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Bei dem zweiten Glas nach seinem Dinner bei Florian hatte er wieder die köstliche Freude, vom Reisen zu träumen. Er kann gehen, wohin er will: Norden, Süden – schon die Namen haben einen Zauber: Norden, und Schneeverwehungen unter schweigenden Föhren; Süden, und Bambushütten im Dschungel; Osten, und ein kleines Schiff, das durch eine purpurrote Meerenge dampft; Westen, und eine Bank vor einer Blockhütte in den Rockies, ein See zweitausend Fuß weiter unten, und er selbst stark und ruhig atmend wie mit dreißig Jahren, den Duft frisch gehackten Holzes und der frostigen Luft einschnuppernd. Ja! Das alles wird er sehen! Er wird nicht zurückgehen in ein Bureau!
Er hat noch zwanzig, vielleicht dreißig Jahre vor sich. Er wird ein zweites Leben haben; nachdem er Samuel Dodsworth gewesen ist, wird er weiterleben und auf wunderbare Weise ein anderer sein, rücksichtsloser, weniger gefesselt, weniger sentimental. Er kann Dichter werden, Gouverneur, Forscher. Er hat die Fehler seiner Kaufmannsgeistigkeit, seiner Schüchternheit vor Frauen kennen gelernt. Er wird sie gut machen! Er hat die Lücken in seinem Wissen gesehen. Er wird sie ausfüllen!
Noch zwanzig Jahre!
Gleich jetzt anfangen. Morgen wird er mit Italienisch beginnen. Morgen wird er Ross Ireland wegen der Orientreise schreiben. Ja!
Nach dem behaglichen Tee bei Edith Cortright hatte er sich einsamer gefühlt als je. Fünf Minuten hatte er daran gedacht, zu Fran zu fliehen. Aber das Essen und ein gutes Glas trösteten ihn; das zweite Glas setzte seine Phantasie in Bewegung. Dann wollte er ein drittes trinken – und wollte wieder nicht.
Nein! Er schüttelte sich. Er haßt diesen billigen, leichten Ausweg durch den Alkohol zu einem Glauben an eigene Kraft und Freiheit. Er gehört nicht (voll Stolz) zu den Schwächlingen, die sich vor Problemen in den schönen Frieden der Gosse flüchten, wo der Unrat einem die Ohren verstopft, daß man nicht die näselnden Stimmen der Zensoren hören kann, die von einem müden Mann immer mehr verlangen, als er zuwege bringen kann.
Aber ist das wahr? Ist überhaupt etwas wahr von dem, was er gedacht hat – auch dieser billige Ekel vor einem billigen Ausweg? Ist es möglich, daß er außerstande ist, sich ganz der Trunkenheit zu ergeben, sich aufzulösen, alle anständige Verachtung zu verachten und mit einer Nande Azeredo in einer stinkenden Dachkammer zufrieden zu sein, nicht weil er zu stark, sondern weil er zu schwach ist – eine zu schwächliche Angst davor hat, was Fran, Tub und Matey, was Fremde wie Mrs. Cortright dazu sagen würden? Ist es möglich, daß mehr Mut dazu gehört, ein Vagabund zu sein, aus eigenem Willen, mit Haut und mit Haaren, als weiterzuleben wie ein achtbarer Fabrikant, während er leidet wie ein Verlaine?
Er gab es auf.
Er ist es so müde, seine kleine Seele herauszuzerren und über ihr zu klagen! Wenn er nur gedankenlos lachen könnte wie Tub Pearson. Oder wenn Mrs. Cortright bereit gewesen wäre, mit ihm zu essen –
Mrs. Cortright. Das ist eine Frau! Genau so korrekt wie Fran und ebenso weltlich, und doch so gleichgültig gegen Titel und Luxus wie Nande.
Eine entzückende Frau!
Er dachte wieder an das dritte Glas, dann wies er den Gedanken mit Heftigkeit von sich und kehrte rasch in die Achtbarkeit zurück, aus der entfliehen zu können er für einen Augenblick geglaubt hatte. Denn am Nebentisch saß eine amerikanische Gesellschaft, die sich voll Vergnügen bemühte, ihre lieben Mitmenschen durch Aufstellung eines erbaulich schlechten Beispiels vor dem Falle zu bewahren.
Es waren drei Männer und drei Frauen. Offenbar waren einige von ihnen mit einigen anderen verheiratet, aber sie schienen nicht mehr ganz im klaren darüber zu sein, wer mit wem verheiratet war.
Sie bemerkten Sam, und einer von den Männern stand schwankend auf, um ihm zuzurufen: »Amerikaner, nicht wahr? Na, Mensch, warum so allein? Kommen Sie zu uns rüber, wir sind eine ganz lustige Blase!«
Ziemlich erfreut ging Sam zu dem andern Tisch.
»Eben angekommen?« fragte er, wie es sich gehörte.
»Ja. Gestern in Neapel an Land gegangen«, sagte sein Gastgeber. »Wir sind auf einem italienischen Schiff rübergekommen – recht feiner Kahn – und hören Sie, Junge, das war 'ne Überfahrt, kann ich Ihnen bloß sagen! Wissen Sie, ich hab ja schon allerhand von nassen Reisen gehört, aber die Überfahrt – ich kann Ihnen bloß sagen, während der ganzen Zeit bin ich nicht ein Mal vor drei Uhr früh in die Klappe gekommen. Und die Mädels – ich kann Ihnen bloß sagen, die waren genau so tüchtig wie die Männer. Dorine da, die hat zwei Flaschen Sekt in zwei Stunden gesoffen, und die ganze Blase war verrückt nach italienischen Offizieren – ich kann Ihnen bloß sagen, die Offiziere haben die Brücke immer klar machen lassen müssen, wenn sie wirklich arbeiten wollten! Na, und das hat uns Jungens schließlich auch allerhand Gelegenheiten gegeben! Das war 'ne Überfahrt! Ich kann Ihnen bloß sagen, Sie hätten die Nachthemdparade in der letzten Nacht auf See sehen sollen! Junge! So was von Überfahrt!«
Eine der Frauen – abgesehen von ihren feuchten Augen machte sie einen höchst vertrockneten und wenig aufregenden Eindruck – rief: »So was von Überfahrt ist schon richtig! Und ich hab mich mit dem zweiten Offizier in Paris verabredet. Er wird eine Tour auslassen. Und vielleicht wird er dann überhaupt auslassen. Vielleicht kauf ich mir 'nen netten kleinen Freund. Der hat was los! So ganz orientalische Augen! Sag mal, Pete, um Gottes willen, willst du denn unserm kleinen Freund hier –« sie zeigte mit einem dünnen, keuschen, übermanikürten und ziemlich zitternden Zeigefinger auf Sam »– nicht 'ne Kleinigkeit zum Trinken bestellen?«
Doch Sam lehnte ab. Seine Vision von den Schönheiten der Gosse war eiligst mit einem Wehlaut verschwunden. Er war voll Entschlossenheit wieder der Sam Dodsworth, der seinen Stolz darein setzte, in Form zu bleiben. Er nahm, mit aufreizenden Anzeichen von Freude, eine Limonade an (es war seit Monaten seine erste) und dachte über diese Landsleute nach.
Er konnte sie nicht unterbringen. Sie schienen alle älter als dreißig und jünger als vierzig Jahre zu sein. Sie waren nicht so gemein und lasterhaft, wie sie im ersten Augenblick gewirkt hatten. Ab und zu verrieten sie unter dem Einfluß des Alkohols, daß sie ganz manierlich reden konnten und vielleicht sogar ein Buch gelesen hatten. Er vermutete, daß zwei von den drei Männern eine Universität absolviert hätten, und daß alle diese großmäuligen Wüstlinge daheim würdige Diakone und Bahrtuchhalter wären. Er hatte in Zenith von »Jungverheirateten Paaren« gewußt, von theoretisch verantwortlichen jungen Ärzten, Anwälten, Händlern, die aus Bällen in den Landklubs eine Kombination von Bordell und Grenzerkneipe machten. Aber er war nicht zu solchen Bällen gegangen. Diese Leute waren nicht von seinem Schlage! Dann merkte er entsetzt, daß sie es vielleicht doch waren. Was waren sie denn anderes, als jüngere, fröhlichere und ein wenig liebesbedürftigere Tub Pearsons?
Es war ihnen nicht der geringste Vorwurf zu machen. Sie waren die Resultate der Prohibition, der Massenproduktion und einer Erziehung, die in den Überzeugungen gipfelt, man gehe in das College, um Leute kennen zu lernen, die später im Geschäft von Nutzen sein können, und die Größe einer Universität stehe in direktem Verhältnis zu der Anzahl ihrer Studenten und zu der Anzahl ihrer Sportsiege.
Oder so dachte wenigstens Sam.
Er hatte viel von den »erotisch kalten amerikanischen Frauen« gehört. Weiß der Himmel, wütete er, das hatte er an Fran gespürt! Aber an diesen ausgelassenen Weibern stieß ihn der Mangel an Kühlheit ab. Die liebenswürdige Dame, die sich einen zweiten Offizier »kaufen« wollte, hatte, seit Sam am Tisch war, einen der Männer geküßt, einen anderen bei der Hand gehalten, und jetzt wandte sie ihre verdorrte Erregung ihm selbst zu: »Donnerwetter, sind Sie aber stark! Herrjeh, Sie müssen aber so nem armen kleinen Golfball weh tun, wenn sie ihm eins überziehen!«
Er lächelte finster.
Er dachte daran, daß er am nächsten Abend Mrs. Cortright sehen würde. Er hatte sich ihrer lediglich als einer angenehmen, nicht aufregenden würdigen Dame erinnert, aber jetzt war sie ihm eine griechische Vase, ein Alabastergefäß, in dem ein Feuer entzündet werden könnte.
»Sie hat eine Vollendung – wie eine Europäerin«, dachte er. »Und doch ist sie Amerikanerin, Gott sei Dank! Ich könnte mich niemals in eine wirkliche Europäerin verlieben. Es muß schon jemand sein, die sich eine alte graue Scheune in Neuengland im Oktober, wenn der Rauhreif darauf liegt, ansehen und etwas davon haben kann, ohne daß ich es ihr erklären muß.«
Seine langen, umherschweifenden Gedanken wurden von dem Mann, der ihn an den Tisch gebeten hatte, unterbrochen:
»Sind Sie schon einige Zeit in Venedig?«
»Ja. Und nicht zum erstenmal.«
»Also, dann können Sie mir vielleicht erklären – Hoffentlich trete ich niemand auf die Hühneraugen, aber ich – Also, ich bin zum erstenmal im Ausland. Und ich hab mir immer gedacht, Venedig wird 'n bißchen so sein wie 'ne Operette. Aber von allen gottsverdammt langweiligen Nestern – Ja, die haben ja noch nicht mal 'n erstklassiges Kabarett! Überhaupt nichts da außer 'nem Haufen von baufälligen Buden mit lauter so Kinkerlitzchen drauf, und dazwischen Chicagoer Abzugsgräben!«
»Na, mir gefällt es!«
»Aber was gefällt Ihnen denn dran?«
»Ach, eine ganze Menge. Vor allem die Architektur.«
Aber was sein Geist sah, während er etwas von Müdesein stammelte und sich verabschiedete, war keine Vision von gewölbten Brücken, stillen Gäßchen und zitternden Spiegelbildern hoher Türme; es war die Erinnerung an Edith Cortright, heiter und gelassen in ihrem venetianischen Palazzo.
»Sie könnte sich wohl nicht so auf alle Dinge stürzen wie Fran«, dachte er, während er auf das Bauer-Grünwald zustapfte. »Sie ist wirklich eine große Dame. Aber ich bin überzeugt, im Herzen ist sie einsam. Sie würde sich nicht mehr daraus machen, für ihren Mann kochen zu müssen, als Nande. Ach, verflucht noch einmal, Sam, warum bist du so dumm? Warum bildest du dir denn immer ein, bloß weil du einsam bist, müssen alle anderen es auch sein?«
Es war ein kleines ruhiges Dinner bei Edith Cortright am Donnerstagabend. Die einzigen Gäste außer Sam waren ein englisches Paar, das sehr unklar und höflich etwas Bedeutendes war – sehr höflich, aber sehr unklar. Sam fand die beiden nicht sehr lustig, aber die angenehme Nachlässigkeit von Mrs. Cortrights Haushalt machte ihm Spaß.
Die Fran, die so gern Gedichte über Zigeuner und Villon zitierte, die so gern von den schönen gesitteten Zeiten ihrer Jugend sprach, war im Privatleben ein Feldwebel. Theoretisch war sie die Beichtmutter und vertrauteste Freundin aller ihrer Dienstboten und des Installateurs, des Briefträgers und des Alkoholschmugglers. In der Praxis tobte sie ununterbrochen über die Untüchtigkeit dieser Leute. Sie war freundlich zu ihnen nur dann, wenn sie ihr von ihrer Schönheit und Macht sprachen; wenn die Schneiderin hervorgurgelte, Fran habe die entzückendste Gestalt in Zenith, oder wenn der Apotheker an der Ecke sie fragte, ob ihr neuer Hut wirklich englisch sei.
Oder so dachte wenigstens Sam.
Edith Cortright schien keine Disziplin, keine Vorstellung von Pflichten ihrer Dienstboten zu haben. Sie stritten mit ihr. Sie widersprachen ihr. Der Hausmeister sagte, sie habe Broccoli angeordnet, und das Mädchen kam mit klappernden Pantoffeln herein. Sie schwatzten ununterbrochen. Sie schienen irgendein komisches Geheimnis mit ihr zu haben; und als sie nach einer wortreichen Unterredung mit dem Hausmeister Sam in ihrer müden Weise zulächelte, wünschte er, er könnte in diese Familiengemeinschaft aufgenommen werden.
Das Speisezimmer hatte einen Steinfußboden und gemalte Wände mit Streifen syrischer Stickerei. Überall an den Wänden standen feierliche, unbequeme, unmenschliche Stühle. Die Fenster, die auf den Canale Grande gingen, waren unermeßlich hoch. Es war ein Raum, von Riesen bewohnt zu werden. Sam stellte sich vor, daß in dieses Zimmer Männer in Rüstungen geschritten wären, die sich mit übermäßigem obszönen Gelächter über die Martern blasser Protestanten unter dem Dogenpalast unterhielten, und daß sie, ganz wie Edith Cortright, so freundlich diese auch war, mit ihren nachlässigen und widersprechenden Dienern in den roten Uniformen geschwatzt hätten.
Das englische Paar ging früh. Nach dem Abschied stand Sam schwerfällig auf und seufzte: »Ich muß jetzt wohl –«
»Nein. Bleiben Sie noch eine halbe Stunde.«
»Wenn Sie wirklich – Ich fange allmählich an, die Hotels zu hassen!«
»Ihnen hat es wirklich Freude gemacht, ein Heim zu haben.«
»O ja, und ob!«
»Warum bleiben Sie dann fort? Ist das nicht –«
Dann lachte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Es ist wohl ziemlich kläglich, daß ich Ratschläge geben will. Und dabei ist mein eigenes Leben ein solches Durcheinander, daß ich es nur ertragen kann, wenn ich auf jeden Ehrgeiz und jedes Ziel verzichte, mich ganz einfach treiben lasse und versuche mit so wenig Komplikationen wie möglich auszukommen.«
Sie sprachen langsam, und der größte Teil ihrer Unterhaltung bestand in Schweigen. Es war ruhig in diesem riesigen, kühlen Raum über dem Canale Grande. Draußen am Hafen sangen die Leute in Gondeln alte italienische Balladen. Sie betrieben eigentlich ein Gewerbe damit, diese Sänger; sie musizierten nicht um der Romantik und der Liebe zum Mondschein willen, zwischen Begeisterungsausbrüchen ließen sie den Hut von Gondel zu Gondel gehen und bekamen reichen Lohn von sentimentalen Reisenden aus Essen, Pittsburgh und Manchester. Die Lieder waren mit Absicht banal – abwechselnd »Donna è mobile« und »Santa Lucia«. Aber die ganze theatralische Aufmachung und die Musik, die über das Wasser schwebte, rief in Sam ein stilles Entzücken hervor.
»Ich kann mir bei Ihnen gar keine Komplikationen vorstellen«, meinte er.
»Ich hätte vielleicht nicht dieses Wort gebrauchen sollen. Die Komplikationen sind alle in mir. Es liegt eben daran, daß gewisse Umstände in meinem Leben mir so ziemlich mein Selbstvertrauen genommen haben, und jetzt habe ich so sehr Angst davor, das Falsche zu tun, daß es mir leichter wird, nichts zu tun.«
»Genau so geht es mir! Aber bei Ihnen kann ich mir das nicht vorstellen – Sie sind doch Ihrer so sicher.«
»Nein, eigentlich gar nicht. Ich bin wie jemand, der eine neue Sprache lernt – er kommt ausgezeichnet aus, solange er Gesprächsthemen bringen und Worte anwenden kann, die er kennt – er kann ausgezeichnet sagen, Kellner bringen Sie noch zwei mal Kaffee, oder, Wann geht der nächste Zug nach Turin, aber er ist verloren, sobald jemand andere Fragen stellt und von etwas sprechen will, das in der Methode Hugo erst nach Seite sechzig kommt! Hier, in meiner eigenen Wohnung, bei meinen eigenen Leuten, bin ich ungefährdet vor Seite sechzig, aber ich würde in eine schöne Verlegenheit geraten, wenn ich auf Seite einundsechzig hinausträte! … Übrigens, es sollte mich sehr freuen, wenn Sie ab und zu zum Tee zu mir kommen wollen, wenn Sie es im Hotel nicht mehr aushalten.«
»Sehr lieb von –«
Ohne recht zu wissen, daß er aufstand, war er an das offene Fenster getreten. »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür … Ich bin so ziemlich am Ende.«
»Warum erzählen Sie mir nichts davon? Wenn Sie wollen. Mir kann man gut etwas anvertrauen.«
»Ja –«
Und mit selbstmörderischer Entschlossenheit stieß er es hervor.
»Ich klage nicht gern – ich glaube auch, ich tue es nicht oft – und ich gebe nicht gern zu, daß ich geschlagen bin. Aber ich bin geschlagen. Und es wird mir schon ein wenig zu viel, daß ich nachts nicht schlafen kann und darüber nachdenken muß. Wahrscheinlich viel zu viel nachdenke!« Er trat auf den kleinen Balkon über dem Canale, in dem das Wasser plätscherte. Auf diesem Balkon hatte einst (allerdings wußte Sam nichts davon) Lord Byron gestanden und einer schönen schwarzen Dame eine noch viel erbärmlichere und bösere Geschichte erzählt.
Edith Cortright war neben ihm und murmelte – ach, ihre Worte waren sehr abgedroschen: »Möchten Sie mir davon erzählen?« Aber ihre Stimme war freundlich und klang ehrlich, frei von allem, was sonst zwischen einem fremden Mann und einer fremden Frau steht, und mit ihr murmelte Venedig mit all seinen Liebesliedern.
»Ach, es ist wohl eine ziemlich gewöhnliche Geschichte. Meine Frau ist jünger als ich, und lebenslustiger, und sie hat einen Mann in Berlin gern, und ich glaube, ich habe sie verloren. Für immer … Ach, ich weiß, ich sollte mich nicht so vor anderen ausziehen. Aber ich schwöre Ihnen, ich habe es noch nie getan! Bin ich ganz verkommen, weil –«
Sie sagte rasch: »Nicht! Natürlich nicht. Ich wäre froh, wenn ich Ihnen meine eigene Geschichte erzählen könnte.«
»Bitte!«
»Und ich habe sie noch niemand erzählt, nicht einmal meinen Freunden, aber ich glaube, die haben manches erraten. Vielleicht können wir beide offener miteinander sein, weil wir Fremde sind. Ich verstehe, wie Ihnen zu Mute ist, Mr. Dodsworth. Die Leute, die ich hier, in England und zu Hause kenne, glauben wohl, ich führe ein solches Nonnendasein, weil ich den verstorbenen Honorable Cecil R. A. Cortright so überaus verehre. Ein so entzückender Mann! Vollendete Manieren, und ein vollendeter Bridgespieler! Wunderbare Kriegsconduite – Pour le Mérite, Verdienstkreuz. In Wirklichkeit war mein Mann – Er war ein fürchterlicher Lügner; einer von diesen händeküssenden, lächelnden, überzeugenden Lügnern. Er war ein heimlicher Trunkenbold. Er hat mich stets als amerikanische Hinterwäldlerin gedemütigt; er konnte die Leute so wunderbar um Entschuldigung bitten, wenn ich irgendeine alberne amerikanische Redensart statt einer ebenso albernen englischen gebrauchte. Und seine liebe Mutter gratulierte mir immer zu meinem Glück, ihren Liebling gewonnen zu haben. Ach, entschuldigen Sie! Das ist nicht anständig von mir! Verhängnisvolle Nacht Venedigs!«
Ihr rascher Atem war nicht ein Schluchzen, sondern eine Äußerung des Ärgers. Ihre Hand umklammerte das dünne Eisengeländer des Balkons. Er streichelte diese Hand schüchtern und sagte, als spräche er zu seiner Tochter Emily: »Vielleicht tut es uns beiden gut, uns ein bißchen von unseren Sorgen zu erzählen. Aber – Ich wollte, ich könnte meine Frau hassen. Ich kann es nicht. Und ich glaube, Sie können Cortright nicht hassen. Es wäre ganz gut für uns!«
»Ja«, trocken. »Wäre es. Aber ich fange ganz schön an dazu fähig zu sein. Ich – Haben Sie schon die Radierungen von Malapert gesehen? Ich werde Ihnen eine Mappe zeigen, die ich heute bekommen habe.«
Er sah folgsam eine Viertelstunde lang Radierungen an und verabschiedete sich dann etwas umständlich.
Als er heimging, über dunkle Bürgersteige, die wie Bretter über schwärzlich glänzenden Wasserläufen hingen, durch gefährlich aussehende, unbeleuchtete Bogengänge, empfand er abwechselnd Schuldbewußtsein, weil er von Fran gesprochen hatte, Ungeduld gegen sich selbst, weil er ein zu empfindliches Gewissen hatte, Zorn über den verstorbenen Cecil Cortright, und Freude darüber, daß Edith Cortright hinter ihrer heiklen Diskretion aufrichtig sein konnte.
Als er aufwachte, war nur das Schuldbewußtsein geblieben. Edith mußte ihn hassen, weil er über Fran geklagt hatte, weil er sie dazu verlockt hatte zu sprechen. Als er eine halbe Stunde lang versucht hatte, einen Entschuldigungsbrief aufzusetzen, kam eine Nachricht von ihr:
Nein, Sie haben nichts gesagt, was Sie nicht hätten sagen sollen, und ich glaube, ich auch nicht. Ich schreibe Ihnen das, weil ich zu wissen glaube, wie sehr wir Amerikaner es immer bereuen, wenn wir etwas gesagt haben, das wir wirklich denken. Opfern Sie es der Santa Lucia auf, die wohl, obgleich ich nicht sehr viel von der Heiligengeschichte weiß, die Schutzpatronin der Sentimentalen, wie Sie und ich, ist. Wollen Sie heute um fünf zum Tee kommen?