkeit finden.

Aber er hatte auch, mehr zu Spekulationszwecken, eine Beteiligung an einem Ausflugshotel in der Umgebung Zeniths, und während der Rückreise nach Amerika hatte er sich vorgemacht, daß er mit seinen neu erworbenen Kenntnissen über Essen, Einrichtung und Bedienung in der Lage wäre, dieses Hotel zu verbessern.

Es war ein ganz miserables Hotel, und ein ausgezeichnetes Geschäft.

Er aß einmal dort, zwei Tage nach seiner Ankunft in Zenith, und das war fürchterlich.

Er teilte dem Manager mit, daß es fürchterlich sei.

Der Manager zog eine gelangweilte und resignierte Miene.

Als Sam den Manager dazu überredet hatte, bei ihm zu bleiben, wurde ihm erklärt, bei diesen Materialkosten und Kochgehältern sei es unmöglich, ein besseres Essen zu diesem Preis zu liefern. Es sei ja recht schön und gut, meinte der Manager, vom Essen in Paris zu sprechen. Nur, hier sei man eben nicht in Paris. Und außerdem, wüßte Sam vielleicht, was Hühner gerade jetzt auf das Pfund kosten?

Das war Sams einzige Tat während seines Aufenthalts in Zenith. Aber es dauerte Wochen, bis er sich ziemlich verdrossen eingestand, daß das Geschäft ihn nicht brauchte … ebenso wie Brent ihn nicht brauchte, Emily ihn nicht brauchte.

Aber Fran, so sagte er sich zum Trost, brauchte ihn doch sicher, und Freunde wie Tub Pearson auch.


 << zurück weiter >>