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Fünftes Kapitel

Die Ultima, zweiunddreißigtausend Tonnen Verdrängung, war vor vier Stunden aus New York ausgefahren. Die Winterdämmerung lag über dem Netz der dunklen Wogen, und Samuel Dodsworth empfand die Gewalt und Macht des Ozeans, die Bedeutungslosigkeit des großen Schiffes und der ganzen Menschheit. Er fühlte sich verloren in dem Meeresrund, das ein einziges Grau war, mit einem goldenen Riß am westlichen Horizont. Bis jetzt hatte er nur die Fahrzeuge der Binnenseen und die New Yorker Fährboote gekannt. Es war ihm nicht ganz behaglich zumute, als er an der Achterreeling stand und sah, wie die emporwuchtende Masse der See sich dräuend über das Schiff bäumte, wenn das Heck tauchte – hinunter, unglaublich tief hinunter, als ob es sinken wollte. Doch als er auf dem Deck umherwanderte, hatte er sich bald wieder und wurde sehr glücklich. Nur in der ersten Stunde war ihm übel gewesen. Jetzt weitete der Wind seinen Brustkasten und stimmte ihn fröhlich. Nun erst, da alle Unerquicklichkeiten des Packens vorüber und die künstlich verlängerte Zeremonie, den Freunden an der Mole zuzuwinken, überstanden war, hatte er das Gefühl, wirklich aller Pflichten los und ledig zu sein, wirklich zu reisen – fremdartig bunten, aufregenden Orten entgegenzureisen, ungekannte und heroische Dinge zu tun.

Er summte (denn Kipling hatte ihm etwas zu sagen, was kein Shelley und kein Dante konnte) – er summte ein paar Strophen von Kipling.

»Frei!« murmelte er.

 

Er blieb plötzlich an der Fensterreihe, die vorn auf dem Promenadendeck den Musiksalon umgab, stehen, weil er in seiner Erinnerung danach suchte, wann er das zum erstenmal gesungen hatte.

Es mußte um die Zeit gewesen sein, als das Gedicht zum erstenmal vertont wurde. Auf jeden Fall waren Fran und er verhältnismäßig arm gewesen. Das Geld, das der alte Herman Voelker ihnen geliehen hatte, war ins Geschäft gegangen. (Ein plötzlicher sinnloser Fetzen Schnee aus dem kalten Meer. Wie heiter waren die Lichter im Musiksalon! Er begann etwas von der Tüchtigkeit des Schiffes, seines sicheren Heimes, zu empfinden.) Ja, damals war es, als sie eine Urlaubsreise machten – kein Chauffeur, keine Appartements in den besten Hotels, Sam fuhr selbst den ganzen Tag lang ihren abgenutzten Revelation, sie schliefen in einem nach Erde riechenden, vom Wind gerüttelten Zelt. Sie waren nach Westen gefahren – nach Westen, zweitausend Meilen dem Sonnenuntergang entgegen, bis es schien, als wären sie wirklich an den Pacific gekommen und müßten Dschunkensegel vor der verschleierten Sonne sehen. Sie hatten nicht die Würde einer Stellung zu wahren. Zusammen sangen sie und gelobten einander, daß sie eines Tages miteinander wandern würden –

Und jetzt taten sie es!

Solcher Jubel erfüllte ihn und so überwältigende Zärtlichkeit, daß er in die Kabine hinuntereilen wollte, um sich zu vergewissern, daß er den Zauber von Frans Kameradschaft auch jetzt noch besitze. Doch es fiel ihm ein, mit welch nervöser Energie sie ausgepackt hatte. Er war seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet. Er blieb an Deck.

 

Er erforschte das Schiff. Für ihn, den Maschinenbauer, war es die sicherste und imposanteste Maschine, die er je gesehen hatte; erfreulicher als ein Rolls oder ein Delauney-Belleville, die ihm mindestens so viel gewesen waren wie ein Velasquez. Er bestaunte die kraftvolle Gelassenheit, mit der der Bug die Wellen meisterte, den mächtigen Schwung der Decklinien und das schmucke Arrangement des Tauwerks. Er bewunderte den ersten Offizier, der auf der Brücke gleichgültig auf und ab schritt. Es erschien ihm unfaßbar, daß in diesem Fahrzeug, das doch eigentlich nichts weiter war als eine schwimmende Eierschale aus Eisen, der rosige Musiksalon sein sollte, der Rauchsalon mit seinem Tudorkamin – fest und irdisch wie eine Burg – und das Schwimmbassin, dessen grün beleuchtetes Wasser romanische Säulen bespülte. Er stieg zum Bootsdeck hinauf, und eine ungeahnte Sehnsucht nach der Seefahrt wurde in ihm gestillt, als er die Flucht der Gänge entlangblickte, vorbei an den großen Rettungsbooten, an den Ventilatoren, die wie riesige Saxophone aussahen, und den hohen Schornsteinen, die vergnügt wollige, schwarze Rauchwölkchen ausstießen, bis zu dem Vordermast. Die Schneeböen, die das Deck entlangtrieben, und die Rätsel dieser in dem kalten Licht nur halb gesehenen neuen Welt regten ihn auf. Er schauerte zusammen und stellte den Rockkragen auf, aber als er vor dem Telegraphenraum stand, spielte seine Phantasie mit den knisternden Nachrichten, die auf dunklen, ozeanverhafteten Luftstraßen zu hellen, behaglichen Städten in fernen Gegenden eilten.

»Ich bin auf dem Meer!«

 

Er ging hinunter, um Fran zu erzählen – es war ihm nicht recht klar, was er ihr sagen wollte, höchstens daß Dampfschiffe wirklich etwas Wunderschönes wären, und daß sie vor sich, am verschwimmenden Horizont, die Heckenpfade Englands sehen könnten.

Sie war in der Kabine mit den Messingbetten und den gespreizten Kopien graublauer französischer Drucke an den getäfelten Wänden inmitten eines Durcheinanders von herausgezogenen Kleidern, Schuhen, Negligés, Cotypuder, Operngläsern, Schiffsbriefen, Schiffstelegrammen, Süßigkeiten, den Körben mit überreifen Früchten und kleinen Konserven, die als Ergänzung der mangelhaften Dampferverpflegung – nur sieben Mahlzeiten am Tag – gedacht waren, seinen Frackhemden (er sollte jeden Abend ein frisches anziehen, was er aber ganz entschieden nicht vorhatte) und französischen Romanen (die sie täglich auf dem Deck erhaben und vornehm lesen sollte, was sie wiederum ganz bestimmt nicht tun würde).

»Es ist schrecklich!« jammerte sie. »Ich werde mit dem Aufräumen gerade fertig sein, wenn wir landen … Ach ja, da ist ein Telegramm von Emily aus Kalifornien. Harry und sie scheinen die Flitterwochen nicht schlechter zu überstehen als die meisten Opfer.«

»Laß das ganze Zeug. Komm aufs Deck hinaus. Ich bin ganz verliebt in dieses Schiff. Es ist so – Hier hat der Mensch wirklich die Natur besiegt! Ich glaube, ich hätte Schiffe bauen können! Komm hinaus und schau.«

»Du scheinst wirklich glücklich zu sein. Das freut mich. Aber ich muß auspacken. Geh du nur allein –«

Es war in den letzten Jahren nicht oft vorgekommen, daß er kindisch wurde, aber jetzt nahm er sie, so sehr sie auch um sich trat und lachte, in die Arme, hob sie über einen Haufen von Sweatern, Tennisschuhen, Badeanzügen und Schlittschuhen, küßte sie und rief: »Komm! Das sind unsere Flitterwochen! Wir brennen durch! Habe ich schon mal daran gedacht, dir zu sagen, daß ich dich anbete? Komm hinauf und sieh dir ein bißchen Meer mit mir an. Schrecklich viel Meer ist um unser Schiff … Ach, das Auspacken soll der Teufel holen!«

Er gab sich ein tyrannisches Air, aber jedesmal, wenn er dies tat, war es ihm eine Beruhigung, zu wissen, daß sie damit einverstanden war, sich tyrannisieren zu lassen. Er war jetzt froh, daß sie darauf verzichtete, pflichtgemäß Lebensfreude zu organisieren, und etwas bloß deshalb tat, weil es angenehm war.

Wer sie so sah, in dem rauhen, mattgelben Burberry, mit der hellroten Mütze, mußte an Herbsttage und braune Hochlandsebenen denken. Sie war ein junges Mädchen, sicherlich nicht die Mutter einer verheirateten Tochter. Er war in einer etwas schwerfälligen Weise stolz auf sie und auf die Blicke, welche die mitreisenden Männer auf sie warfen, als sie auf dem Deck umhergingen.

»Komisch, wie es einen plötzlich überkommt – ich meine – das ist fast das erstemal, daß wir wirklich wie Liebende reisen – keine Arbeit, die uns zurückrufen kann. Du hattest ganz recht, Fran – genug gearbeitet – jetzt wollen wir leben! Miteinander – immer! Aber ich muß noch so viel lernen, um mit dir Schritt zu halten. Du und Europa! Verflucht, ich bin so sentimental! Stört es dich? Ich komme direkt aus dem Staatsgefängnis! Zwanzig Jahre abgebrummt!«

Immer wieder um das Deck herum. Die lange Strecke an der Steuerbordseite, Deckstühle, warm eingewickelte Reisende, die sich grün verfärbten, wenn die See das Schiff hob, vom Wind zerzauste Magazine, vom Tee übriggebliebene Tassen, und Kinder, die mit kleinen Wagen umherliefen. Der schmale Durchgang nach achtern, wo der Wind auf sie herabstürzte und sie zurückstieß, wo das Schiff so tief tauchte, daß sie sich bergauf arbeiten mußten, mit bleiernen Gliedern. Sie schauten in eine Luke hinab – jemand erzählte, da unten sei ein halbes Dutzend brasilianischer Pumas eingeladen – und hatten durch einen schwindelnd hohen Gang einen Blick auf das Achterdeck, das Ruderhäuschen und ein einsames Licht in der wogenden Finsternis. Sie sahen den letzten Schimmer des streifigen Kielwassers, das nach New York zurücklief.

Dann, um die Ecke geweht, befreit von dem mühsamen Aufwärtssteigen, ein rascher Lauf die kalte Backbordseite entlang, die herrlich frei von Korbstühlen und schmutzigen Blicken war. Tempo fünf Stundenmeilen. Die Tür des Rauchsalons, Tabakgeruch, angenehmer Bierdunst und laute amerikanische Stimmen. Die Stelle, wo das Deck sich zu einer Nische erweiterte – dicke Stahlwände, Reihen von Nieten, die dick weiß übermalt waren – und die Tür der Stewardkammer, aus der nachmittags unzählige Sandwiches, Kuchen, Tassen und Teekannen kamen. Die Doppeltür zur Haupttreppe, wo rätselhafterweise eine uniformierte Stewardess immer mit einem Steward sprach. Die stahlgefaßten Fenster des Musiksalons, ein Blick auf unglückselige jung-alte Frauen, die ihre Mütter ins Ausland begleiteten und, in Magazinen blätternd, herumsaßen. Wo das Deck offen war, die gelbe, blankgeputzte Reeling und die weißen Ständer, hell im Decklicht, heller noch vor dem dunklen Meer. Stets vor ihnen die langen geraden Linien der Deckplanken, regelmäßig wie Musiktakte, getrennt von Nähten glitzernden Teers. Deck – Schiff – auf dem Meer!

Dann nach vorn, und die Leute an der Reeling – kühne Reisende, die dem winterlichen Atlantic hinter Glasfenstern Trotz boten – Hochzeitsreisende, die rasch auseinander fuhren, wenn die widerlichen Deckwanderer vorüberkamen – betagte weise Herren, Bemerkungen austauschend über die Inferiorität der Zwischendeckpassagiere, die unten, ohne zu ahnen, daß über ihnen die auf Grund ihres Passagegeldes Geadelten herablassend von ihnen sprachen, neben einer Luke, über die eine Persenning geworfen war, zur hackenden Begleitung einer Ziehharmonika tanzten und sich vergnügt auf die erfrorenen Finger bliesen.

Und noch einmal rundherum, schneller noch, nicht gleichgültige Fußgänger mehr, Wettkämpfer im Ozean-Marathon. Schneller. Die Ecken schärfer geschnitten. Stärker als der stoßende Wind, als das steil geneigte Deck. Dieses einsame, schlanke, athletische Mädchen einholen, überholen …

»So geht man! Weißt du, Fran, wir könnten uns eigentlich einmal von den Hotels freimachen und so etwas wie eine Wanderung an der Riviera unternehmen – das müßte interessant sein, glaube ich … Liebling!«

Ohne ihn ganz einzuholen, kamen sie näher an den warm eingehüllten Mann mit dem blinkenden Monokel heran, den sie auf den ersten Blick verabscheuten, und der sich innerhalb von drei Tagen als überaus netter und herzlicher Bekannter entpuppen sollte.

Eine rasche Musterung all ihrer Reisegefährten, ihrer Mitbürger in diesem braven Dorf inmitten der Wasserwüste: Fremde, die man auf den ersten Blick hassen und verachten mußte, wollte man nicht selbst verachtet werden, die man aber bald besser kennen und mehr schätzen und länger im Gedächtnis behalten sollte als Nachbarn, die man im behutsamen Binnenland schon sein ganzes Leben lang kennt.

Ihr dauerndes Heim für eine Woche, das ihnen dank ihrer erhöhten Sensibilität, dem einzigen Segen des Reisens, vertrauter werden sollte als manches Haus, in dem sie jahrelang ein und aus gegangen waren. Jedes Rußpünktchen an den Rettungsbooten, jeder Sessel im Rauchsalon, jeder benachbarte Tisch im Speisesalon mußte bemerkt und im Gedächtnis behalten werden.

»Ich fühle mich schrecklich wohl«, sagte Sam, und Fran: »Ich auch. Es ist so lange her, daß wir so miteinander gegangen sind! Und wir wollen dabei bleiben; wir werden uns nicht von den Leuten einfangen lassen. Aber jetzt muß ich hinunter und unsere sieben Sachen auspacken – ach warum habe ich nur soviel Kleider mitgenommen! Bis zum Umziehen – du Lieber!«

 

Er war zum Dinner umgezogen. Sie hatte sich, nach ziemlich vielen Worten darüber, dahin entschieden, die Ansicht, daß unsere besseren Leute sich am ersten Abend zum Dinner nicht umziehen, sei ein Aberglaube. Er schlenderte in den Rauchsalon, um seinen ersten Cocktail an Bord zu nehmen, wobei er sich sehr großartig und hübsch und vielgereist vorkam. Dann aber fühlte er sich sehr einsam, denn der Rauchsalon war voll freundlich aussehender Menschen, die einander alle zu kennen schienen. Und er kannte keine Seele an Bord außer Fran.

»Das ist ja das Unglück. Tub und Doc Hazzard und die anderen werden mir schrecklich fehlen«, brütete er. »Ich wollte, sie wären mit! Dann wäre es nahezu vollkommen.«

Er setzte sich in einen Alkoven mit einer runden Lederbank, vor der ein massiver Tisch stand. Der Raum war überfüllt, und ein tipptopp angezogener Engländer, der eine Welle feuchter Seeluft mit sich hereinbrachte, blieb plötzlich vor Sams Tisch stehen und fragte: »Gestatten Sie?«

Der Engländer bestellte seinen Cocktail höchst sachverständig:

»Also geben Sie genau acht, Steward. Ich möchte zur Hälfte Booth-Gin und zur Hälfte französischen Wermut, und genau vier Tropfen Orangenbitter; keinen italienischen Wermut, verstanden, keinen italienischen.« Während der Engländer trank, machte es Sam Freude, ihn zu hassen. Der Mann war völlig ausdruckslos wie ein dickköpfiger Holzgötze, und seine Farben waren die eines Götzen aus Zedernholz. »Aufgeblasen wie der Deuwel. Der kann erst freundlich werden, wenn er einen zehn Jahre kennt. Na, er kann unbesorgt sein! Ich werde nicht mit ihm reden! Merkwürdig, wie so ein Engländer einen dazu bringen kann, daß man sich klein und häßlich vorkommt und glaubt, die Krawatte sitzt nicht, und dabei braucht er einen nicht einmal anzusehen! Na, er –«

Plötzlich sagte der Engländer:

»Anständiges Wetter für eine Februarüberfahrt.«

»Ja? Ich weiß eigentlich nicht. Das ist meine erste Überfahrt.«

»Wirklich?«

»Sie haben die Reise wohl schon oft gemacht?«

»Ach, etwa zwanzigmal. Ich war während der letzten Verhandlung bei der englischen Kriegsdelegation. Man hat mich immer hin und her gejagt. Lockert heiße ich. Ich pflanze jetzt Kakao in Britisch-Guiana. Gehörig heiß dort! Wollen Sie sich in London aufhalten?«

»Ich denke, eine Zeitlang. Ich habe einen unbegrenzten Urlaub vor mir.«

Sam besaß die amerikanische Sehnsucht, sich bekannt zu machen, von allen seinen Leistungen zu erzählen, nicht um sich zu rühmen, sondern um zu zeigen, daß er etwas wert sei.

»Ich habe Automobile fabriziert – Revelation – ich dachte, es wäre an der Zeit, Schluß damit zu machen und zu schauen, wie die Welt aussieht. Dodsworth heiße ich.«

» Pleased to meet you.« (Wie die meisten Europäer dachte Lockert, daß alle Amerikaner aller Klassen immer sagen: » Pleased to meet you«, und auch so begrüßt zu werden erwarten.) »Revelation? Recht anständiger Wagen. Ich hatte einen in Kent. Mein Vetter – wenn ich zu Hause bin, wohne ich bei ihm – ein strammer alter General a. D. – er ist ein großer Automobilnarr. Er fährt immer mit großem Krach auf einem fürchterlichen alten Motorrad herum – sein Schnurrbart und seine Würde flattern im Morgenwind – es gibt schreckliche Rechnungen für die Gänse und die Geistlichen, die er überfährt. Er ist wahnsinnig proamerikanisch – das bin ich übrigens auch, abgesehen von Ihrem schauderhaften Eiswasser. Trinken Sie noch einen Cocktail?«

Im Verlauf von zwanzig Minuten waren Sam und Major Clyde Lockert sich einig, daß die Umsatzsteuer zu hoch sei, daß man bei Nacht ungern in dem Lichtkegel von Scheinwerfern fahre, daß Bobby Jones ein Golfspieler, und sie selbst Männer von Welt und nette Kerle seien.

»Ich werde eine Menge Leute kennenlernen. Und das Schiff gefällt mir. Das ist der großartigste Tag meines Lebens – außer meinem Hochzeitstag natürlich«, freute sich Sam, als der zweite Dinnergong erklang und er Fran holen ging.

In seiner Kabine wartete ein Telegramm von Tub Pearson:

 

Gute reise stop in london unbedingt meinen neffen jack starling aufsuchen amerikanische botschaft wohnt in renaissancehaus stop auf unvollständige sequenzen nicht erhöhen in gedanken bei dir tub.

 

Er dachte darüber nach, wie er Major Lockert Fran vorstellen sollte.

Er war nie imstande zu erraten, wie sie die Leute aufnehmen würde, die er von der Straße auflas und stolz vor sie brachte. Geschäftsleute, die er für anständige und wichtige Menschen hielt, bezeichnete sie oft als ledern; europäische Gäste, die er elegant fand, pflegte sie meistens »nicht ganz das Richtige« zu nennen; und Leute, die er ihr zweifelnd als respektabel, aber ziemlich langweilig vorgestellt hatte, waren von ihr manchmal angenehm und vernünftig gefunden worden. Und so sehr sie auch theoretisch den Wunsch hatte, das Haus für ihn und für alle, die er einladen mochte, zu einem angenehmen Aufenthalt zu machen, sie hatte es nie gelernt, ihre Ansichten über die Menschen für sich zu behalten. Wenn ein Besuch sie langweilte, pflegte sie sich zu entschuldigen: »Sie sind doch nicht böse, wenn ich schon jetzt zu Bett gehe – ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, und das mit einer strahlenden Freundlichkeit, die außer ihr selbst niemand täuschte und in den Gästen ein Gefühl peinlicher Verlegenheit erzeugte.

Würde sie Lockert uninteressant finden?

Sie nahmen ihren Kaffee nach dem Essen im Musiksalon, und als man zu tanzen begann, kam Lockert gemächlich heran.

»Mr. Lockert – meine Frau«, murmelte Sam.

Lockert blieb steif, als er sich verbeugte, als er sich auf eine schwache Einladung hin setzte, aber Sam bemerkte, daß seine hellblauen Augen rasch Leben bekamen und Fran anerkennend musterten … Fran, lieblich blaß in einem Stilkleid, wie nur sie in ihrer Schlankheit es tragen konnte.

Sam lehnte sich mit seiner Zigarre zurück und ließ die Beiden reden. Für ihn war das beste Gespräch nicht eines, bei dem er selbst glänzen konnte, sondern eine Unterhaltung, die Fran amüsierte und aus ihrem seidigen Schmollen herauslockte.

»Waren Sie lange in Amerika, Mr. Lockert?«

»Diesmal nicht. Ich habe in Britisch-Guiana gelebt – Plantage – kein Soda zum Whisky, und immer die Aussicht, daß man unter seinem Sessel auf der Veranda eine zusammengerollte Schlange findet – nette große Schlangen, alle gestreift, sehr hübsch und freundlich – ich glaube, ich kann mich nicht daran gewöhnen.«

Lockert sprach zu ihr nicht mit der unpersönlichen Freundlichkeit, die er für Sam hatte, und nicht mit der gelangweilt pflichtschuldigen Ehrerbietung, welche die meisten Männer in Zenith vor jeder Frau über achtzehn entfalteten, sondern mit einem konzentrierten Eifer, wie man ihn nur in der Gegenwart anziehender Frauen hat, aus einem ehrlichen Bedürfnis nach Frauen, das Fran zu schmeicheln und sie aufzurütteln, aber gleichzeitig ängstlich zu machen schien. Zuerst hatte sie Lockert mit harter Höflichkeit betrachtet. »Schon wieder einer von den schwerfälligen Geschäftsleuten, die Sam immer mit sich herumschleppt.« Jetzt konzentrierte sie sich auf ihn, sie vergaß Sams Anwesenheit und murmelte voller Jugend:

»Das hört sich ja fürchterlich an. Aber so aufregend! Ich glaube fast, ich würde mich über eine nette gestreifte Schlange freuen, der Abwechslung wegen! Ich habe mehr als genug von den gesunden, sicheren amerikanischen Städten, wo man auf seinem Sessel nie etwas Aufregenderes finden kann als die Morgenzeitung. Ich glaube, ich werde mich nach Schlangen umsehen!«

»Fahren Sie nach dem Osten?«

»Ich weiß nicht. Ist das nicht nett! Gar keine Pläne außer London.«

»Einige Zeit bleiben Sie aber in London?«

»Ja, wenn nicht zu viele Amerikaner dort sind. Wie kommt es nur, daß die reisenden Amerikaner so fürchterliche Menschen sind? Sehen Sie sich diese entsetzlichen Leute dort am zweiten Tisch an – nein, gleich hinter der Säule – der Vater mit Hornbrille, ganz bestimmt redet er entweder von Coolidge oder von der Prohibition – die seriöse Mutter im selbstgemachten Kleid, die auf der Jagd nach Bildung ist und darin bestimmt keinen Spaß versteht – und die Tochter mit einer Stimme wie eine Raspel. Wie kommt das eigentlich?«

»Und wie kommt es, daß Sie Amerikaner, die netten, noch viel snobistischer sind als die Engländer?«

Sie schnappte nach Luft, und Sam wartete auf ein Donnerwetter, das aber nicht kam. Lockert war ruhig und angenehm, und sie fügte sich ihm mit einem verwirrten: »Sind wir das wirklich?«

»Schauderhaft! Ich kenne nur zwei Klassen von Menschen, die ihre eigene Rasse hassen – oder Volk oder Nation oder wie Sie es nennen wollen – die hauptsächlich reisen, um von ihren eigenen Leuten fortzukommen, die nie anders von ihnen reden als mit Verachtung, die sich freuen, wenn man glaubt, daß sie nicht dazugehören. Das sind die Amerikaner und die Juden!«

»Aber ich bitte Sie, das ist doch albern! Ich bin genau so stolz darauf – Nein! Das stimmt. Zum Teil. Sie haben recht. Wie kommt das?«

»Ich glaube, weil Ihre Propagandaleute so sehr ins andere Extrem verfallen, wenn sie von ›Gottes Land‹ reden –«

»Den Ausdruck gebraucht doch kein Mensch mehr.«

»So? Auf jeden Fall: ›Größtes Land der Erde‹ und ›wir haben den Krieg gewonnen‹. Und dann Ihre entsetzlichen Städtepropagandareisen und Elchzusammenkünfte – Leuten wie Ihnen ist dieses Geschrei fürchterlich. Außerdem glaube ich, daß wir Engländer Ihnen etwas damit antun, daß wir zurückgelehnt dasitzen und in aller Ruhe annehmen, wir sind die vornehmsten und anständigsten Leute auf der Welt. Und wenn irgendein Mensch oder irgendeine Nation den Mut oder den großartigen Egoismus hat, das lange genug zu tun, wird fast alle Welt es ihr glauben. Ach, die Engländer sind im Grunde viel unerträglicher als die Amerikaner –«

»Aber sie machen nicht soviel Lärm darüber«, sagte Fran überlegend.

Sam konnte sich beim besten Willen nicht einreden, daß er mit dieser Unterhaltung einverstanden sei.

 

»Vielleicht nicht,« antwortete Lockert; »obwohl es kaum etwas Lärmenderes gibt als den leisen, ruhigen Ton, in dem ein Engländer murmeln kann: ›Machen Sie nicht so einen Lärm, mein Bester –!‹ Physikalisch reicht das vielleicht nur einen Meter weit, aber geistig klingt es bis zu den Wolken hinauf! Und jetzt, da ich ein Kolonialmensch geworden bin, werde ich es auch hören. Sogar mein Vetter – ich habe Ihrem Gatten von ihm erzählt – ein kompletter Automobilnarr – ich werde bei ihm in Kent wohnen. Er wird sehr freundlich zu mir sein und mich dabei in aller Liebenswürdigkeit zurechtweisen – und dabei ist er wirklich ein netter alter Kerl – der gute General Herndon.«

»General Lord Herndon? Von der italienischen Offensive?« fragte Fran.

»Ja. Wissen Sie, mein verehrter Urgroßvater verdiente so gut an Baumwolle, daß er mit einer Pairswürde belohnt wurde.«

»Und Sie sind so stolz darauf! Deshalb macht Ihnen ja Ihre falsche Bescheidenheit Spaß. Die englische Behauptung, daß nur Amerikaner Titel ernst nehmen, ist Unsinn. Ihnen bereitet es ebensoviel Befriedigung, Ihren Vetter nicht ›Lord‹ zu nennen, wie –«

»Wie jeder entzückenden Amerikanerin, ihn ›Lord‹ zu nennen!«

Sie schien hilflos gegen Lockerts freimütige Unverschämtheit zu sein; es schien ihr Freude zu machen; sie gab zu: »Ja, vielleicht«, und sie lächelten einander zu.

»Aber Spaß beiseite«, sagte Lockert, »Sie werden englischer sein als ich, wenn Sie erst ein Jahr im Land gelebt haben. Ich habe mich so viel in Südamerika und Colorado und Ceylon herumgetrieben, daß ich nichts weiter bin als ein Vagabund. Eine Dschungelratte.«

»Ist das Ihr Ernst – daß ich englisch werden kann?« Sie war achtlos offen, sie, die stets Achtsame.

»Selbstverständlich … Tanzen Sie?«

Lockert tanzte trotz seiner Untersetztheit – er war so derb und anmutlos wie seine geliebte Hammelkeule – mit Leichtigkeit. Sam ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und sah den beiden zu. »Nett, daß sie schon jemand zum Spielen hat«, sagte er sich.

Und innerhalb von drei Tagen hatte sie ein Dutzend Männer zum »Spielen«, zum Tanzen, zum Diskutieren und zu Spaziergängen auf dem Deck gefunden. Aber stets war es Lockert, der den Anspruch erhob, ihr Protektor zu sein, der ihre neuen Bekanntschaften einzeln musterte und sich durchaus nicht scheute, sein Urteil über sie abzugeben. Sie ärgerte sich hilflos über seine Anmaßungen, und er entschuldigte sich so leutselig und so unaufrichtig, daß es ihr manchmal auf Stunden ein Vergnügen bereitete, in einen warmen Mantel gehüllt auf dem Deck mit ihm zu streiten. Und als Lockert und sie herausfanden, daß sie beide Hunde gern hatten und gelehrte Gespräche über drahthaarige Terrier führten, lehnte Sam sich zurück und hörte zu, als wäre sie sein kluges Töchterlein.

Zwischendurch wurde sie fröhlicher und zärtlicher mit ihm als seit Jahren; und mit jedem Tag machte die Unbekümmertheit, die einem Fabrikanten wie Sam zukam, mehr und mehr überraschenden, ungekannten Gefühlen Platz.


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