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Dreizehntes Kapitel

Sam war einigermaßen gewöhnt an New Yorker Hotels, und ab und zu hatte er eine oder zwei Wochen in einem der Sommergasthöfe von Nord-Michigan, Maine und den Berkshires zugebracht. Aber er hatte nie die Existenz der wohlhabenden Deserteure des Lebens gekannt, die Jahre in Hotels und Pensionen verbringen, die von Stubenmädchen bemuttert, von Portiers bevatert werden und zu Freunden nur Zimmerkellner haben – wenn sie überhaupt Kellner finden können, die freundlich und faul genug sind, sich geduldig ihr Getratsche anzuhören.

Und es gefiel ihm durchaus nicht.

Es war ihm zumute, als lebte er in einem Altersheim. Bei den Aufmerksamkeiten des Personals bekam er das Gefühl, alt zu sein; der Fahrstuhlmann brachte ihn zur Raserei, indem er ihm aus dem Fahrstuhl heraushalf, wenn dieser einen ganzen Zoll zu hoch hielt; der Boy in der Halle brachte ihn zur Raserei, indem er die Drehtür in Bewegung setzte – und zwar meistens so geschickt, daß der eine Flügel knapp an Sams Nase vorübersauste; der Chefkellner brachte ihn zur Raserei, indem er, als hätte Sam noch nie in seinem Leben etwas von einem Menu gehört, fragte: »Etwas Suppe heute abend, Mr. Sammuels?« und am wütendsten machten ihn die Zimmerkellner, die jeden Morgen von neuem darüber staunten, daß er Eier zu seinem Frühstück haben wollte, die sich mit den Messern und Gabeln zu schaffen machten, Stühle heranschoben und das nette Durcheinander von Zeitungen forträumten, und die ihm die Serviette hinhielten, als wäre er zu schwach, um sie selbst aufheben zu können.

Aber er war auf sie angewiesen. Obwohl Fran jetzt täglich mit großem Getue den Matin las und angeblich alles über Ausstellungen und Theater wußte, mußte sie sich an den großen, begönnernden Portier wenden, um zu erfahren, wann der Zug nach Versailles ging, wo man Pumps kaufte, wo der beste amerikanische Dentist war – wie viel man für eine lackierte japanische Zigarettenschachtel zahlen sollte – warum zum Teufel Mathilde et Cie. das Abendcape nicht geliefert hätten, das für diesen Nachmittag versprochen war – und welchen Ruf Mathilde et Cie. überhaupt hinsichtlich Liefern und Übervorteilen hätte?

Er fand sich mit dem Hotel als seiner naturgegebenen Wohnstätte ab, etwa wie ein Gefangener sich mit seinem Kerker abfindet. Bald mußte er sich nicht mehr über den umständlichen Weg vom Fahrstuhl zu seinem Appartement ärgern – rechts, noch einmal scharf nach rechts, bei der staubigen alten Truhe mit den roten und grünen Streifen, die seit ewigen Zeiten dort im Korridor zu stehen schien, nach links, dann die siebente Tür links – die Tür mit dem langen Kratzer unter der Klinke. Er fand sich damit ab, wie jeder Bauer sich mit dem langen Weg zu seiner Hütte abfindet, dem dunklen, sinnlosen Weg, dessen seine müden Füße schon so überdrüssig sind. Er ärgerte sich nicht mehr über das zu offene, zu funkelnde und leichtfertige Aussehen des französischen Fahrstuhls, er lernte, daß der Aufzug der »Lift« oder »Ascenseur« war, alles, nur nicht der »Fahrstuhl«; er lernte, daß die Klingel im Zimmer nie funktionierte, und daß die beste Methode, sich einen Kellner zu verschaffen, war, sich in die Tür zu stellen und »Gar-song« zu brüllen; und er lernte, daß der Mr. Samuel Dodsworth, den man einst mit einer gewissen Ehrerbietung in den Bureauräumen der Revelation Motor Company in Zenith empfangen hatte, jetzt von Glück sagen konnte, wenn ihm der griechische Hausknecht in der Halle zunickte.

Er brachte es sogar fertig, sein ganzes Leben vor der Öffentlichkeit zu verbringen, wie ein Affe im zoologischen Garten. Nach einiger Zeit konnte er, ohne verlegen zu werden, in der altmodischen Halle des Hotels sitzen und die Pariser Ausgaben der amerikanischen Zeitungen lesen – er ging täglich dorthin, obwohl er seinen eigenen Salon hatte, weil er, heimlich und ohne es sich einzugestehen, hoffte, eines Tages könnte ein amerikanischer Mitverbannter ihn wiedererkennen und sich ihm anschließen. Modern waren in der Halle die scheußlichen Tischchen mit narbig gehämmerten Messingplatten, der Springbrunnen mit einem Neptun, der sich in nichts von anderen Marmorgrabsteinen unterschied, und die Anzahl der Cocktails, welche von jungen Damen, die chicagoisch mit ausgezeichnet nachgemachtem französischen Akzent sprachen, täglich um fünf Uhr heruntergeschüttet wurden. Aber bis zu neuen Stühlen war die Modernität der Halle nicht gediehen. Die Sitzgelegenheiten waren aus rotgoldenem Plüsch, auf dem zierlich und keusch Antimakassars ruhten, und sahen so ziemlich aus, als wären sie von Napoleon III. gestiftet worden.

Nicht ohne Überwindung hatte Sam sich daran gewöhnt, in der Halle zu lesen, seine geistige Toilette öffentlich zu machen. Er war das Gemeinschaftsleben der Klubs gewohnt, aber dort beachtete man einander nicht. In der Halle hatte niemand viel anderes zu tun, als zu beobachten. Man starrte, und zwar immer geärgert. Gerade die englische Mutter und Tochter, die am exklusivsten waren und Fremde am übelsten aufnahmen, waren diejenigen, welche die meiste Zeit damit verbrachten, in der Halle exklusiv zu sein und übelzunehmen. Gerade der französische Provinzmagnat, der erst diesen Morgen angekommen war, war derjenige, der einen Veteranen wie Sam, der jetzt schon zwei ganze Wochen hier war, am gereiztesten musterte, wenn Sam ihn ärgerte, indem er den Sessel neben ihm nahm und um zehn Zentimeter verrückte. Und immer waren ältere, leicht rülpsende, überaus behaarte Paare da, die sich ununterbrochen damit beschäftigten, seine Blicke aufzufangen und ein empörtes Gesicht zu schneiden, weil er ihre Blicke auffing.

Aber nach vierzehn Tagen war er imstande, in die Halle zu treten, das Menschenmobiliar zu übersehen und in seiner Zeitung mit fast demselben Behagen zu blättern wie in seiner Bibliothek in Zenith.

Er gewöhnte sich allmählich an das Heim der Heimatlosen.

 

Er entdeckte langsam, und stets ein wenig erstaunt, daß die Franzosen ganz menschlich waren, sogar nach dem Maßstab der Vereinigten Staaten von Amerika.

Er kam dahinter, daß man in manchen französischen Badezimmern warmes Wasser bekommen kann, ohne auf eine Geysireruption zu warten; er kam dahinter, daß er es nicht nötig gehabt hätte, zwei Dutzend Tuben seiner Lieblingszahnpaste (die sehr stark duftete) aus Amerika mitzubringen – man konnte Zahnpasta, Hühneraugenpflaster, New Yorker Sonntagszeitungen, Bromo-Seltzer, Lucky Strikes, Rasierklingen und Eiscrême in Paris nahezu ebenso leicht bekommen wie in den Vereinigten Staaten; und jemand, den er in Luigis Bar kennenlernte, behauptete sogar, wenn man eifrig genug suche, könne man auch die heilige originalamerikanische Unterwäsche bekommen.

Und er entdeckte, daß die französischen Chauffeure besser fuhren als Amerikaner.

 

Während einer nicht unangenehmen freien Stunde, in der Fran Hüte probierte, saß er vor Weber mit einem Cognak Soda (er hatte sagen gelernt: »Une fine à l'eau de seltz«, und manchmal verstanden die Kellner ihn sogar) und dachte über all dies nach.

»Was habe ich mir eigentlich in Frankreich erwartet? Ach, ich weiß nicht. Komisch! Ich kann mich gar nicht mehr gut erinnern, wie ich es mir vorgestellt habe. Wahrscheinlich habe ich gemeint, es würde an allen Bequemlichkeiten fehlen – keine Badezimmer, zum Frühstück nichts anderes als Rotwein und Schnecken, keine Autobusse oder bequemen Züge, keine Cocktails, und alle Männer mit gewichsten Schnurrbärten und komischen Bärten. Und daß sie immer sagen: ›Das Stubenkätzchen ist aber süß – oh la la –‹

Und dann diese jungen Franzosen in Londoner Anzügen, die mit ihren Hispano-Suizas hundert Kilometer in der Stunde fahren – und im Ritz hört man sie perfekt englisch sprechen, über englischen Stahl und Brückenbau in Argentinien und über den Sowjeteinfluß in China und –

Wahrscheinlich dachte ich, daß die ganze bekannte Welt sich um die Bureaus der Revelation Motor Company, Constitution Avenue, Zenith, dreht, und die ganze Zeit – Burgen und Kathedralen und Alleen, und Europa schert sich nicht darum, daß Sam Dodsworth daran gedacht hat, die neunzehnhundertachtundzwanziger Modelle in Delfter Blau herauszubringen –

Wie wichtig mir das vorgekommen ist!

Aber trotzdem, ich bin froh, daß ich Amerikaner bin! Aber –

Das Leben war damals doch einfacher. Wir wußten, daß es nur uns gab! Wir wußten, daß ganz Europa ungewaschen und ruiniert ist, daß Amerika das einzige Bollwerk der Welt gegen den Bolschewismus und die Hungersnot ist. Sie lügen ja alle so! Die Redner bei den Klubzusammenkünften, und die Schriftsteller in den Magazinen! Sie erzählen uns, daß es keinen einzigen Europäer gibt, der Tennis spielt oder sein Kind die zehn Gebote lehrt oder eine Eisenbahnbrücke bauen kann, und daß das einzige, was Europa davor bewahrt, wieder in das Zeitalter der Höhlenbewohner zurückzufallen, das amerikanische Geld ist.

Quatsch!

Und doch, ich werde nie europäisch werden! Fran vielleicht – Ach, Fran, warum entfernst du dich so von mir? Täglich hast du mehr auszusetzen an meinem armen provinziellen Amerikanertum! Du wartest ja nur darauf, daß irgendein wirklich feiner Europäer kommt – Und, bei Gott, eines werde ich mir nicht gefallen lassen – wenn sie mir erzählen will, daß ich weniger tauge als irgend so ein Gigolo –

Esel! Natürlich, das Mädel – Ja! Das ist sie noch immer; sie ist noch immer ein Mädel. Etwas älter als Emily, aber nicht so vernünftig. Natürlich bringt Europa sie aus dem Häuschen. Sie hat doch ihre Arbeit getan, nicht? Sie hat das Haus geführt und Emily und Brent aufgezogen, nicht? Ich muß Geduld haben.

Aber daß sie auf so eine Null wie Lockert hereinfallen konnte –

Teufel! Ich wollte, Tub wäre hier. Fran und ich haben keinen Menschen –

Und der eigentlichen Frage weichst du noch immer aus, mein Lieber!

Was soll Sam Dodsworth mit der Tatsache anfangen, daß er so provinziell ist wie ein Präriehund, daß er erst einundfünfzig ist und wahrscheinlich noch dreißig Jahre vor sich hat, und daß er eine Welt entdeckt hat –

Gar nichts, wahrscheinlich! Zu spät. Ich würde ja nett wirken, was, als einer von den amerikanischen Geschäftsleuten, die hier herüberkommen und verheimlichen wollen, daß sie ihr Geld mit Seife oder Schweinefleisch gemacht haben – Und deshalb sammeln sie Erstausgaben und bitten um Entschuldigung dafür, daß sie so sind, wie sie sind! Aber ab und zu werde ich es doch versuchen müssen zu lernen, so still zu sitzen und mir nicht einzubilden, ich muß tüchtig sein und rasch machen –

Mein Gott! Fünf Uhr! Ich muß rasch machen und Fran abholen!«

 

Aber er hatte einen Trost, und den verdankte er seiner Frau. Es hatte einen unangenehm tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß Mathieu, sein Zimmerkellner in Grand Universel, ein dicker, salbungsvoller Mensch mit Locken, der interessanterweise jeden Tag andere Flecken auf seinen Frackaufschlägen hatte, so ausgezeichnet Englisch sprach.

Der guten amerikanischen Sitte folgend, hatte Sam ihn schon beim ersten Frühstück gefragt: »Wo haben Sie Ihr Englisch gelernt?«

Mathieu lachte: »Ich war fünf Jahre in Chicago.«

Mathieu war viel gesprächiger als Sam beim Frühstück, oder beim Lunch, wenn sie des schlechten Wetters wegen nicht ausgingen, oder wenn die amerikanische Post kam. »Wie war es mit einem hübschen kleinen Steak?« pflegte er im echtesten Chicagoakzent zu fragen; oder: »Hören Sie, Boss, es ist grade frischer Kaviar direkt von Rußland angekommen.«

So kam es, daß Sam glaubte, Mathieu spreche amerikanisch.

Aber am dritten Tag fragte Fran beim Frühstück: »Mathieu, wissen Sie vielleicht, wo am linken Ufer die Kinos sind, die modernistische Filme bringen?«

Mathieu starrte sie an.

» Pardon, Madame!« konnte er nur sagen.

»Theater – moderne Filme – Kinematographien – ach, wie heißt es denn –!«

Fran lief zu dem kleinen Tischchen hinüber und holte das Wörterbuch.

» Le – cinématographe – moderne est ce qu'il y a – Ich meine, gibt es eines am linken Ufer?«

Mathieu betrachtete sie mit überlegen intelligenter Miene:

»O ja. Sie müssen den Portier fragen. Der kann es Ihnen sagen. Das Kalbssteak ist heute sehr schön – ganz à la Chicago!«

Als Mathieu gegangen war, um das Kalbssteak zu bringen, das heute so schön war, murmelte Fran: »Ich habe eine großartige Entdeckung gemacht! Abgesehen von Bezeichnungen fürs Essen spricht Mathieu Englisch um nichts besser als wir Französisch. Es ist gar nicht so schlimm mit uns, mein Lieber!«

»Mit dir natürlich nicht. Aber mit mir ist es schrecklich!«

»Sei nicht albern! Gestern hast du gesagt: › A quelle heure est le Louvre fermé?‹ – Das heißt, ich glaube, eigentlich hast du gesagt: › est le Louvre geschlossen?‹, aber der Chauffeur hat dich ausgezeichnet verstanden, und ich bin überzeugt davon, daß du glänzend französisch sprechen könntest, wenn du dich ernsthaft damit beschäftigen wolltest!«

»Wirklich?« fragte Sam.


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