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Viertes Kapitel

Es war spät, als Sam sich zu seinem Bett hinaufgähnte, denn ihre Pokerpartie hatte bis nach ein Uhr gedauert. Der große Raum war vom Badezimmer her halb erhellt. Das diffuse Licht fing sich in den gelben Seidenvorhängen von Frans Bett und im Kristall auf ihrem großen Toilettetisch. Sie hatte die Fenster geschlossen gelassen, und die Luft war nicht unangenehm stickig von Coldcream, Puder und dem Dunst von einem mit Salzen gewürzten heißen Bad. Er sehnte sich nach ihrer atmenden Nähe. Sein Entschluß, mit Fran zu fliehen, ließ sie ihm näher und begehrenswerter erscheinen als seit Monaten, aber da er wußte, daß er sie nicht aufwecken sollte, und sich auch nicht eingestand, daß er etwas so Unfreundliches vorhatte, ließ er bloß seine Schuhe laut fallen.

Sie sah überrascht aus, als sie aufwachte. Wie oft schon hatte sie überrascht und ein wenig ungläubig ausgesehen, wenn sie ihn neben sich entdeckte! Sie knipste ihre Nachttischlampe an und warf ihm einen ungewissen Blick zu, als wäre sie nicht ganz sicher, wer er sei, aber schließlich mußte man höflich sein. Sie war unglaublich jung und hatte nicht das allerkleinste Fältchen, ein Mädchen in einem mit Pelz eingefaßten Spitzennachthemd.

Er ließ sich neben sie auf das Bett fallen und küßte sie auf die Schulter. Sie ließ es über sich ergehen und sagte zu freundlich: »Bitte, nicht! Nicht jetzt. Höre, mein Lieber, ich will mit dir sprechen. Ohhhh, bin ich schläfrig! Ich wollte aufbleiben, bis du kommst, aber ich bin eingenickt. Ich schäme mich sehr! Aber jetzt hol dir den Sessel her und hör mir zu.«

»Willst du dich nicht von mir küssen lassen?«

»Warum fragst du das immer? So beleidigt? Du bist so albern! Du weißt doch, daß du getrunken hast. Ach, es macht mir nichts – obwohl Tub und du, obwohl ihr Männer seid, die als Bürger eine Verantwortung haben und eigentlich überhaupt nicht trinken, gelingt es euch immer, es viel zu weit zu treiben! Es macht mir nichts. Aber meinst du nicht, daß das etwas peinlich ist, diese plötzliche Leidenschaft nach Umarmungen, wenn du – also, wenn du angeheitert bist?«

» Willst du dich nicht von mir küssen lassen?«

»Du guter Gott, mein lieber Mann, bin ich nicht seit zweiundzwanzig Jahren deine Frau? Ach bitte, Lieber, sei doch nicht so streitsüchtig! Habe ich etwas getan, das dich verletzt? Das tut mir schrecklich leid! Wirklich, Lieber. Gib mir einen Kuß!«

Sie gab ihm den kühlsten und kürzesten aller Küsse, und als diese Arbeit getan war, sprach sie höchst energisch weiter: »Jetzt hol dir den bequemen Sessel her und hör mir zu. Oder möchtest du lieber bis morgen warten?«

Er zog den Ohrenstuhl an ihr Bett und setzte sich, mit einem Pump wippend, brav nieder, sagte aber ziemlich verdrossen: »Du lieber Gott, fang schon an.«

»Ach, sei doch nicht so ein alter Brummbär! Jetzt frage ich dich: ist das anständig? Weil ich den Whiskyduft nicht leiden kann? Wäre es dir recht, wenn mein Atem so röche?«

»Nein. Aber ich habe nicht viel getrunken. Aber – lassen wir's. Hör mal, Fran. Ich weiß, was du willst. Und ich habe meinen Entschluß gefaßt. Kynance wollte mich mit einem Vertrag binden, daß ich gleich weiterarbeite, aber ich habe abgelehnt. Wir fahren also nach Europa, etwa auf vier, fünf Monate!«

»Ach. Das.«

Ihre Zickzackwege gehende Unberechenbarkeit, ihre Wissensbrocken, die von nirgendsher zu kommen schienen, ihre Ehrgeize und Wünsche, die nicht der Mühe wert zu sein schienen, ihr verschleierter Ärger über Kränkungen, die er ihr gar nicht zuzufügen gedacht hatte, ihre Liebenswürdigkeit, wenn er darauf gefaßt war, daß sie böse würde – obwohl ihm dies alles nichts Neues war, überraschte ihn jetzt ihre Gleichgültigkeit.

»Es ist wichtiger als die Reise nach Europa. Sieh mal, Sam. Selbst wenn ich dich nicht, ach, küssen wollte – es tut mir leid, aber ich scheine gar keine Leidenschaft mehr zu haben. Ich wollte, es wäre nicht so, um deinetwillen. Aber es scheint eben so zu sein. Aber auch so sind wir glücklich gewesen, nicht wahr! Wir haben etwas ganz Schönes geschaffen!«

»Ja, das haben wir. Was willst du –«

»Selbst wenn wir nicht ein wildromantisches Opernliebhaberpaar waren, glaube ich, wir bedeuten einander sehr viel und sind uns unersetzlich. Nicht wahr?«

Sein verletzter Groll wich einem Gefühl der Zärtlichkeit. Er streckte seinen langen Arm aus und streichelte ihre schmalen nervösen Finger. »Ja, wir sind in vielem sehr verschieden, aber ich glaube wirklich, wir bedeuten füreinander etwas Festes, das wir in anderen Menschen nicht finden können.«

»Etwas wirklich Dauerndes, Sam? Etwas Zuverlässiges? Wir sind also wie zwei wirklich gute Freunde, die einander in einer fürchterlichen Straßenrauferei beistehen?«

»Ja. Aber was –«

»Hör zu. Wir haben den ersten Teil unserer Arbeit getan. Wir haben genug Geld verdient. Wir haben die Kinder großgezogen. Du kannst einen Beweis für deine Arbeit zeigen – den wirklich wunderbaren Wagen, den du geschaffen hast. Und doch sind wir verhältnismäßig noch jung. Ach, wir wollen uns nicht, zufrieden mit den Abfällen des Lebens, zur Ruhe setzen! Fangen wir ein neues Leben an, ganz von vorn, und denk nicht mehr an Pflichten. (Und ich habe auch meine Pflichten gehabt, junger Mann – oder hältst du es für leicht, ein Haus wie dieses zu führen und alle Welt zu empfangen!) Wir – ach, es ist schwer, es auszudrücken, aber ich meine: legen wir uns nicht darauf fest, daß wir sagen, wir kommen von Europa zurück (aber es war reizend von dir, Lieber, daß du ja gesagt hast, ohne daß ich betteln mußte), ich meine: setzen wir nicht fest, daß wir in vier Monaten – ja oder in vier Jahren – von Europa zurückkommen müssen! Andererseits, wenn es uns nicht gefällt, dann wollen wir nicht das Gefühl haben, daß wir bleiben müssen; dann wollen wir mit dem ersten Schiff zurückfahren. Aber wir – ach, bitte, versteh das jetzt! Gehen wir aus dieser blödsinnigen alten Stadt fort, ohne einen einzigen Plan im Kopf, als daß wir in Europa landen wollen und zurückkommen, wenn wir wirklich Lust dazu haben, und, so oft es uns Freude macht, dort hinfahren, wohin wir wollen. Vielleicht kommen wir nach zwei Monaten an der Riviera zurück, oder aber es kann auch sein, daß wir in vierzig Jahren in einer Bambushütte auf Java wohnen und jedem, dem es nicht recht ist, eine Nase drehen! Ja, fast möchte ich das Haus verkaufen, damit wir nichts haben, was uns hier festhält.«

»Das ist doch nicht dein Ernst? Du guter Gott, das ist doch unmöglich! Das ist ja unser Zuhause! Ich würde nicht wissen, was ich anfangen soll, wenn wir nicht einen sicheren Hafen haben, in den wir zurück können! Wir haben uns selbst doch hier hineingebaut, vom Radiola bis zur neuen Garageneinfahrt. Ich glaube, ich kenne jede Dahlie im Garten ganz genau! Ich liebe das Haus, so wie ich Emily und dich und den Jungen liebe. Der einzige Ort, wo wir die Tür zuschlagen und allen Leuten sagen können, sie sollen sich zum Teufel scheren, und wo wir wir selbst sein können!«

»Aber vielleicht können wir ein neues Wesen bekommen, ohne unser altes zu verlieren. Du könntest – ach, du könntest so großartig sein, so groß und imponierend und herrlich, wenn du dir nachgeben wolltest, wenn du nicht das Gefühl hättest, daß du nichts weiter bist als das Anhängsel eines ekelhaften billigen Automobils, wenn du diese alberne Angst überwinden würdest, die Leute könnten dich für affektiert und snobistisch halten, wenn du von ihnen den Respekt verlangst, der dir zukommt! Es gibt wirklich große Leute in der Welt – Herzöge und Botschafter und Generäle und Gelehrte und – Und ich glaube nicht, daß sie im Grunde auch nur um so viel größer sind als wir. Bloß daß sie es gelernt haben, von Weltaffären zu sprechen statt vom Vanadiumpreis und von dem Essen, das es beider Allerheiligen-Gesellschaft von Mrs. Hibbletebibble geben wird. Ich werde zu dieser Welt gehören! Ich habe keine Angst vor den Leuten! Wenn du nur deine naive Leidenschaft für ›Einfachheit‹ und alle die anderen netten Bauerntugenden ablegen und dir erlauben würdest, der große Mann zu sein, der du in Wirklichkeit bist! Nicht Seiner Exzellenz sagen, obwohl du aussiehst wie ein Großherzog, bist du eigentlich nur der kleine Sammie Dodsworth aus Zenith. Wenn du es nicht durchaus erzählen willst, wird er gar nicht darauf kommen! … Und vielleicht ein Botschafterposten für dich, wenn du lange genug im Ausland gewesen bist, um Bescheid zu wissen … Aber um das alles zu tun, um die Welt zu erobern, dürfen wir nicht von dem Gefühl behindert werden, daß wir an dieses dumme und sture Zenith gefesselt sind, bis der Tod uns von allen Freuden des Lebens trennt!«

»Aber das Haus verkaufen –«

»Ach, das brauchen wir natürlich nicht zu tun, lächerlich – zunächst nicht. Das sollte nur ein Beispiel dafür sein, wie frei wir uns fühlen müssen. Natürlich würden wir es nicht verkaufen. Herrgott, vielleicht sind wir froh, wenn wir in sechs Monaten hierher zurückkriechen können! Aber wir sollen es uns nicht vornehmen, das meine ich. Ach, Sam, ich will durchaus nicht, daß mein Leben mit vierzig vorüber ist – schön, mit einundvierzig, aber kein Mensch hält mich für älter als fünfunddreißig oder gar dreiunddreißig. Und das Leben wäre für mich vorüber, wenn ich ganz einfach immer bei diesen idiotischen Kleinigkeiten in dieser halbfertigen Stadt bliebe! Ich will nicht, das ist das Ganze! Du kannst hierbleiben, wenn du durchaus willst, aber ich werde mir die hübschen Dinge nehmen, die – ich habe ein Recht darauf, sie mir zu nehmen, weil ich sie verstehe! Was interessiert es mich, ob irgendein Klub von menschlichen oder halbmenschlichen Katzen mit Augengläsern im nächsten Jahr Studien über Diätetik oder litauische Kunst anstellt? Was geht es mich an, ob ein paar eingebildete millionenschwere junge Fabrikanten ein nachgemachtes englisches Polo-Team haben? … wo ich doch in England das richtige haben könnte! Und doch, wenn wir hierbleiben, dann verbauern wir und tun immer und immer wieder dasselbe. Wir haben aus Zenith alles herausgeholt, was es uns geben kann, ja, und alles, was New York und Long Island uns geben kann. Und in diesem ekelhaften Land – in Europa fängt eine Frau mit vierzig Jahren gerade an, in das Alter zu kommen, in dem Männer von Bedeutung sich ernsthaft für sie interessieren. Aber hier ist sie eine Großmutter. Die jungen Dinger halten mich für so ehrwürdig wie die Frau des Bischofs. Und sie machen mich auch alt mit ihrer verfluchten Ehrerbietung – und ihrer reizenden Freude, wenn ich von einem Ball früh nach Hause gehe – ich, die besser tanzen kann, ja, und länger tanzen als die alle miteinander –«

»Na, na!«

»Ja, ich kann es! Und du könntest es auch, wenn du dir nicht vom Geschäft alle Energie, die du hast, auffressen ließest! Aber trotzdem – Ich habe nur noch fünf oder zehn Jahre, die ich noch jung bleiben kann. Das ist meine letzte Patrone. Und die will ich nicht verschwenden. Kannst du das nicht verstehen? Kannst du das nicht verstehen? Es ist mir verzweifelt ernst! Ich bitte um das Leben – nein, das tu' ich nicht! – ich fordere es! Und das hat mehr zu bedeuten als eine nette kleine Cookreise nach Europa!«

»Aber hör doch mal! Willst du mir wirklich sagen, Fran, daß du meinst, von Zenith nach Paris übersiedeln, das heißt, daß alles in deinem Leben sich ändert und du wieder ein Kind wirst? Ist dir nicht klar, daß wahrscheinlich die meisten Leute in Paris ungefähr ebenso sind wie die meisten Leute hier oder wo du sonst willst?«

»Sie sind es nicht, aber selbst wenn sie es wären –«

»Was erwartest du denn von Europa? Eine Menge Bildung?«

»Nein! ›Bildung!‹ Ich verabscheue dieses Wort, ich verabscheue die Leute, die es gebrauchen! Ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, die Namen von vielen Malern zu sammeln und von Suppen – und dann zurückzukommen und mich damit aufzuspielen. Herrgott, es handelt sich ja nicht bloß um Europa! Vielleicht bleiben wir überhaupt nicht dort. Es handelt sich darum, daß wir frei sind, zu reisen, wohin wir wollen, und solange wir wollen, oder uns ansässig zu machen und uns an irgendeine Gesellschaft oder eine Clique anzuschließen, wenn wir wollen, und daß wir nicht das Gefühl haben, es ist unsere Pflicht, hierher zurückzukommen. Ach, um wieviel besser könnte ich dich lieben, wenn wir nicht zwei alte Pferde in einer Tretmühle wären!«

Im Februar, drei Wochen nach Emilys Hochzeit, reisten sie nach Southampton ab.

Sam war davon in Anspruch genommen, die Überleitung der Revelation Company durchzuführen und Fran zu antworten, wenn sie klagte: »Ach, bei dir ist die Arbeit zu einer Krankheit geworden! Du arbeitest weiter, auch wenn es gar nicht nötig ist. Laß das doch von den Subalternen fertig machen. Du, es ist ja nur, weil ich dich so liebhabe, daß – Glaubst du, wirst du es noch einmal lernen, am Nichtstun Freude zu haben, dich zu freuen, daß du ganz einfach du selbst bist und nicht ein Beamter? Ich werde mir doch nicht schlecht vorkommen müssen, weil ich dich fortgelockt habe, nicht wahr?«

»Bei Gott, ich werde mich am Leben freuen und wenn es mich umbringt – was es ja wahrscheinlich tun wird!« brummte er dann. »Du mußt mir Zeit lassen. Ich habe mit diesem ›Frei sein‹ zirka fünfunddreißig Jahre zu spät angefangen. Ich bin ein guter Bürger. Ich habe gelernt: das Leben ist etwas Wirkliches, das Leben ist etwas Ernsthaftes, und sein höchstes Ziel der Generaldirektorposten in einer Gesellschaft. Was könnte ich mit etwas so Degeneriertem wie einfacher Freude an mir selbst anfangen?«


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