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Sechzehntes Kapitel

Während der Überfahrt verbrachten Sam Dodsworth und sein Freund Ross Ireland ein gut Teil ihrer Zeit im Rauchsalon der Aquitania im Gespräch mit anderen Passagieren über die Herrlichkeit Amerikas. Auch Sam war keineswegs still, Ross aber war beredt, er war lyrisch, er war gewaltig.

Wenn Paris, Kambodscha, Oslo, Glasgow oder irgendeine andere Perle des Auslandes gepriesen wurde, donnerte er: »Mein lieber Junge, das ist alles Apfelmus, und ich weiß Bescheid! Ich habe mich drei Jahre herumgetrieben. Ich habe den Grafen Bethlen interviewt und bin den Kongo hinaufgepaddelt, ich habe eine feine Sache über die Goldfelder an der Lena geschrieben und in England dreitausend Meilen im Auto gemacht. Und Sie können mir glauben, ich bin froh, daß ich wieder in ein richtiges Land zurückkomme, Jungchen!

New York? Lärmend? Na ja, warum soll es nicht lärmend sein? Es tut sich ja was! Glauben Sie mir, jetzt werden alle alten Teile vom Himmel nach dem Modell der New Yorker Wolkenkratzer neu gebaut! Wissen Sie, wenn wir die Gefahren der Tiefe hinter uns haben und ich meinen Hut wieder in der Park Row aufhängen kann, bringen mich keine zehn Pferde weiter als bis zu einer Elchversammlung in Atlantic City! Und lassen Sie sich von keinem Menschen erzählen, daß die Elche und die Rotarianer und die National Civic Federation auch nur um so viel profitgieriger sind als der englische Kaufmann, der unsere Dollarjagd so fürchterlich findet, daß er uns davon abhalten will, indem er alle Dollars, die's zum Jagen gibt, hoppnimmt, oder als der elegante superkluge Franzose, der den Franc nicht mehr liebt als Gott. Und sogar mit Trinken – Ich will nicht leugnen, daß mir ein Trottoircafé lieber ist als eine blinde Kneipe, aber wenn ich wieder zu Denny komme und meine Beine mit ein paar richtigen, hausgemachten Mannsamerikanern unter den Tisch stecken kann statt mit den Parlezvous-Amerikanern, die sich im Ausland herumtreiben – Na Junge!«

 

Als Sam in Ross Irelands Kabine kam, entdeckte er, daß Ross sich heimlicher intellektueller Tätigkeit schuldig machte. Wenn Ross nicht gerade im Gehrock einen Lordkanzler oder einen kommandierenden General interviewte, glaubte er seine trotzige Unabhängigkeit beweisen zu müssen, indem er sagte: »Junge, Junge«, »Mensch, wer hat dir das eingetrichtert« oder »Au Backe«. Er sagte, jeder Auslandskorrespondent, der Geschichtswerke lese, Konzerte besuche oder Gamaschen trage, wolle bloß »Eindruck schinden«.

Doch Sam kam dahinter, daß Ross Ireland die Sünde beging, umfangreiche und ernsthafte Geschichtsbände zu lesen, daß er Conrad mehr bewunderte als Conan Doyle, daß er in aller Heimlichkeit lieber Schach als Poker spielte, und daß er überaus stolz darauf war, einen in London gebauten Frack zu besitzen.

Daß solch ein Mann, der leidenschaftlich amerikanisch war und doch fremde Länder gesehen hatte, sich so auf die Heimkunft freute, bestärkte Sam nur um so mehr in dem, was er über seine eigene Rückkehr empfand. Nichts auf der Aquitania konnte ihm imponieren, keiner ihrer Vorzüge konnte ihn berauschen, wie es auf der Ultima gewesen war, weil all seine freudige Erregung auf die prachtvollen Menschen konzentriert war, die er bald sehn sollte.

Tub Pearson –

Er hörte sich sagen: »Na, du dicker kleiner Zwerg! Du Pferdedieb! Herrgott, bin ich froh, daß ich dich wiedersehe!«

Er stand auf dem Promenadendeck und träumte davon, daß sein Herz im Rhythmus mit dem Steigen und Sinken des Bugs schlage, jubelte, daß das Schiff die Meilen zwischen ihm und der Heimat auffraß. Freundlich, aber fest und unerschütterlich stand er da, ein großer starker Mann in grauem Burberry und grauer Mütze, ein tüchtiger und unsentimentaler Mann. Aber innerlich lief er über vor Sentimentalität. Als er einmal in der Nacht die Lichter eines Schiffes sah, spielte er, es wären die Küstenlichter von Long Island, und stellte sich eifrig die bekannten Bilder vor – breite Straßen, tosender Verkehr, Backsteingaragen, die unverschämte Majestät der Wolkenkratzer, und weiter drinnen viele Meilen mit weißen und grünen Häuschen, in denen Menschen, die er verstand, Spiele spielten, die er verstand, Poker und Bridge, und am Radio Späßen und einer Musik zuhörten, die er verstand. Und vor jedem zweiten Bungalow stand ein Revelationwagen.

»– und ich werde bleiben!« jubelte er.

 

Während der ganzen Überfahrt hatten Ross Ireland und er den Passagieren, die Amerika noch nicht kannten, prahlerisch erklärt, sie würden »ihren Augen nicht trauen«, wenn sie den North River hinaufdampften. Ross rief: »Das großartigste Bild der Welt – ein Wolkenkratzer nach dem andern, dreißig, vierzig, fünfzig Stock hoch, und schön – na! der Kölner Dom würde daneben aussehen wie eine Methodistenkapelle, und der Eiffelturm wie ein Regenschirm ohne Futteral!«

Sie beide redeten tatsächlich so viel von der Pracht des New Yorker Hafens, daß Sam zu zweifeln begann, ob er sich wirklich so freuen würde, wie er erwartete. Es fiel ihm jetzt ein, wie sehr ihn nach einer höchst bescheidenen Vorfreude der erste Anblick von Notre Dame enttäuscht hatte. Die Kirche war ihm niedrig und plump vorgekommen – nicht halb so imposant wie das Papp-Notre Dame im Film. Es gelang ihm, sich in eine tüchtige Aufregung zu versetzen. Er hoffte von New York begeistert zu werden, wie ein junger Liebender vom Anblick seiner Schönen hingerissen zu werden hofft.

 

Früh an einem Junimorgen kamen sie durch die Engen in den New Yorker Hafen. Sam war um fünf Uhr auf, entzückt vom Anblick des freundlich grünen Rasens bei Fort Hamilton nach dem ruhelosen Meer. Es war ungewöhnlich heiß für den Frühsommer, sogar auf dem Deck etwas unbehaglich, und der Horizont war hinter einem Nebelschleier verborgen. Sam fürchtete, er würde um seine Wiederentdeckung New Yorks kommen. Nach der Quarantaine, als sie von Staten Island auf den North River zudampften, konnte er nur vor Anker gegangene Frachtdampfer sehen, und einen riesigen Wasserkäfer von Fährboot. Dann hob sich der Nebel, und er rief aus: »Mein Gott!« Hoch oben leuchteten die Türme und Spitzen einer verzauberten Stadt, die über dem Dunst schwebte, Pyramiden und Kuppeln funkelten in der Frühsonne, riesige Mauern, übersät mit vergoldeten Fenstern, feenhaft, unglaublich.

Ross Ireland neben ihm brummte: »Herrjeh!« Und dann: »Na, muß man nicht stolz sein, daß man hierher nach Hause kommt!«

Allerdings, als sie den North River langsam aufwärts fuhren, machte der Wirrwarr von Lagerhöfen, Magazinen und Fabriken am Flußufer einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Die immer zäher werdende Hitze brütete, und auf dem Flußwasser schwammen phantastisch schillernde, ölige Flecken. Als sie aber umständlich zur Landungsstelle bugsiert wurden, als Sam die Zurufe von der Menschenschar, die am Quai wartete, hörte: »Mensch, wo hast du denn das Monokel geklaut?« und: »Ach los – sei doch nicht so – schmeiß mir eine Flasche rüber!« – da brummte er immer wieder: »Es ist doch schön, zu Hause zu sein!«

 

Dann kam der Zoll.

Nicht daß die Inspektoren so unhöflich gewesen wären, wie man fabelt, aber es ist ärgerlich, des Alkoholschmuggels verdächtigt zu werden, besonders wenn man, wie Sam, Alkohol schmuggelt. Er hatte eine Quartflasche Vorkriegs-Scotch zwischen seinen Anzügen in einem Schrankkoffer, und der Inspektor fand sie sofort.

»Was ist das? Wie nennen Sie das?«

»Nanu! Das sieht ja aus wie eine Flasche!« antwortete Sam freundlich. »Ich kann gar nicht verstehen, wie sie hierher kommt! Erlauben Sie, daß ich sie Ihnen zum Präsent mache.«

Und er mußte fünf Dollar Strafe zahlen. Aber schlimmer war es, daß Sam, weil er jetzt keinen Schnaps hatte, einen geradezu empörenden Durst bekam – Sam Dodsworth, der nie in seinem Leben vor Mittag getrunken hatte, abgesehen von einem bestimmten Fußballspiel in New Haven. Er mußte ganz einfach –

Der Droschkenchauffeur – Sam kam zu ihm, nachdem er Stunden damit verbracht hatte, Zoll zu bezahlen, Träger aus ihrem würdevollen Nichtstun aufzustören, die seine Koffer über den unendlichen Zementboden zur Freiheit schleiften, zuzusehen, wie sein Gepäck über das höchst sinnreiche und beunruhigende Transportband hinunterbefördert wurde, und schließlich damit in der Löwengrube des New Yorker Verkehrs atemlos zu landen – der Droschkenchauffeur vermittelte Sam die erste Begrüßung Amerikas.

»Wohin soll's gehn?« knurrte er.

Sam war entsetzt bei der Entdeckung, daß diese demokratische Kundgebung ihn ärgerte. Wie die meisten Amerikaner in Paris, hatte er behauptet, alle französischen Taxichauffeure wären Banditen, aber jetzt mußte er sie für verspielte, zärtliche Kinderchen halten.

 

Es war drückend heiß in den Seitenstraßen, die aus den Hafenanlagen hinausführen, und schauderhaft dreckig. Vor den Magazinen und häßlichen Backsteinhäusern lagen in garstigen Haufen alte Zeitungen, Flaschen, Lumpen und Mist herum. Sandige Aschenwolken flogen aus offenen Mülleimern auf, und zur Hitze kam der New Yorker Sommergeruch nach verfaulten Bananen, ungewaschener Wäsche, altem Bettzeug und Straßenfeuchtigkeit. Vor der Droschke, Sam blieb vor Schrecken das Herz stehen, rasten kleine Jungen (sehr vergnügt und unbegreiflich gesund) über den Damm; und auf den gebrechlichen Eisenbalkons der Feuerleitern saßen Mütter, denen die Haarzotteln über die Augen fielen, und nährten ihre Kinder, die ihr Saugen unterbrachen, um vor Hitze zu weinen. Es war, mußte Sam denken, eine Stadt so nervös wie ein verdrehtes Frauenzimmer. (Sam glaubte noch an männliche Stärke und weibliche Schwäche.) Sie war so männlich in ihren stattlichen Gebäuden, aber ihre von der Hitze angegriffenen, vom Lärm toll gemachten Nerven hatten nichts Männliches. Der Verkehrspolizist tobte über Sams Droschkenchauffeur, der Chauffeur beschimpfte alle Lastwagenführer, und die Lastwagenführer beschimpften über dem Brüllen ihrer Motore alles, was auf der Straße war.

Die Neunte Avenue raste im Geklirr der Hochbahn; die Achte Avenue war ein Grenzerlager aus kleinen Buden; die Siebente Avenue war ein Tollhaus von Verkehr zwischen stolzen Gebäuden mit enormen Schildern – »Löwenstein und Putski, Kleider für kleine Leute« und »Der Büstenhalter der Lebewelt, Rothweiser und Gitz«; die Sechste Avenue vereinigte den ohrenbetäubenden Lärm der Neunten mit der Scheußlichkeit der Achten und dem lebensgefährlichen Verkehr der Siebenten; und als Sam erleichtert die stattliche Fünfte Avenue erblickte, verstopfte eine unmenschliche Menge funkelnder Automobile die ganze Breite der Straße.

Der Sam Dodsworth, der sich für unermüdlich hielt, war erschöpft, als er sich in sein kühles Hotel rettete. Er setzte sich in seinem Zimmer an das Fenster, musterte die unfreundliche Front der hohen Bureaugebäude gegenüber und sehnte sich nach einem ordentlichen Schluck.

»Fünfundzwanzig Dollar würde ich, vorsichtig gerechnet, jetzt für die Flasche Scotch geben, die man mir im Zoll abgenommen hat … Ach Gott! … Bei so einem Wetter gefällt mir New York gar nicht so gut. Ich werde froh sein, wenn ich auf dem Land draußen bin. Das dort ist das wahre Amerika … Ich hoffe wenigstens! … Ich sehe schon, wo ich mich nicht, so wie in Paris, darüber beklagen werde, daß ich zu wenig zu tun habe! Und diese Flasche möchte ich wiederhaben!«

Seine Meinung über die Prohibition wurde nicht besser – es machte die ganze Angelegenheit nur um so idiotischer, verdrießlicher und verlogener – als er nach einem Telephongespräch im Verlauf einer halben Stunde eine Kiste Whisky in seinem Zimmer hatte und viel früher am Tage etwas trank, als er in Paris je getan hätte.

Er hatte viele Leute in New York aufzusuchen, bevor er nach New Haven zu seinem Abituriententag fuhr. Aber er telephonierte mit keinem Menschen – außer dem Alkoholschmuggler. Er hatte gerade genug Energie, am Fenster zu sitzen, so viel Luft zu schöpfen, wie möglich war, das unaufhörliche Drohen des City-Lärms nach Möglichkeit zu ignorieren, sich heimatloser vorzukommen als in Europa, ein gewaltsam lustiges Telegramm für Fran aufzusetzen und Brent in New Haven anzurufen.

Er hatte Brent den Tag seiner Ankunft nicht telegraphiert. »Der Junge hat wahrscheinlich genug mit Prüfungen und so weiter zu tun; wenn ich in New York bin, werde ich schon telephonisch herausbekommen, wann es ihm am besten paßt, nach New York hereinzukommen.« Brent war telephonisch nicht zu erreichen. Sam schickte ihm ein Telegramm, und das war so ziemlich das Letzte, zu dessen Erledigung er sich aufgelegt fühlte. Er ruhte bis eins, bis halb zwei. Er nahm ein kleines Frühstück in seinem Zimmer, und die Freude, ordentlichen amerikanischen Zuckermais zu bekommen, belebte ihn fast wieder, aber dann saß er abermals am Fenster, bis drei, und brütete. Die Mattigkeit lag um ihn wie eine ungeheure Spinnwebe.

Was tat er hier in New York? Was tat er anderswo? Was für einen Grund zum Leben hatte er? Fran in Paris brauchte ihn nicht. Und die Automobilindustrie schien ganz vergnügt ohne ihn weiterzukommen.

Er sah seiner Entdeckung ins Auge – es war geschehen, gerade als er ins Hotel kam, aber erst jetzt ließ er es sich ins Bewußtsein dringen. Als er aus seiner Droschke stieg, hatte er das neue Revelationmodell gesehen, wie die Unit Automotive Company es herstellte, dreihundert Dollar unter Sams früherem Preis. Er hätte es gern fürchterlich gefunden, gern erklärt, es sei blechern und armselig, aber er mußte zugeben, daß es ein wahres Wunder war, mit niedriger geschwungener Karosserie und flotter geneigter Windschutzscheibe. Er kam sich überaltert vor. Die U.A.C. hatte dieses neue Modell in sechs Monaten geschaffen; mit seiner eigenen Organisation hätte er mindestens ein Jahr zur Fertigstellung gebraucht, und dann hätte er es zurückgehalten bis zur Automobilschau im Herbst, um es mit großem Pomp herauszubringen, als ob er ein Priester wäre, der nur mit Widerwillen die Laienwelt seine Mysterien schauen läßt. Kümmerte die U.A.C. sich nicht um Saisons und Markttermine – schleuderte sie ganz einfach neue Modelle heraus, als wären es Maiskonserven?

Es fiel ihm ein, daß er nicht gewußt hatte, wann der neue Revelation herauskommen sollte. In den ersten Monaten seiner Abwesenheit hatte er oft von Alec Kynance gehört, aller Klatsch war zu ihm gedrungen, und viele Aufforderungen, er möge zurückkehren. In den letzten drei Monaten hatte er nur wenig gehört. War er draußen – für immer vielleicht?

Er war nach Amerika mit dem Gefühl zurückgekehrt, die Automobilwelt verlange nach ihm; an diesem heißen, verwirrten Nachmittag glaubte er zu wissen, daß niemand sich um ihn kümmere … Allerdings, um seine Zeit frei zu behalten, hatte er keinem Menschen etwas von seiner Ankunft verraten, aber, in drei Teufels Namen, die Leute hätten es schon irgendwie herausfinden können –

Übrigens, da er schon daran dachte, kein einziger der Reporter, die auf der Jagd nach ankommenden Berühmtheiten an Bord der Aquitania gekommen waren – nach Größen, wie dem polnischen Tennis-Champion, dem berühmten Radioansager, der seine Kunst in Berlin vervollkommnet hatte, der neuesten New York-Pariser Geschiedenen – ihn hatte niemand beachtet. Bei seiner Abreise aber hatte man ihn als repräsentativen amerikanischen Geschäftsmann interviewt –

Sein Absturz in die Unbedeutendheit erschreckte ihn.

Um halb vier wurde er angenehm von einem telephonischen Anruf überrascht:

»Hallo? Dodsworth? Hier Ross Ireland. Ich bin im selben Hotel wie Sie. Haben Sie was zu tun? Kann ich auf eine Minute raufkommen?«

Ireland platzte ins Zimmer, rot, mit verschwitztem Kragen, keuchend.

»Sagen Sie, Dodsworth, bin ich verrückt? Sehe ich verrückt aus?«

»Nein, nur erhitzt.«

»Erhitzt? Teufel! Erhitzt bin ich in Rangun gewesen. Aber da bin ich bequem in einem netten Wagen gesessen, in meinem hübschen weißen Anzug, mit einem Sonnenhelm, und hab mich nicht weiter davon stören lassen. Mir war nicht, als hätte ich zweihundertsiebenunddreißig Eisenbahnzusammenstöße, einen nach dem andern, mitgemacht. Wissen Sie, worauf ich gekommen bin? Ich hasse diese verdammte Stadt! Sie ist das dreckigste, lärmendste, wahnsinnigste Loch, in dem ich jemals war! Ich hasse sie – ich, der ich in den letzten drei Jahren die ganze Erdoberfläche abgelaufen und mir den Hals heiser geschrieen habe, um aller Welt zu erzählen, was für eine blendende Stadt New York ist.

Was haben Sie zu trinken? Ach, bloß Whisky? Na, wir können ja mal probieren.

Also, heute früh hab ich mir nicht einmal Zeit zum Auspacken gelassen. Ich mußte die gute alte Heimat wiedersehen, die lieben alten Nachbarn in der Park Row. Ich komme zum Quackenbos-Bureau, und der Laufbursche hat meinen Namen nicht einmal gehört. Ich hab ja bloß drei Jahre lang jede Woche drei Spalten, gezeichnet, geschickt. Aber dann hab ich eine Stenotypistin aufgetrieben, die gemeint hat, sie hätte schon mal was von mir gehört, und schließlich ist mir doch gnädigst erlaubt worden, den Alten zu sprechen – ich kann Ihnen sagen, zu ihm zu dringen, war sechzehnmal schwerer, als zu König Georg im Buckingham-Palast zu kommen, und wie ich glücklich drin war, da hat er die Füße in einer Schreibtischlade und liest die Witze im New Yorker. Na, er war tadellos. Er ist aufgesprungen und hat mir gesagt, ich wäre der Mann mit den weißen Haaren, und mein Anblick hätte ihn grade noch vom Typhus gerettet, eine ganze halbe Stunde haben wir geredet, und dann haben wir uns zum Lunch verabredet, für morgen! O nein, früher hat er nicht eine Minute Zeit! Heute abend – o Gott, nein, da muß er bei der Eröffnung eines neuen Dachgartens mithelfen.

Na, ich bin ein ausgekochter Schafskopf gewesen!

In ganz Europa und Asien bin ich rumgelaufen und hab den Heiden erzählt, daß wir uns in New York so abhetzen, liegt nur daran, daß wir so viel zu tun haben. Und erst heute bin ich dahintergekommen, daß wir das ganze Gehetze, das ganze Gedränge in der Untergrund, das Geraufe vor den Fahrstühlen nur haben, damit wir mit etwas beschäftigt sind und davor bewahrt bleiben, etwas zu tun! Ich sage Ihnen, in Wien habe ich in drei Stunden mehr ehrliche Arbeit getan, als mir hier in drei Tagen gelingen wird! Die österreichischen Hinterwäldler haben keine tüchtigen Laufburschen und Registriersysteme, die sie davon abhalten könnten, zur Sache zu reden. Deshalb können sie auch zwei Stunden Mittagspause machen. Die armen Teufel! Sie haben gar keine Gelegenheit Untergrund zu fahren! Und nur Caféhäuser, gar keine Nachtklubs. Ein schreckliches Leben!

Na, wie ich die halbe Stunde mit dem Chef hinter mir hatte, den größten Teil davon hat er gebraucht, um mir einen blendenden neuen dreckigen Witz zu erzählen, den er gerade gehört hatte – einen, den ich zu Hause in Iowa 1900 immer erzählt hab – also dann bin ich zum Chronicle hinübergegangen, um die Leute aufzusuchen, mit denen ich früher gearbeitet hab … Ich war dort mal Stadtredakteur! … Die Hälfte davon war nicht mehr da. In die Politik gegangen wahrscheinlich … Die andere Hälfte hat sich gefreut mich zu sehen, so viel ich merken konnte, aber inzwischen haben sie alle geheiratet oder Bridge gelernt oder angefangen in der Sonntagsschule zu unterrichten oder sich irgendeine andere unmoralische Beschäftigung zugelegt, und, weiß Gott, nicht ein einziger hat heute abend Zeit, mit mir zu essen und in ein Theater zu gehen. Übrigens, sind Sie heute abend zufällig frei, Dodsworth, ja? Großartig! Einfach herrlich!

Na, ich bin dann mit einem von den Leuten von der Sonntagsausgabe frühstücken gegangen. Er hat etwas von Whisky geredet, aber ich wollte was Abkühlendes. Da hat er gemeint, er weiß ein Lokal, wo man echten italienischen Chianti bekommen kann, und da sind wir auch hingegangen – früher muß eine Wäscherei dort gewesen sein, bis es zu dreckig geworden ist, es hat wenigstens so gerochen – und der Katzelmacher hat uns eine Flasche mit etwas gebracht, also wenn das Chianti war, dann bin ich ein duftendes Maiblümchen. Wirklich, Sam, es hat geschmeckt wie Essig, den man einmal zu oft als Wanzentod verwendet hat.

Und dann – Ach wahrscheinlich hab ich gemeint, weil ich von meiner ersten langen Reise zurück bin, hab ich eine große Botschaft für das junge Amerika – ich bin mir wahrscheinlich vorgekommen wie ein kleiner Peary, der den Pol in der Westentasche nach Haus bringt. Ich wollte dem Jungen erzählen, was ich alles von Burma weiß, und wie intim ich mit Lord Beaverbrook war, und alle Neuigkeiten von den oberschlesischen Problemen, und hat ihn das interessiert? Ja, ungefähr so viel, wie mich eine lange Rede über die Fortschritte der Christian Science in Liberia! Aber dafür hat er einen Haufen wichtige Neuigkeiten für mich gehabt. Donnerwetter! Bill Smith bekommt jetzt zwanzig Dollars mehr in der Woche! Statt Mike Magoon wird jetzt Pete Brown den Hockeyklatsch schreiben! Das Edam Restaurant bekommt eine neue Jazzband! Die Fishback Portable ist um fünf Dollars teurer geworden! Ellen Whoozis, die Cocktailkönigin, die den Gesellschaftstratsch schreibt, wird den theologischen Mitarbeiter heiraten!

Also, es war genau so wie damals, wie ich nach meinen ersten drei Jahren in New York in mein liebes altes Vaternest in Iowa zurückgekommen bin! Damals wollte ich den Jungens daheim von Brooklyn Ridge und von der Unsterblichkeit erzählen, und die wollten von Henry Hicks neuem Klapperkasten reden!

Na, es wird wohl alles das selbe sein, wirklich – der Buddhismus in Burma und Henrys Klapperkasten. Alles Nachbarentratsch, nur verschiedene Nachbarn. Nur –

Es ist doch nicht dasselbe! Ich habe – ach Gott, Sam, ich habe das Dschungel in der Dämmerung gesehen, und die Kerle sind hier gewesen an ihren kleinen Schreibpulten, sind keine fünf Schritte von ihrem normalen Weg abgewichen, von zu Hause ins Bureau, in die Kneipe, ins Bureau, ins Kino, nach Hause. Ich war auf einem brennenden Schiff im Persischen Golf –

Ich weiß, es ist bloß Eitelkeit, Sam, aber es gibt wirklich so manches außerhalb von Amerika – Ob sie da drüben einmal Verstand genug haben werden, ein Paneuropa zu machen – ob England Rußland anerkennen, und wer das russische Öl kriegen wird – was aus Polen werden wird – was der Fascismus in Italien wirklich bedeutet; lauter Sachen, die doch beinahe ebenso interessant sein müßten, wie das nächste Baseballspiel. Aber die Leute, die hier in New York geblieben sind, die sind so selbstzufrieden (wie ich früher auch!), daß sie sich um alles außer dem Marktpreis von Gin einen Dreck kümmern! Sie haben keine Ahnung, daß es hinter den Pariser Bars ein Europa gibt. Ja, sogar in meinem Beruf – in Europa bin ich der große Spezialauslandskorrespondent mit drei Sternen und zwei Roßschweifen, und hier (das ist Tatsache!) bekommt der Kerl, der jede Woche seine idiotische Zeichnung mit dem Farmer Hiram Winterbottom macht, dreimal so viel Gehalt wie ich – Sie können sich darauf verlassen, wenn der ins Bureau käme, hätte der alte Quakenbos den ganzen Tag Zeit für ihn!

Na, nachdem ich Ihnen jetzt erzählt hab, was für ein benachteiligtes süßes Bubi mit Spitzenkragen ich bin, wollen wir –

Aber diese Stadt, auf die ich mich so gefreut habe – (Menschenskind, wissen Sie, daß wir in einer Woche mit der Aqui zurückfahren können? Denken Sie doch an die nette kühle Ecke im Rauchsalon!) Ich bin draufgekommen, daß die einzige moderne, neue, noch nie dagewesene, geniale Methode, in diesem Nest irgendwohin zu kommen, wenn man wirklich hinkommen will, Gehen ist! Und die Untergrund – Wie viel Jahre ist es her, daß Sie zum letztenmal in der Untergrund waren? Na, trauen Sie sich nicht hinein! Ich habe mich für einen ziemlich großen und kräftigen Burschen gehalten, aber ich kann Ihnen sagen, der Untergrundbeamte in der Grand Central hat mir ganz einfach das Knie mitten in den Rücken gebohrt und mich in einen Wagen gepreßt, der schon gesteckt voll war, als ob ich ein dreijähriges Kind wäre! Und bis zur Brooklyn Bridge hab ich mit der Nase im Hals von einem Abfallgroßhändler stehen müssen! Ich komm mir vor wie ein Anarchist! Ich möchte die ganze Stadt in die Luft sprengen!

Dann, nach dem Lunch, wollt ich mir ein paar echte Erstausgaben von amerikanischer Sportunterwäsche kaufen und bin zu Mosheims Warenhaus gegangen. Haben Sie schon das neue Gebäude gesehen? Sieht aus wie eine zwanzig Stock hohe Eisbude. Die Schaufenster voller Diamanten und Atlas und Elfenbein und alten spanischen Möbeln, und Wäsche, daß eine Filmschauspielerin rot werden müßte. ›Stadt des Luxus – Europa um eine Meile geschlagen!‹ sag ich mir. ›Extraausgabe! Vergnügungshauptstadt der Welt Entdeckt von H. Ross Ireland!‹ Und dann wollte ich in den Laden reinkommen. Wirklich, Sam, ich bin ein ziemlich starker Kerl, wenn ich meine Kraft zusammennehme. An der Universität in Iowa war ich Zentrum und Schwergewichtsringer. Aber, weiß Gott, ich hab kaum hineinkommen können. Ein Strom von Wahnsinnigen hat sich herausgedrängt, und ein anderer hinein, als ob es brennen würde, und alle Gänge waren verstopft, und wenn man dann glücklich am richtigen Tisch ist –

Na, ich hab mich schon genug drüber geärgert, wie man im Ausland behandelt wird. Ich hab einen türkischen Teppichverkäufer zur Verzweiflung gebracht, weil ich einen von seinen Fetzen nicht mehr als doppelt überzahlen wollte; ich hab das höllische Fluchen von einem hartgesottenen griechischen Maat gehört, der auf Deck über mich gestolpert ist; ich habe einen Gondoliere sagen gehört, was er von meinem Trinkgeld hält. Aber die Burschen haben einen doch wenigstens behandelt, als ob man beinah ihresgleichen wäre. Es ist so, wie Chesterton sagt – wenn jemand seinen Hausmeister unten mit Fußtritten regaliert, so beweist das noch gar keinen Mangel an Demokratie; erst wenn man sich so erhaben über seinen Hausmeister fühlt, daß man ihn gar nicht anfassen will, erst dann ist man wirklich hochnäsig. Und so hat mich der nette tüchtige junge Herr am Unterwäschetisch behandelt. Er hatte etwa sechs Leute zu bedienen, und wenn ich nicht rasch sein und nehmen wollte, was er mir gibt, dann hätte er eben seine köstliche Zeit nicht an mich verschwendet, und ununterbrochen hat er mich mit so einem Blick angesehen: ›Du Mordsbauernschädel, mach keine Witze mit mir, das ist kein richtiger New Yorker Anzug, den du anhast – marsch zurück nach Yankton.‹

Dann wollt ich aus dem Laden wieder raus. Einer bohrt einem den Ellbogen in den Magen, ein anderer tritt einen in den Rücken, und der Fahrstuhlmann schreit: ›Beeilen, bitte‹, bis man Lust hat, ihm die Nase einzuschlagen. Wirklich, ich bin mir vorgekommen wie ein von den Kosaken gehetzter Flüchtling – nein, so menschlich war's gar nicht; ich bin mir vorgekommen, als wäre ich einer von der Stierherde, die zum Schlachthaus getrieben wird. Herrgott, ist das eine Stadt! Luxus! Gold! Alles außer Selbstachtung und Anständigkeit und Ruhe!

Und die vielen Worte! Das ist meine längste Rede, seitdem ich meinen ersten Boy in Burma dabei erwischt hab, daß er meine besten Hosen trägt!«

»Na«, sagte Sam besänftigend, »wenn Sie aufs Land hinauskommen, wirds besser werden.«

»Aber ich kann das Land nicht leiden! Ich bin als Bauer geboren und bin deshalb für das Stadtleben. Von Maisfeldern und Misthaufen hab ich genug gehabt, bevor ich mit vierzehn Jahren durchgebrannt bin. Und so viel ich beim Lunch gehört hab, wird es mit allen anderen Städten in Amerika genau so schlimm wie mit New York – Verkehrsverstopfungen und große Filmpaläste und Radios, die überall brüllen, und jeder Mensch muß elektrische Geschirrwascher und Staubsauger haben, und jede Familie muß nicht etwa ein Auto haben, ach woher, zwei oder drei – und alle auf Stottern! Aber ich glaube fast, jedes dieser Nester war besser als dieses New Yorker Affendschungel.

Und ich dachte, ich kenne diese Stadt! Zehn Jahre bin ich hier gesessen! Aber wirklich, es ist sechzehnmal so schlimm wie vor drei Jahren, scheint mir wenigstens. Das wird hier drei Jahre später nett sein! Und so ausländisch – hören Sie, wenn man ein richtiges altmodisches amerikanisches Gesicht auf der Straße sieht, begreift man nicht recht, wie der Mensch hierherkommt. Ich glaube, ich werde wieder nach London gehen, um ein paar Amerikaner zu sehen!«

 

Sam war überzeugt, daß Ross übertrieb. Aber als Ross gegangen war und er sich aus seiner Schlaffheit zu einem Spaziergang – einem heißen Kriechen – aufgerafft hatte, kam er sich in dem unermeßlichen Wirbel der dampfenden Straßen verirrt und klein und fremd vor.

Und er wußte kein Lokal, das er hätte aufsuchen können. Er merkte, daß diese Weltstadt, die barbarisch in Gold und Marmor prangte, für jedes menschliche Bedürfnis sorgte, außer einer Stelle, einem Café oder einer Plaza oder einer nicht zu damenhaften Teestube, wo er sitzen und Mensch sein könnte. Na! Er konnte in die Metropolitan Galerie gehen, ins Aquarium, zu den staubigen Bänken im Central Park, oder sich still in einen netten lackierten Kirchenstuhl in einer protestantischen Kirche setzen.

Vorübereilende stießen mit Koffern gegen seine Beine, kleine emsige Juden rannten ihn an, Flappers mit überpuderten Gesichtern musterten verächtlich seine schäferhaft sanfte Miene, eine Brandung verschwitzter, nicht auseinanderzuhaltender Menschen fegte über ihn hinweg, unglaublich teure Schaufenster starrten ihn an, und an jeder Straßenkreuzung wurde er von der Verkehrswoge aufgehalten, während er langsam zur Fünften Avenue schlich, weiter zur Zweiundfünfzigsten Straße, an häßlichen billigen Bazaren und Restaurants vorüber, dann zur Sechsten Avenue und wieder zurück zur Grand Central Station.

Er stand nachdenklich (er, der noch vor einem Jahr nie so hätte stehen können, sondern höchst ernsthaft mitgehetzt und -gejagt hätte) auf seinem Balkon, von dem er die ungeheure Grand Central Station sah, wie eine überdachte Place de la Concorde. Wie kommt es nur, mußte er denken, daß die Unendlichkeit von Notre Dame oder Sankt Paul die Gestalten der Betenden nicht klein und lächerlich macht, wie hier der große Raum die Gestalten der Reisenden, die den Einlaßstellen zugaloppieren? Liegt es daran, daß die kleinen Menschen, dunkel und unbedeutend in den Domen, doch Würde und Haltung haben, weil sie die Wege Gottes suchen, während sie hier mit dem absurden Eifer von Insekten durcheinander wimmeln?

Er dachte, dies sei wahrhaftiglich der Tempel einer neuen Gottheit, des Gottes der Geschwindigkeit.

Von seinen Anhängern verlangt er ebenso viel blinde Leichtgläubigkeit wie irgendeine der verbrauchten Gottheiten – er verlangt den Glauben, Irgendwohin-gehen, Rasch-gehen, Oft-gehen sei an sich etwas Heiliges und sehr Erstrebenswertes. Ein fordernder Gott, diese Geschwindigkeit, weniger gutmütig als die älteren Götter mit ihren Fehlern und Liebschaften, deren Eitelkeit so leicht mit Kränzen und Schmeicheleien zu befriedigen war, ein fehlerloser und unersättlicher Gott, der, hat man ihm einmal hundert Meilen in der Stunde dargebracht, schnurstracks hundertundfünfzig verlangt.

Und mit seinen Automobilen hatte Sam an der Geburt dieser neuen Religion mitgearbeitet, in der behaglichen Muße Europas hatte er sich nach seinen mönchischen Härten gesehnt! Jetzt lästerte er ihn voll Sehnsucht nach der schäbigsten Kneipe in dem verkommensten Hintergäßchen von Paris.

Er schüttelte seinen grauen, zottigen Kopf, als er hinuntersah auf Handelsreisende, die mit wichtigen Gebärden vor gepäckbeladenen Trägern einherstolzierten, auf abgearbeitete Börsenmakler mit klappernden Paketen von Golfschlägern, auf aufgeregte Frauen, hochmütig geputzte Frauen, und schlanke junge Männer in weißen Knickerbockers. Sie alle schienen ihm dem Wahnsinn zugetrieben zu werden von dem wahnsinnigen Gott der Geschwindigkeit, den sie selbst geschaffen hatten – den Sam Dodsworth mit geschaffen hatte.

 

Sam und Ross Ireland waren so töricht, mit einer Autodroschke zum Theater fahren zu wollen. Als sie bereits um eine halbe Stunde zu spät daran waren, stiegen sie aus und gingen die letzten sechs Blocks zu Fuß. Sie sahen eine Schar köstlicher und nackter junger Mädchen, ebenso nackt, wie sie in den Folies-Bèrgere gewesen wären.

»Aus der Luft um uns kann man schließen, daß es ein paar New Yorker gibt, die noch nichts von der Prohibition gehört haben«, seufzte Ross, als sie im Zwischenakt auf der Straße auf und ab gingen. »Na, es ist ein Segen, daß die Prediger vorläufig noch nicht Einfluß genug beim lieben Gott haben, um den Mädchen das Nacktsein zu verbieten. Das muß drankommen, sobald die Prohibition wirklich durchgedrungen ist – man wird dafür sorgen müssen, daß die Mädels mit Nachtkleidchen aus Flanell auf die Welt kommen … Wirklich, Sam, ich verstehe unsere Vereinigten Staaten hier nicht. Wir lassen alle Bücher von Bibliothekaren zensurieren, und doch haben wir solche Revuen – genau so schlimm wie in Paris. Wir stellen uns hin und verkünden laut, daß wir die einzigen wahren Freunde von Demokratie und Selbstbestimmungsrecht sind, und trotzdem machen wir in Haiti und Nicaragua alles, was wir den Deutschen vorwerfen in Belgien getan zu haben, und – hören Sie gut, was ich Ihnen sage – es wird nicht ganz ein Jahr vergehen, bis wir eine große Flottencampagne vom Stapel lassen, um die Welt in einem Maß einzuschüchtern, das Großbritannien sich nie hat auch nur träumen lassen. Wir prahlen mit unserer wissenschaftlichen Forschungsarbeit, und trotzdem sind wir das einzige angeblich zivilisierte Land, wo Tausende angeblich zivilisierter Bürger sich einen ungebildeten Bauerntölpel von Prediger oder Politiker anhören, der sich selbst zur Autorität in biologischen Fragen ernennt und gegen die Evolutionslehre Sturm läuft.«

 

Nach dem ermüdenden Prunk der Revue, in einer blinden Kneipe, die auf ein Haar einer Bar von früher glich, nur war der Whisky schlecht, tobte Ross Ireland weiter:

»Ja, und noch ein paar von unseren amerikanischen Paradoxen: bei uns gibt es mehr sentimentales Gewinsel über das liebe gute Mütterchen im Film und mehr Lynchjustiz an Negern, als irgendwo anders in der Welt möglich wäre! Mehr Platz, und mehr überfüllte Mietshäuser; mehr harte Pioniere, und mehr unzufriedene Frauen; mehr süße Tanten unter den jungen Männern; mehr intellektuelle Vorträge und mehr schauerlich idiotische Witzblätter und mehr Slang – Also, nehmen sie bloß mich zum Beispiel. Ich gelte als Journalist. Ich habe eine Menge gesehen und eine ganz gehörige Menge mehr gelesen, als ich jemals zugebe. Ich habe Ideen, und ich habe sogar einen Wortschatz. Aber ich bin so amerikanisch, daß ich jedesmal, wenn ich gestehe, daß ich ein gewisses Interesse für Ideen habe, wenn ich einen Satz grammatikalisch richtig formuliere, wenn ich nicht zu reden versuche wie ein Hafenarbeiter, dann habe ich Angst, irgendein lausiger kleiner Garagenbesitzer könnte glauben, daß ich pedantisch sein will! Oh, ich habe heute eine Menge über mich selbst und mein geliebtes Amerika gelernt!«

»Trotzdem, Ross, mir ist dieses Land lieber als –«

»Teufel, mir auch! Sachen, an die ich mich erinnern kann, Leute mit denen ich gesprochen habe, meine Wanderungen in diesem Land, von den hohen Sierras bis zu den Moosbeerbrüchen bei Cape Cod. Der alte Vater Conover, der früher Ponnyexpreßreiter war, Hals über Kopf ist es gegangen, und jeden Tag konnten ihn die Indianer abmurksen – ich hab ihn noch gesehen, wie er achtzig war, der weißeste alte Mann, den Sie sich denken können; er hat in meiner Heimat in Iowa in einer kleinen Hütte gelebt, als Junggeselle – ein Sessel von ihm war aus einem alten Mehlfaß gemacht. Der hat uns Kindern vielleicht Geschichten erzählt. Oft hat er einen Tramp über Nacht aufgenommen; und einen König hätte er auch nicht anders empfangen. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß er was besseres als ein Tramp oder was schlechteres als ein König sein könnte. Der war ein richtiger Amerikaner. Und bei Fußballspielen habe ich nette, saubere, junge Leute gesehen. Aber jetzt machen wir ja ein Sechstagerennen aus dem Ganzen. Aber mit Motorrädern, nicht mit den Beinen, die wir uns früher abgestrampelt haben!«

Während Ross Ireland ununterbrochen weiter sprach – über die amerikanische Hetzjagd schimpfend, außer wenn Sam darüber klagte, worauf Ross dann eine wütende Verteidigungsrede hielt – suchten sie ein Broadway-Cabaret auf.

Es hieß »Die Georgia-Hütte«. Seine Spezialitäten waren Maryland-Hühnchen, Yam-Wurzeln und Bisquit, und das Orchester spielte unter großem Beifallsgebrüll jede halbe Stunde »Dixie«. Außer Ross und Sam waren ausschließlich Juden und Griechen im Lokal. Es war so ausgefallen und so teuer. Die Wände waren schauerlich übertriebene Blockhüttenimitationen; und rings um die kleine Tanzfläche, die so überfüllt war, daß die Tanzenden aussahen, wie wenn die Untergrundbahnpassagiere zur Zeit des größten Verkehrsandranges sich im plötzlichen Liebeswahnsinn zu bewegen begännen – um diesen Hexenkessel herum lief das, was der Broadway sich unter einem Holzzaun vorstellt.

Für den Eintritt mußte jeder zwei Dollars zahlen. Sie nahmen zwei Limonaden zu fünfundsiebzig Cents, sie gaben dem griechischen Kellner einen Vierteldollar Trinkgeld – worüber er brummte – und ebenso viel dem Garderobenmädchen – worauf sie belferte: »Wieder zwei so ne Schmutziane!«

 

Auf dem Rückweg zum Hotel sprachen sie wenig. Über Sam lastete dick, mit Händen zu greifen, wie ein Tuch, die Schlaffheit, die er in Paris verspürt hatte. Er war in einem Traum; nichts war wirklich in dieser ganzen harten Wirklichkeit von Straßenbahngeklingel, wütenden Hochbahnzügen, rasenden Autodroschken, durcheinander schwätzenden Menschenmengen. Aus der Hitze wurde Schwüle, und ein Gewitter zog herauf. Blitze zeigten die Gesimse unmenschlich hoher Gebäude. Die ganze Atmosphäre drohte, doch er nahm diese Drohung gleichgültig auf, und schwer von Müdigkeit wünschte er Ross Ireland eine Gute Nacht.

Das Gewitter brach los, als er am Fenster seines Hotelzimmers stand. Jeder Blitz machte aus der ungeheuren gelben Wand des Hauses gegenüber mit den unzähligen glühenden Fenstern ein wahnwitziges Hochrelief; und in der Dunkelheit zwischen den einzelnen Blitzen konnte er sich einbilden, das Gebäude stürze über ihm zusammen. Es war furchtbar wie ein Vulkanausbruch, furchtbar sogar für Sam Dodsworth, der nicht viel von Angst wußte. Doch der Schrecken konnte nicht den Panzer der Langeweile und Einsamkeit zerbrechen, der ihn einschloß.

Müden Schrittes verließ er das Fenster und ging traurig zu Bett, um halb wach liegen zu bleiben. Er murmelte nur: »Diese Hetzjagd des amerikanischen Lebens – ein richtiger Kampf – wird das zu viel für mich sein, jetzt wo ich es nicht mehr gewöhnt bin?«

Und: »O Gott, Fran, ich sehne mich so nach dir!«


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