Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Seit den Tagen Alexanders des Großen gehört es zum guten Ton zu meinen, das Reisen sei angenehm und und überaus bildend. In Wirklichkeit ist es so ziemlich der anstrengendste und doch langweiligste Zeitvertreib, und, abgesehen von dem Fall einiger weniger Fachleute, die zu ganz bestimmten Zwecken Globetrotter sind, versorgt es sein Opfer lediglich mit mehr Gesprächsthemen, an denen es seine Unwissenheit beweisen kann. Der große Reisende der Romanciers ist hochgewachsen und hat eine Adlernase. Er spricht neun Sprachen und verstimmt alle rechtdenkenden Menschen, indem er fortwährend Salonmanieren zur Schau trägt. Er ist »überall gewesen und hat alles getan«. Er hat Löwen in Sibirien und Taschenratten in Minnesota geschossen, und mit dem König in Stockholm Tennis gespielt. Er kann einem einen köstlichen Abend bereiten, indem er über Tutankamens Grab und die Ethnologie der Maoris spricht.

In Wirklichkeit ist der große Reisende gewöhnlich ein kleiner salopper Mensch mit verschossenem grünen Hütchen, der ganz unauffällig in einer Ecke der Schiffsbar sitzt. Er spricht nur eine Sprache, und auch die ungern. Er kennt alle Daten von neunzehn Ländern, nur nicht das häusliche Leben, die Lohnverhältnisse, den Export, die Religion, die Politik, den Ackerbau, die Geschichte und die Sprachen dieser Länder. Er ist in Hotel- und Eisenbahnfragen ebenso wertvoll wie Baedeker, nur nicht so genau.

Wer einen Dom zehnmal gesehen hat, hat etwas gesehen; wer zehn Dome einmal gesehn hat, hat nur wenig gesehen; und wer je eine halbe Stunde in hundert Domen verbracht hat, hat gar nichts gesehen. Vierhundert Bilder an einer Wand sind vierhundertmal weniger interessant als ein Bild; und niemand kennt ein Caféhaus, solange er nicht oft genug hingegangen ist, um die Namen aller Kellner zu wissen.

Das sind die Gesetze des Reisens.

Wäre das Reisen so begeisternd und belehrend, wie die neueste Weltreisepropaganda so beredt behauptet, dann wären die weisesten Männer der Welt Matrosen auf Frachtdampfern, Eisenbahnschaffner und Mormonenmissionare.

Das Betrüblichste am Reisen aber ist die schauderhafte Mühe, die es macht. Wenn es etwas schlimmeres gibt als das bis zum Schmerz ermüdende Hinausstarren aus Kupeefenstern, so ist das die nervöse Unruhe, in die man gerät, wenn man Fahrkarten besorgen, packen, Züge heraussuchen, in rüttelnden Schlafwagenbetten liegen, sich ohne Wasser waschen, Pässe herausholen und sich durch den Zoll kämpfen muß. Sich in Karlsbad aufzuhalten ist gut, in San Remo müßig zu gehen, ist heilsam für die Seele, aber von Karlsbad nach San Remo zu kommen, ist des Teufels.

Tatsächlich lügen die meisten der mit der Gewohnheit des Reisens Geschlagenen bloß über die Freuden und Vorteile dieser Beschäftigung. Sie reisen nicht, um etwas zu sehen, sondern um sich selbst zu entrinnen, was ihnen nie gelingt, und um dem Gezänk mit ihren Verwandten zu entgehen – nur um neue Verwandte zum Zanken zu finden. Sie reisen, um nicht denken zu müssen, um etwas zu tun, genau so wie sie Patience legen, Kreuzworträtsel lösen, ins Kino gehen oder die Zeit mit irgendeiner anderen fürchterlichen Beschäftigung totschlagen könnten.

All dies entdeckten die Dodsworths, allerdings gestanden sie es, wie die meisten auf dieser Welt, niemals ein.

 

Mehr als Kirchen oder Burgen, ja sogar mehr als Kellner, blieben Sam die Amerikaner im Gedächtnis, die er unterwegs sah. Die Schriftsteller sprechen zuversichtlich, und gewöhnlich beleidigend, von einem Tier, das da heißt: »Der typische Amerikaner auf Auslandsreisen.« Ebensogut könnte man von »einem typischen Menschen« sprechen. Die Amerikaner, denen Sam begegnete, rangierten von Bostoner Rhodes-Stipendiaten bis zu Arkansas-Farmern, von Riviera-Tennisspielern bis zu Düngemittel-Reisenden.

Da waren Mr. und Mrs. Meece, aus Ottumwa in Iowa, in einem unter Palmen stehenden Hotel in Italien. Mr. Meece war sechsundvierzig Jahre lang Apotheker gewesen, und seine Frau sah aus wie zwei aufeinandergesetzte Äpfel. Sie plagten sich den ganzen Tag mit Besichtigungen; sie erledigten alles genau in der Ordnung, die ihnen der Führer vorschrieb, und sie ließen sich nichts entgehen – weder Galerien, Aquarien, das König-Ludwig-Denkmal in zweierlei rosa Granit, noch die Lage des Hauses, in welchem Gladstone im Jahre 1887 zwei Wochen zugebracht hat. Wenn ihnen etwas davon Vergnügen machte, so ließen sie es sich nicht anmerken, aber gelangweilt sahen sie auch nicht aus. Ihre Mienen verrieten gar nichts. Sie kehrten täglich um fünf Uhr ins Hotel zurück. Sie aßen immer um sechs Uhr im Grill, und Mr. Meece durfte ein Glas Bier trinken. Man hörte ihn nie etwas anderes zu seiner Frau sagen, als: »Na, es wird spät.«

Im selben Hotel war das Lärmende Paar: zwei New Yorker, die man zu allen Tageszeiten sagen, sehr weit sagen hörte, alle Europäer seien untüchtig, nach Mitternacht könnten sie nie warmes Wasser bekommen, die Hotelpreise seien schauerlich, keine Revue in Europa sei so gut wie die in den Ziegfeld's Follies, in diesem verfluchten Katzelmacher-Nest könne man weder Lucky Strike-Zigaretten noch George Washington-Kaffee bekommen, und für sie sei der kleine olle Broadway gut genug.

Andere Amerikaner lösten sie ab: Professor und Mrs. Whittle von der Nord-Wisconsin-Baptisten-Universität – Professor Whittle lehrte Griechisch und verstand mehr von buntem Glas und von der Benedectine-Herstellung als alle lebenden Amerikaner, und Mrs. Whittle hatte in Vonn ihren Doktor mit einer Arbeit über die Philosophie Spinozas gemacht, ihre eigentliche Passion aber war die Obstzucht. Den Whittles folgte Percy West, der Yucatan-Forscher; Mr. Roy Hoops, der Automobilreifen verkaufte; Richter und Mrs. Cady aus Massachusetts – die Cadys lebten seit fünf Generationen im selben Haus; Mr. Otto Kretch und Mr. Fred Larabee aus Kansas City, zwei Ölindustrielle auf einer Golfreise um die Welt, die drei Jahre dauern sollte; der messingbeschlagene, mit den Absätzen klappende Oberst Thorne; Mr. Lawrence Simpton, der sich wie eine Lilie kleidete und wie eine Dame sprach; Miss Addy T. Belcher, die Material für eine neue Vortragsreise über ausländische Politik und Finanz sammelte und im Privatleben wie ein Ballettmädchen aussah; und Miss Rose Love, der Operettenstar, die im Privatleben wie eine kurzsichtige Schullehrerin aussah.

Typische Amerikaner!

Für Sam hörte es nie auf, ein Abenteuer zu sein, wenn er an einem Eisenbahnwagen ein Schild sah, das versprach, daß der Zug von Paris nach Mailand, Venedig, Triest, Agram, Vinkovci, Sofia und Stambul fahre. Obwohl er der Wanderfahrten so müde wurde, daß ihm ein Museum war wie das andere, daß er des Morgens beim Aufwachen eine Minute brauchte, um sich darauf zu besinnen, in welchem Land er sei, lockten ihn die Namen fremder Städte immer noch.

Von Avignon reisten sie nach San Sebastian und Madrid, Toledo und Sevilla. Nach Arles, Carcassonne, Marseille, Monte Carlo. Nach Genua, Florenz, Siena, Venedig, dann wurden zwei Monate zwischen Neapel und Rom geteilt und ein Abstecher nach Sizilien gemacht. Wien, Budapest, München, Nürnberg. Und dann kamen sie, gegen Ende April, nach Berlin.

Sam hätte nie davon sprechen können, aber er fand, daß das Charakteristische einer Auslandsreise für ihn nichts mit Burgen oder Landestrachten zu tun hatte, mit Galerien oder Gebirgslandschaften. Das Charakteristische war eigentlich die Widerlichkeit fast aller Hotels, an fast allen Abenden, wenn sie ihre Besichtigungsarbeit hinter sich hatten. Es war »nichts zu tun am Abend«, außer einem gelegentlichen Kinobesuch oder einem Gang in ein Caféhaus, wenn es in dem ausländischen und drohenden Dunkel nicht zu weit vom Hotel war.

Abend für Abend das Gleiche. Müde ins Hotel zurück, eine wohltuende Tasse Tee und langsames Umkleiden. Sie hatten es nur einmal versucht, und nie wieder gewagt, im Straßenanzug zum Dinner zu kommen und sich von den englischen Touristen der nur in Gold zahlenden Klassen anstarren zu lassen, als ob sie den Speisesaal besudelten.

Ein melancholischer Cocktail in der Bar. Immer dasselbe Dinner – weiß und goldener Speisesaal, ein glatter und tüchtiger schwarzhaariger Chefkellner, der ihnen die Stühle zurechtrückte, eine klare Suppe mit unbestimmbarem Geschmack, ein Fisch, der nicht weiß, sondern ausgebleicht war, Huhn mit langweiligen kleinen Karotten, Crême Caramel, Käse und Obst. Stets die gleichen unterdrückten und flüsternden Gäste: die verblühte amerikanische Mutter in Silber mit der fast ebenso verblühten Tochter in Gold, die den großen einsamen Engländer erbärmlich anstarrten; das junge intellektuelle preußische Paar auf der Hochzeitsreise, das zu lesen und einander zu ignorieren vorgab, und das dicke, reifere bayrische Paar, das gemütlich sein wollte, sich aber nicht traute. Die bejahrten Engländer – er mit starken Augenbrauen und sehr ausgesprochenen Ansichten über Artischocken und Devisenkurse; sie immer Blicke über ihre Brille werfend, wenn man lachte oder sich bei dem Kellner über die Züge nach Grasse erkundigte. Der Vikar von der englischen Kirche der Ortschaft, von einer feuchten Freundlichkeit, der einzige Mensch, der zu einem kam und sprach, aber mit dem Ton seiner Erkundigungen nach dem Wohlbefinden erreichte, daß man sich schuldbewußt vorkam, weil man nicht zu seinem Gottesdienst am nächsten Sonntag gehen wollte.

Dann das eigentlich Widerwärtige.

Bis zehn in der Halle sitzen, einem Orchester zuhören, das zum hundertsten Mal Verdi spielt, in einem alten Tauchnitzbändchen lesen, unbehaglich aufsehen, weil man mehr und mehr fühlt, wie die persönlichen Bande fester werden, die einen an diese nur zu gut bekannten, zu genau studierten Fremden knüpfen.

Noch schlimmer war es, wenn das Hotel halb leer war und die Wüste der wartenden Sessel in der Halle so einsam aussah.

Immer dasselbe, abgesehen von einigen Städten, in denen es Kasinos, Kabaretts und berühmte Restaurants gab, dasselbe in Florenz und Granada, in Hyeres und Dresden.

Allabendlich fragte Sam sich nach diesem Kampf mit der Langweile schuldbewußt, warum sie nicht ausgegangen und sich das sogenannte »Eingeborenenleben« der Stadt angesehen hätten – die Gewohnheiten dieser unauffälligen neunundneunzig Hundertstel der Bevölkerung, die von den Touristen nicht beachtet werden. Aber – Ach, sie hatten es versucht. Es handelte sich nicht um Hintergäßchengefahren; ein Kampf in einer Kneipe wäre ihm fast lieber gewesen. Aber fremde Sprachen, die Notwendigkeit sich auf italienisch oder spanisch etwas zum Trinken zu bestellen oder nach der Taxe zu fragen, das war wie ein Kriechen durch eine Hecke mit stechenden Dornen. Und in ein nicht von Reisenden besuchtes Lokal in Abendkleidern zu gehen, das hieß mit Blicken, Bemerkungen und Gelächter belästigt werden. Die Unverhohlenheit, mit der die Italiener Fran anstarrten –

Nein, da war es schon besser, im Hotel zu bleiben.

Alle zwei Wochen einmal war Sam in der Lage, sich in der Bar von irgendeinem zutunlichen Amerikaner oder Engländer ansprechen zu lassen, und dann strahlte er und redete vergnügt von Automobilen und Ross Ireland. Und Fran freute sich und war huldvoll zu solchen Rettern … was immer sie auch nachher im Schlafzimmer von Manieren und Unvornehmheit redete.

Aber diese schmerzende Langeweile der Verbannungsabende zwang sie zusammen, und sie waren oft zärtlich.

Und Fran wurde der Isolierung durch das Reisen müde. Er freute sich, daß es jetzt nicht mehr lange dauern könnte, bis sie zufrieden mit ihm nach Hause zurückkehren würde, um zu bleiben – bis sie, übersättigt von den süßen Eibischplätzchen des Zustandes, den sie für Romantik gehalten hatte, endlich seine Frau würde.

 

Dämmerung in Neapel, sie blickten von ihrem Zimmer im Bertolini über den Golf hinüber. Das Wasser und die Berge im Wasser waren rauchfarben, und ein paar kleine Boote weit draußen flohen vor der Dunkelheit heimwärts. Im Garten unter ihnen bewegten sich langsam die Zweige einer Palme, und Zitronenbäume atmeten ihren säuerlich süßen Duft aus. Die Lichter am Fuß des Vesuvs waren zitternde Stahlpunkte. Ihre Hand glitt in die seine, sie flüsterte: »Hoffentlich kommen die Boote gut nach Hause!« Sie standen da, bis Palmen und Meer verschwunden waren und sie nur noch die Lichter Neapels sehen konnten. In der Ferne sang jemand »Santa Lucia«. Sam Dodsworth wußte nicht, daß das Lied abgedroschen war.

Er summte die Melodie mit. Italien und Fran! Der Golf von Neapel! Und sie würden Weiterreisen – zu sonnenbeschienenen Inseln, in die schweigende, mondbeschienene Wüste, zu Pagodenglöckchen und nach Hause! »– Santaaaa Lucia!« Er hatte sie zurückgewonnen, sie war wieder seine Frau!

»Die singen noch immer diesen fürchterlichen Leierkastenmist! Gehn wir essen«, sagte sie. Er zuckte zusammen und seufzte.

 

Sie waren wieder Gefährten wie in den ersten Pariser Tagen, und manchmal gab es ganze Nachmittage, die fröhlich waren, zuversichtlich, verbracht mit Lachen und langen Spaziergängen. Sie hatten wieder das schöne Gefühl, aufeinander angewiesen zu sein. Aber Sam wußte, daß ihre Beziehung unsicher geworden war.

Meistens gab Fran sich Mühe freundlich zu sein. Da es aber allmählich zu einer Gewohnheit wurde, stritten sie öfter über immer geringfügigere Dinge.

Er wußte, daß er sie durch seine Härte in Paris geschlagen, gedemütigt hatte, aber so lange und angestrengt er auch darüber nachdachte, er konnte nicht finden, daß es eine andere Möglichkeit für ihn gegeben hätte. Er bemühte sich, sie mit kleinen Geschenken, mit Blumen und hübschen geschnitzten Schächtelchen zu gewinnen, und war voll Sorge, es könnte ihr nachts zu kalt, mittags zu heiß, in den Galerien zu anstrengend sein, bis sie klagte: »Ach, mach doch nicht so ein Getue! Ich bin ganz zufrieden!«

»Wenn ich nur etwas natürlich und leicht tun könnte, so wie der Israel es wahrscheinlich macht«, dachte er seufzend … und bildete sich ein, daß sie seufzte.

Er ertappte sich dabei, daß er kritisierte. Trotz allen seinen Bemühungen, »es ihr recht zu tun«, wie er es nannte, bemerkte er gewisse kindische Eigenschaften an ihr, auf die er früher nicht geachtet hatte.

In Geldangelegenheiten war sie fürchterlich. Sie redete immer davon, wie bedacht sie darauf sei, zu sparen; wie sie Putzmacherinnen von tausend auf siebenhundert Francs herunterhandle und ohne Zofe auskomme. Aber sie hielt es für selbstverständlich, daß sie überall das beste Appartement im besten Hotel hatten, sie nahm das Stubenmädchen und den Friseur in Anspruch und mußte ihnen so viel Trinkgeld geben, daß eine Zofe billiger gewesen wäre.

Sam hätte gern ein bißchen gespart. Er dachte noch immer an die Sanssouci-Siedlung, obwohl er seinen Traum niemals ihrem raschen Spott aussetzte, denn er konnte sich denken, was sie über die Blödsinnigkeit italienischer Paläste in Zenith sagen würde. Wenn er sie einmal nach Hause gebracht hatte, wollte er (wenn sie es ihm erlaubte) es mit dem Bauen versuchen, und dazu konnte er das ganze Kapital brauchen, das er hatte.

Aber er sprach nie mit ihr über Geld, und sie sagte nie, daß sie mit einem gewöhnlichen Zimmer ebenso gut auskommen könnten wie mit den Fürstengemächern, und wenn sie überhaupt eine Bemerkung machte, dann war es bloß, um sich über die Minderwertigkeit dieser Gemächer zu beschweren.

 

Manchmal war er von Frans Schönheit, ihrer Anmut, ihrem Witz und ihrer Kenntnis europäischer Sprachen und Gebräuche überzeugt. Er glaubte es fest – nur nicht in Venedig, als sie mit Mrs. Cortright zusammen waren.

Edith Cortright war in Michigan geboren, als Tochter eines Bankiers, der Schatzsekretär der Vereinigten Staaten wurde. In Washington hatte sie Cecil R. A. Cortright von der englischen Gesandtschaft geheiratet, sie war mit ihm nach Argentinien, nach Portugal, nach Rom und Rumänien gereist, wo er Botschafter war, und hatte viele Urlaube in England verbracht. Sie war ungefähr in einem Alter mit Fran, in den Vierzigern, seit nunmehr drei Jahren war sie Witwe und reiste zwischen England und Italien hin und her. Ein Brief von Jack Starling, Tub Pearsons Neffen in London, veranlaßte sie, den Dodsworths im Danieli in Venedig einen Besuch zu machen, und dann lud sie sie in ihre Wohnung, ein Stockwerk des Palazzo Ascagni, zum Tee ein; hallende Räume mit Steinfußböden, hohen Fenstern auf den Canale Grande und einem Marmorkamin, dessen flackerndes Licht auf dunkle Nußbaummöbel und riesige, vom Alter glatt gewordene Tische fiel.

Auf Sam machte Edith Cortright zunächst keinen übermäßigen Eindruck. Sie redete ein wenig abgerissen, wenn sie von Diplomaten sprach, von den Villen an der Riviera, von der römischen Gesellschaft, von Bildern. Sie war in weites Schwarz gekleidet, das sie ein wenig nachlässig trug, und hatte einen blassen Teint. Aber er bemerkte, wie liebreizend ihre Hände waren, und wurde gewahr, daß ihre ruhige Stimme etwas Besänftigendes hatte. Er erriet, daß ihren aufmerksamen Augen nichts entgehen konnte.

Fran ließ sich in nichts von Mrs. Cortright übertreffen. Auch sie sprach von Diplomaten, auch sie hatte ihre Ansichten über Villen und Gesellschaft und Bilder, und auf dem Rückweg teilte sie Sam mit, daß ihr italienischer Akzent viel besser sei, als der Mrs. Cortrights. Obgleich er sich über seine eigene Kritik ebenso ärgerte, wie wenn ein anderer gewagt hätte sie zu üben, merkte er plötzlich, daß Fran bedeutend weniger wußte, als er – und auch sie – stets angenommen hatte. Ihr Italienisch! Sie wußte vielleicht hundert Worte! Villen! Sie hatte noch keine Rivieravilla näher gesehen, als von der Gartenmauer aus!

Fran schien eine ausgezeichnete Schaufensterdekoration zu haben, aber nicht viel auf den Regalen drin.

Dann ärgerte er sich über sich; dann tat sie ihm leid; und schließlich liebte er sie wegen ihrer Sucht zu blenden, ihres Eifers, bemerkt und bewundert zu werden.

Er wünschte sich, sie sollten Mrs. Cortright besser kennenlernen. Er fühlte, daß sie wirklich zu dieser verwirrenden, verschlossenen Sache, die Europa hieß, gehörte und es ihm erklären könnte.

 

Sam war überrascht und hatte ein Gefühl des Schuldbewußtseins, aber er konstatierte, daß er die schwierige Kunst des Reisens allmählich besser verstand als Fran. In Paris war sie überlegen gewesen. Sie hatte sich schwindelnd rasch an Sprache, Sitten und Essen gewöhnt, während er außerhalb stand. Und sie ließ sich noch immer nicht nehmen, daß er von italienischen Kellnern und Einkäufen und Spitzentüchern und Kirchen weniger verstünde als sie. Aber während sie täglich unsicherer wurde, gewann er täglich ein festeres Ziel des Reisens.

Er wollte zurückkehren, um eine Siedlung wie Sanssouci zu schaffen, und während er darüber nachdachte, wurde ihm bewußt, daß es so etwas gebe wie Architektur. Einzelheiten, die er früher nie bemerkt hätte, wurden lebendig: handgeschmiedete Eisenbalkone, Barockaltäre, mit Ziegeln gedeckte Dächer, Fensterläden, Kupferpfannen in Küchen, die er von der Straße aus sah. Es schüchtern vor Fran verbergend, begann er Toreingänge abzuzeichnen. Er machte es sich zur Gewohnheit, an den langweiligen Hotelabenden statt der Detektivgeschichten vom Zeitungsstand vereinzelte Bemerkungen über Architektur zu lesen – die Vorworte in den Führern, Artikel im Country Life, das im Hotel auslag.

Es drängte ihn immer mehr, jeden Morgen auszugehen, neue Dinge zu sehen, Wissen zu sammeln; und immer mehr wurde er es, der Pläne für die nächsten Ziele machte, der bereit war, mit Portiers und Führern zu verhandeln, und Fran war es, die folgte.

 

Der Gegensatz zwischen Fran und Mrs. Cortright beunruhigte ihn immer weiter. Es war nicht sehr angenehm für ihn, zu entdecken, daß es ihm in vierundzwanzig Jahren des Lebens mit Fran nicht gelungen war, sie kennenzulernen.

Immer, besonders in der ersten Zeit im Ausland, hatte er gemeint, sie sei den anderen amerikanischen Frauen entschieden weit überlegen. Die meisten dieser anderen, hatte er gedacht, sind Maschinen. Sie schwätzen über Kinder, Schneider, weiter nichts. Sie haben entweder harte Stimmen und sind mißtrauisch, oder sie schwärmen. Ihr einziges Gefühl ist der Haß gegen ihre Männer, mit denen sie voll Freude in einem Katze- und Maus-Kampf leben, die sie bei einem Flirt, beim Pokerspielen zu erwischen suchen. Aber Fran, so hatte er voll Freude gemeint, hat Phantasie, Fingerspitzengefühl und Wissen. Sie spricht über Politik und Musik; sie lacht; sie erzählt nette Anekdoten; sie spielt lächerliche kleine Spiele – er ist der große braune Bär, und sie das weiße Kaninchen, er ist die Eiche und sie der Westwind, der ihr durchs Laub fährt – und sie macht es auch immer, bis er um Gnade bittet. Sie kommt nie in einen Salon – sie tritt ein. Sie bleibt an der Tür stehen, großartig, fordernd, stolz in einfachem Schwarz und Weiß, während andere Frauen zögernd, verlegen und aufgeputzt in ein Zimmer schleichen. Und sie blicken starr um sich, diese anderen Frauen, wenn Fran die Männer um sich sammelt und mit spöttischer Fröhlichkeit über Tennis spricht, über Ausgrabungen in Ägypten oder den Bolschewismus – über alles, was es gibt.

Er war so stolz auf sie gewesen! Und in Paris, im Anfang – wie sehr unterschied sich da ihr rasches Aufnehmen des französischen Lebens von der Plattheit der amerikanischen Frauen, die er in Restaurants mit blechernen Mittelwesten-Stimmen krächzen hörte: »Mabel sagt, sie weiß ein Geschäft in Paris, wo sie Elfenbein-Seife kriegt, aber ich hab eines gefunden, wo ich Palmoliven-Seife, das Stück um sieben Cents, bekomme!«

Ah, hatte er sich gefreut, so ist seine Fran nicht – die rasche, silberne Jägerin, die tapfere Reisende, die kluge Kritikerin, die jubelnde Gefährtin!

Und jetzt konnte er, so sehr er sich auch verdammte, den Gedanken nicht unterdrücken, daß sie in Wirklichkeit vielleicht nichts von diesen poetischen Dingen sei – daß sie vielleicht bloß mit ihnen spiele. Er konnte nie mehr den Verdacht aus sich reißen, der in ihm aufgestiegen war, als er ihren Brief über Deauville und Arnold Israel gelesen hatte, den Verdacht, daß sie an Herz und Geist und Seele ein unverantwortliches Kind sei. Und in derselben Minute, in der er sich über ihre strahlende Kindlichkeit freute, verdroß ihn die Unverantwortlichkeit … Mit dem Mund nach Kirschen schnappen ist für einen dreiundvierzigjährigen Menschen kein gar so schönes Spiel.

Ein Kind.

Jetzt war sie begeistert – etwas zu anspruchsvoll begeistert für seine Unlust ihr zu folgen – von einem mondbeschienenen See, einem Tenorsolo oder einem Meisterwerk der Artischockenzubereitung. Eine halbe Stunde später war sie in wütender Verzweiflung wegen eines harten Betts, eines lauwarmen Bades oder einer fehlenden Nagelfeile; und immer war Sam daran schuld, und das mußte ihm jedesmal auch gesagt werden. Er war schuld, wenn es regnete, oder wenn sie im Restaurant nicht einen Tisch am Fenster bekommen konnten; wenn sie zu spät ins Theater kamen, lag es nicht daran, daß sie zu lange zum Umkleiden gebraucht hatte, sondern an seiner Ungeschicklichkeit im Herbeischaffen einer Autodroschke.

Es war kindisch, wie sie vor jedem gut aussehenden Mann, der ihr während der Reise einen interessierten Blick zuwarf, radschlagen mußte – auch jetzt noch, nachdem sie durch Leidenschaft bekehrt war. Und ebenso kindisch war es, wie sie die älteren und weniger interessanten Männer auslachte und vergaß, die in Zügen oder in Hotels freundlich und zuvorkommend zu ihr waren. Sie vergaß so leicht!

Sam war sicher, daß sie Arnold Israel vergessen hatte. Er sah Briefe aus Paris, in einer dicken, schwarzen, energischen Schrift, die nur von Israel kommen konnten. Anfangs war sie aufgeregt und tat heimlich mit ihnen, aber schon nach einem Monat ließ sie sie ungeöffnet liegen. Und einmal, als sie einen wild gestikulierenden Opernbariton sah, begann sie sich über Israels feuriges Temperament lustig zu machen … Fast wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie Treue genug gehabt hätte, länger an Arnold zu denken.

Sie war munteres Quecksilber. Aber Quecksilber ist in einer plumpen Hand schlecht zu halten.

Ein Kind!

Er bemerkte auch ihre Wichtigtuerei, wenn sie mit Leuten wie Mrs. Cortright zusammen war. Fran tat kund, daß sie selbst von Wichtigkeit sei. Sie nahm es übel, wenn jemand – der sie noch nie gesehen hatte – noch nicht wußte, daß sie eine Autorität für Tennis, Französisch und gute Manieren sei. Sie sagte es nicht gerade, aber sie redete so, als wäre der gute alte Herman Voelker, ihr braver Vater, zum mindesten Baron gewesen, und sie machte sich immer über den einen Mitreisenden als »gewöhnlich« lustig und würdigte den anderen als »aus einer ganz guten Familie – ganz anständig«. Sie war wie ein Kind, das sich vor den Spielkameraden mit dem Reichtum seines Vaters brüstet.

Aber das alles empfand und dachte er mit einem Mitleid, das ihn nur um so zärtlicher stimmte – es ihm noch schwerer machte, sich von ihrer launenhaften Herrschaft über sein Leben freizukämpfen.

So kamen sie nach Monaten, die mehr der Entdeckung ihrer selbst als der Entdeckung Europas gewidmet waren, im April nach Berlin.


 << zurück weiter >>