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Neuntes Kapitel

Lockert holte sie in einem prächtigen, langen Sunbeam-Zweisitzer ab, den er selbst fuhr. Er ließ sich nicht ausreden, daß alle drei Platz hätten, aber Sam fand, daß sie sehr eng saßen und daß Fran in ihrem grauen Fehmantel sich zu behaglich an Lockerts Schulter schmiegte.

Doch das vergaß er, als sie aus der düsteren Rauchatmosphäre Londons auf das von der Wintersonne beschienene Land hinauskamen; die grauen Felder, auf denen sich hier und da schon etwas Grün zeigte, atmeten einen zarten, schimmernden Dunst aus, und darüber jubelten Krähen in den funkelnden Zweigen der Bäume. In kleinen Ortschaften sah er gemütliche Teestuben und Wirtshausschilder – »Rose und Krone«, »Zum Grünen Drachen«, »Der Treue Freund«; strohgedeckte Bauernhäuser, Darren – er konnte nicht begreifen, was diese Leuchttürme auf dem Festland sein sollten – und auf einer Erhebung sah er die Trümmer einer Burg, seine erste Ruine!

Ritter im Turnier; Elaine in weißem, golddurchwirktem Brokat, mystisch, wunderbar – nein, das war doch Guinevere gewesen, nicht? er müßte wieder einmal Tennyson lesen. Herzöge im Aufbruch zu den Kreuzzügen, mit Spielleuten im Gefolge, die auf Stockfiedeln spielen. Leuchtende Standarten und tausend blitzende Schwerter. Und diese Märchen waren lebendig gewesen, hier, an dieser Mauer mit dem zerfallenen Turm! Die Schar der Ritter – auf dieser selben Straße! – gewann mehr Wirklichkeit für ihn als das Automobil, denn die Unterhaltung Frans und Lockeres langweilte ihn, und er verlor den Faden des Gesprächs in alten verstaubten Erinnerungen, die jetzt mit schmerzender Sehnsucht wiederkamen. Die beiden plauderten vom Cricket bei Lord, vom Polo in Hurlingham; sie spotteten über den alten bäurischen Bankier auf der Ultima, der allabendlich in einem prähistorischen Frack zum Dinner kam – der obere Rand seiner Hose war im Ausschnitt der bauschigen weißen Weste wie eine schwarze Schärpe zu sehen gewesen. Ihre Hochnäsigkeit trieb Sam in das Dunkel hinaus zu dem freundlichen alten Bankier.

Er wollte dem Hotel- und Theater-London der Touristen entrinnen und das wirkliche England kennenlernen, Dorseter Schäfer – Baumwollarbeiter in Salford – Kohlenkapitäne im Bristoler Hafen, Bergarbeiter in den Cornwallischen Zinnminen, Cambridger Würdenträger – Hopfenpflücker in Kenter Wirtshäusern – die großartigen Gebäude der Herzogssitze. Aber all das war zu niedrig oder zu hoch, um Fran zu interessieren, und mit einem Seufzer sagte er sich, es wäre wohl sehr unwahrscheinlich, daß er etwas sehen würde, was ihre Billigung nicht hatte.

Ein wenig ungläubig wurde er gewahr, daß Fran sich wirklich zu Lockert hingezogen fühlte, sie, die auch den flüchtigsten Teetischflirt vermieden hatte, die rot geworden war und erschrockene Augen gemacht hatte, wenn eine der Zenith besuchenden Berühmtheiten ihr Aufmerksamkeiten erwies: ein englischer Romancier auf einer Vortragstournée oder ein italienischer Baron, der Automobilfabriken studierte; sie, die kalt und abweisend gegen junge Mädchen gewesen war, von denen man wußte, daß sie den mitternächtlichen Zärtlichkeiten huldigten, die man in Zenith Knutschen nannte. Aber Lockert schien durch seine freundliche Tyrannei ihren Panzer erotischer Neutralität zerbrochen zu haben. Sie, die Empfindliche, die so leicht zu Beleidigende, hatte nichts dagegen, mit Lockert zu streiten und zu lachen, als wäre er ihr ältester Freund.

»Wir fahren viel zu rasch«, sagte sie.

»Für Leute, die nicht so gut fahren können wie ich, wäre es zu rasch.«

»Ach! Sie haben wohl schon Rennen gewonnen?«

»Allerdings. Mit deutschen Granaten. Bevor man mich nach Amerika geschickt hat, war ich beim Automobiltrain. Ich mußte bei Nacht auf einer Straße voll Granattrichter ohne Licht mit einer Geschwindigkeit von dreißig Meilen fahren … Wie ich schon einmal gesagt habe, Sie sind zu amerikanisch, Mrs. Dodsworth. Der Amerikaner versteht sich selbst weniger und wird von der Welt weniger verstanden als alle anderen Völker. Er zeichnet sich in allem aus, was ihm angeblich fehlt – in lyrischer Poesie, formellem Benehmen und so weiter. Und er ist so schüchtern und untüchtig gerade in den Dingen, in denen er sich angeblich auszeichnet – in schnellem Automobilfahren, Aviatik, Geschäftstüchtigkeit, Pionierarbeit – ja, England hat mehr Pionierarbeit geleistet, in Kanada, in Afrika und Australien und China, und wenn Sie so wollen, in zehn Jahren mehr als die Staaten in zwanzig. Sie kommen sich sehr europäisch vor, und Sie sind so typisch amerikanisch! Sie haben die entzückendsten und kindlichsten falschen Vorstellungen von sich. Sie halten sich für arrogant, verschlossen, vernünftig und ehrgeizig, aber in Wirklichkeit sind Sie weichherzig und leicht zu betören – Sie sind ganz einfach eine neugierige junge Frau, und nur Ihre Schüchternheit bewahrt Sie davor, daß Sie die allergrößten Backfischdummheiten begehen.«

»Mein lieber Major Lockert, hoffentlich ist es nicht zu anstrengend für Sie, gleichzeitig auf das Fahren zu achten und so überaus schmeichelhafte Charakterologie zu treiben!«

Aber Sam merkte, daß es ihr nicht gelungen war, es boshaft klingen zu lassen.

Sie hatte sich ganz zu Lockert gewandt. Auf Sam achtete sie gar nicht mehr, wenn er murmelte: »Da ist eine reizende alte Steinkirche«, oder »Das werden wohl Hopfenstangen sein«; wenn er sie bei der Hand halten und ihr mit einem kurzen Druck sagen wollte, wie sehr er sich darüber freue, daß sie zusammen hier seien.

»Na ja –« dachte er.

Die Pickwickier fielen ihm ein und die Kutsche, die mit den freundlichen, warm eingepackten Philosophen die gefrorenen Straßen entlang schaukelte und sie zur Weihnachtsfeier auf das Land brachte.

»Herrlich!« rief er aus.

 

Sie hielten an einem Dorfgasthaus, um zu essen. Zu Sams größter Freude fuhren sie durch einen gewölbten Torweg in einen Hof, der noch aus der Zeit stammte, da man in der Kutsche reiste. Die Schilder an den niedrigen dunklen Türen im Torweg entzückten ihn: Coffee Room, Lounge, Saloon Bar.

Sie stampften mit den Füßen und schwangen die Arme, wie die Pickwickier es getan hatten, als sie, wer weiß, im gleichen Gasthof abstiegen. Wenn Fran sich nicht um ihn gekümmert hatte, so widmete sie sich ihm jetzt wieder und machte ihm Freude mit ihrem Lächeln, mit ihrem Jubel: »Ist das nicht herrlich, Sam! Gerade was wir wollten!« Sie ließ es sich trotz Lockerts verlegenen Protesten nicht nehmen, in das Schankzimmer mit dem niedrigen Dachgebälk, den Wandtäfelungen aus schwarzer Eiche und dem kirschroten Ziegelboden zu gehen, und dort setzten sie sich an einen langen, zwischen Bänken stehenden Holztisch, an dem Sam und Lockert sich mit Whisky wärmten, während Fran eine halbe Pinte Bier aus einem Zinnkrug trank – Sam kaufte ihn nachher heimlich von der Kellnerin und verlor ihn später in Paris.

Auf der Treppe, die zum Speisesaal hinaufführte, lag ein dunkelroter Teppich; an der Wand hing eine Unzahl viktorianischer Bilder: Wellington bei Waterloo, das Kloster Melrose im Mondschein, Burg Rochester; und auf einem Podest stand ein Schränkchen mit Kuriositäten, wie Sam sie seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte: ein javanischer Fächer, geschnitzte Schachfiguren, chinesische Münzen und ein australisches Goldnugget.

Der Speisesaal wurde beherrscht von einem Steinkamin, der mit der Tudorrose und dem bunten Wappen des hier ansässigen Grafen geschmückt war. Auf dem Eichenbüfett daneben, das ungeheure Silberschüsseln zierten, lag ein schöner Schinken, Wildbret und eine Stachelbeertorte; und an einem Tisch schlangen zwei Reisende Roastbeef und Yorkshire Pudding hinunter.

»Herrlich!« strahlte Sam, und seiner Freude konnten nicht einmal das wässerige Gemüse und der trostlose Rosenkohl etwas anhaben.

 

Hinter Sevenoaks hupte Lockert lustig und rief: »Wir sind gleich da! Willkommen im englischen Lande!«

Sie näherten sich einem Landgut mit hohen Mauern, durch deren Gittertore sie Rehe sehen konnten, und hinter einem dichten Kieferngehölz tauchten die gewundenen Tudorrauchfänge eines großen Gebäudes auf.

»Du lieber Gott, ist das das Haus?« fragte sich Sam. »Das wird ja fürchterlich sein! Zehn Lakaien, womöglich mit Kniehosen. Wem gibt man da das Trinkgeld?«

Aber der Wagen raste an diesem stolzen Besitztum vorüber, kam durch ein Dörfchen mit roten Backsteingebäuden, bog von der Chaussee in einen von Hecken eingeschlossenen Landweg ein und fuhr auf ein ganz neues, bescheiden aussehendes Haus von zehn oder zwölf Zimmern zu. Wie in Tausenden von Häusern, die sie am Rande Londons passiert hatten, war hier eine verglaste Veranda mit Fahrrädern, Galoschen und ziemlich schwindsüchtigen Geranien. Auf einer Seite befanden sich ein Tennisplatz, eine Laube und das Gerüst eines Rosengartens, aber die Rasenfläche war kaum einen viertel Morgen groß.

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß es ganz klein ist«, näselte Lockert, als er auf dem Kies vor der Tür hielt.

Von drinnen war ein Gebrüll zu hören. Die Tür wurde von einem Mädchen geöffnet, das mit Häubchen und Schürze sehr steif aussah, aber an ihr vorbei schoß der Urheber des Gebrülls – ein ganz kleiner, sehr schlanker Mann; seine Wangen waren fast zu rosig, um echt zu sein, sein Schnurrbart zu akkurat und silbern, und seine Stimme war ein ungeheuerliches Exerzierplatzbrüllen, das man dieser Miniaturausgabe von Soldaten nicht zugetraut hätte.

»Guten Tag, Mrs. Dodsworth. Schrecklich lieb von Ihnen, daß Sie kommen«, donnerte er, und Lockert murmelte: »Das ist der General.«

Wenn das Äußere des Hauses Sams Sehnsucht nach Romantik enttäuscht hatte, das Wohnzimmer entsprach genau dem, was er sich, ohne es recht zu wissen, gewünscht hatte. Das hier war wirklich ein Daheim, mit einer Behaglichkeit, wie man sie in den meisten wohlhabenden Häusern Zeniths nicht mehr kannte, wo dank den vereinigten Bemühungen der großen Möbelfabriken und der jungen Innenarchitektinnen mit ihren überaus feinen Ansichten über »Harmonie« und »Epoche« jedes anständige Wohnzimmer so funkelnd und unpersönlich war wie eine neue Rasierklinge. In Herndons Haus gehörten nicht zwei Möbelstücke zur selben Familie oder in dasselbe Zeitalter, und doch gehörten die Möbelstoffe, der Kamin, die messingnen Feuerungsgeräte und die weiße Täfelung zueinander. Auf einem runden Tisch in einer Ecke waren die Becher des Generals – Polo- und Golfbecher – der Pokal, den ihm seine Messe in Indien gestiftet hatte, einige Medaillen und ein scheel blickender Shiva; und durch die niedrigen Fenster sah man den grauen Garten, der zu Wiesen und einem von Weiden umgebenen Teich hinabführte. Das Mädchen rollte einen Teewagen herein, mit einer hohen, alten Silberkanne, mit einem alten silbernen Spülnapf, und mit Bergen von Gebäck und so dünnen Butterbroten, wie Sam es nie für möglich gehalten hatte.

Nach dem Tee, bei dem Herndon ziemlich bösartige Geschichten von seinen Kameraden erzählt hatte, gingen sie spazieren, über eine Gemeindewiese, auf der Esel und kampfbereite Gänse weideten, an kleinen Läden vorbei, in deren winzigen Fenstern ein oder zwei Kruken mit Süßigkeiten standen, zu einer Steinkirche aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die für sich eine Geschichte von ganz Kent war. Der viereckige Turm hatte Zinnen und sah aus, als würde er ewig halten. In der niedrigen Vorkirche waren die Pfarreiregister und die Namen der Vikare des Kirchspiels seit dem Normannen Gilles de Pierrefort, von 1190 an. Die Säulen im Hauptschiff waren aus wuchtigen Steinen; an den Wänden sahen sie bronzene Grabplatten in Schwarz und Rot; auf der Kanzel war noch das alte Steingesims der Piscina aus den römisch-katholischen Zeiten und eine Steintafel zum Gedächtnis Thos Siwickleys, Kt. – außer dem Namen und dem reichverzierten Wappen war alles von den Generationen priesterlicher Füße abgeschliffen worden.

Herndon hielt ihnen einen Vortrag über die Schönheiten der Kirche – mit ziemlich deutlichen Anspielungen auf die in Eisen gefaßte Kiste, in welche Touristen, vor allem amerikanische Touristen, Spenden für die Dachreparatur legen durften – und während er sprach, kam der Vikar herein, ein naiver und enthusiastischer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, groß, gebeugt, eine kolossale Brille auf der Nase, mit so starkem Oxforder Akzent, daß Sam fast kein Wort von ihm verstehen konnte.

Auf dem Rückweg sah er in manchen Hüttenfenstern Kerzen.

Sie blieben stehen, um eine zarte alte Frau zu begrüßen, deren Kleidung aus einer Ruine von schwarzem Hut, einem schwarzen Sack von Kleid und tadellosen Handschuhen und Schuhen bestand, und diese Dame stellte Herndon als Lady Soundso vor –

»Aber«, überlegte Sam, »das ist doch nicht wirklich! Das ist ein Roman! Das Ganze hier, das Dorf und die Menschen und alles, das ist ein englischer Roman – und ich bin mitten drin! Das hier ist Kapitel zwei, und es ist sehr hübsch, aber ich bin neugierig auf das zwanzigste Kapitel. Wird es da sehr schlimm zugehen? … Weil das Leben hier leichter und menschlicher ist, habe ich mehr davon. Ich bin so daran gewöhnt, im Bureau zu sein und mit den Leuten herumzukommandieren – Jetzt, wo ich das aufgegeben habe, habe ich nur noch mich selbst – und Fran natürlich – zur Beschäftigung. Diese Leute, Lockert und Lord Herndon, die können mehr in sich selbst leben. Die brauchen keinen Filmpalast und keine große Garage, um zufrieden zu sein. Das muß ich noch lernen, aber – Ach, es hat mir ja Freude gemacht, diese Kirche anzusehen, und trotzdem fehlt mir der gute Tub mit seinem Lärm und Krach.«

Seine gute Stimmung ließ nach, als er mit Lockert hinter Fran und Herndon, die miteinander plauderten, schweigend einhertrottete.

Und es ärgerte ihn, als Herndon sich umdrehte, um ihm als Kompliment zuzurufen: »Wissen Sie, ich hätte nie im Leben Mrs. Dodsworth und Sie für Amerikaner gehalten. Ich hätte gemeint, Sie sind Engländer, die einige Zeit in den Kolonien gelebt haben.«

Sam brummte lautlos: »So stellt sich ein Engländer wohl das größte Kompliment vor, das er einem machen kann.«

Aber Herndon war so herzlich, daß er sich von seinem Ärger nichts anmerken lassen durfte. Ja, gerade in diesem Augenblick wäre ihm eine Grobheit und die Aussicht auf einen belebenden Streit lieber gewesen. Aber sein Gefühl des Alleinseins, seine unklaren Befürchtungen verschwanden mit dem Whiskysoda, den Herndon und Lockert vor dem Dinner für nötig hielten, um alle Erkältungen und Krankheiten zu verhindern. Als er zum Schlafzimmer (leuchtendes Rot, funkelndes Messing und ein prasselndes kleines Feuer) hinaufging, dachte Sam voll Ärger: »Ich werde genau so empfindlich und wunderlich und launenhaft wie eine alte Jungfer. Im Bureau war ich doch nie aus der Ruhe zu bringen … fast nie. Bin ich zu alt, um das Nichtstun zu lernen? Ich werde es aber lernen!« Und als er bei seinem Eintritt in das Zimmer von neuem darüber staunte, wie entzückend Fran in einer Kombination aus weißer Seide aussah, rief er: »Ich muß dir sagen, du hast in die Kirche gepaßt, als ob du die Gutsherrin wärest!«

»Und du warst so groß und stark! Lockert und der General sind nett, aber –«

Noch nach Wochen erinnerte er sich ihrer warmen Freundlichkeit in dem warmen roten Zimmer, in dem sie sich lachend umkleideten. Seine leichte Eifersucht verschwand bei dem Gedanken, daß Lockert sich irgendwo allein umzog, wahrscheinlich in einem Zimmer, in dem es so kalt war wie auf dem zugigen Korridor.


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