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Sechstes Kapitel

An ihrem letzten Tag auf See – am nächsten Mittag waren sie in Southampton fällig – herrschte auf der Ultima ebensoviel freudige Erregung, Erwartung und Lachen wie am Tage vor Weihnachten. Als die Dodsworths vor dem Dinner in den Rauchsalon kamen, um ihren Cocktail zu trinken, wurden sie von einem Dutzend Menschen begrüßt, die Lockert, der Allerweltskerl des Schiffes, um den runden Tisch in der Mitte des Saals versammelt hatte.

Was für entzückende Menschen! dachte Sam begeistert; was war es doch für ein Vergnügen, mit ihnen zu reisen: Lockert, der geschwätzige englische Abenteurer; der lustige und vulgäre kleine jüdische Putzeinkäufer aus Denver, der weitaus der Aufgeweckteste an Bord war; der Pianist Lechintski; Oberst Endersley, der amerikanische Militärattache in Konstantinopel; Sally O'Leary, die atlasweiche Filmschauspielerin, die in Wirklichkeit Gwendolyn Alcovar hieß; der freundliche und nachdenkliche Assyriologe, Professor Deakins; der norwegische Flieger Ristad; der New Yorker Bankier Pierce Pattison.

»Kommen Sie, Sie sind spät dran.« »Setzen Sie sich hierher; ich hab' meinen schon getrunken«, und »Sie haben uns gefehlt!« riefen sie. Alles war so freundlich wie bei einem Abituriententag, ebenso frei von jeder Eifersucht und ebenso kritiklos.

Der jüdische Einkäufer hatte zwei neue Witze (gegen seine Rasse natürlich), und man ging zusammen zum Dinner hinunter.

Das groß aufgezogene Kapitänsessen auf der Ultima fand am letzten Abend der Überfahrt statt. Der Speisesaal war rot ausgeschlagen, die Stewards hatten rote Jagdfräcke an, Champagner wurde auf Kosten der Schiffahrtsgesellschaft serviert. Sogar Prohibitionsanhänger ließen sich ein Lächeln ablocken, mit dem sie verrieten, daß sie die Freundschaften dieser seligen Woche bewahren wollten. Gesundheiten wurden mit vielen Verbeugungen von Tisch zu Tisch getrunken, der große, dicke Unternehmer aus Seattle, der alles übertrieb, warf Konfetti, und heute hatte niemand etwas gegen seine alkoholselige Menschenfreundlichkeit einzuwenden. Die Comtesse de Val Montique, die in Chicago geboren war, neun Millionen Dollar, zwei Châteaux und Teile eines schön auflackierten Gatten besaß, die den Ozean alljährlich zweimal überquerte und so aristokratisch war, daß sie außer ihrem Dienstpersonal keine Freunde hatte, ließ sich heute abend dazu bewegen, freundlich dreinzusehen, wenn Leute an ihrem Tisch vorüberkamen. Und der alte Kapitän, dessen Bart wie ein Besen aussah, ging im Raum umher, klopfte den Passagieren auf den Rücken und lachte: »Mit Papa machen Sie die Überfahrt noch einmal, nicht wahr?«

 

Sam geriet in einen Zustand gesteigerten Empfindungsvermögens, der ihm alle Mitreisenden näherbrachte. Er war ganz bestimmt nicht berauscht, aber nach zwei Cocktails, einer halben Flasche Champagner und ein oder zwei Kognaks war er von seiner gewohnten Behutsamkeit frei, und verschont von dem Zwang, sich unausgesetzt mit sich beschäftigen zu müssen. Zuerst regte ihn die allgemeine Fröhlichkeit an, dann mußte er bedauern, daß alle, und auch er selbst, so selten auf die empörende Überzeugung von der Wichtigkeit ihrer kleinen Bureaus, ihrer Familien und Arbeiten verzichteten und es sich gönnten, vergnügt und munter zu sein. Sie kamen ihm vor wie Kinder, die jetzt lustig spielten, bald aber müder Reife verfallen sollten. Er empfand ein wenig die lacrimas rerum. Als die Kellner – in dem einzigen Augenblick der Überfahrt, da sie wichtig, schön und bemerkenswert waren – die Schüsseln mit der flammenden Eiscrême hereintrugen, hätte er am liebsten über ihren Hochmut geweint. Er wollte über die armselige Kleinstadtbraut weinen, die für Minuten vergaß, daß die Flitterwochen nicht so herrlich, die See nicht so ausruhsam war, wie sie erwartet hatte. Und er fand es beklagenswert, daß Fran ihre Jugend wiederzufinden hoffte, indem sie ganz einfach ein anderes Klima aufsuchte.

Und die ganze Zeit suchte er das unsentimentale Aussehen des großen, ernsten, schwer arbeitenden Mannes zu bewahren.

 

Das war der große Ball der Überfahrt mit japanischen Lampions, die dem Steuerborddeck eine seltsame Ähnlichkeit mit der Veranda des Kennepoose Canoe-Klubs gab, vor vielen, vielen Jahren, als er Fran gefunden hatte. Aber er erklärte es ihr nicht. Er sagte: »Ich bete dich an! In dem Gold- und Elfenbeinkleid siehst du großartig aus.« Er hatte auch wirklich wenig Gelegenheit zu sentimentalen Erklärungen. Kein junges Mädchen an Bord hatte mehr Tänzer als Fran; keine bewegte sich so anmutig über das Parkett. Lockert benahm sich, als ob er ihr Herr und Gebieter wäre, und Sam rief er zu: »Sie müssen zu einem Weekend zu Lord Herndon kommen, wenn Sie Lust haben, und ich möchte Ihnen ein bißchen von London zeigen. Wir werden bei Claridge essen.«

Sam war durchaus nicht überzeugt davon, daß Lockert etwas derartiges tun würde; er hatte ihn im Verdacht, daß er Bekanntschaften ebenso rasch vergessen könnte, wie er sie anknüpfte; und doch gab es ihm das Gefühl, daß er ein wenig zu England gehörte. Außerdem war Tub Pearsons Neffe von der amerikanischen Botschaft da, und selbstverständlich Hurd, der Leiter der Londoner Revelation-Vertretung. Er war nicht einsam!

Er brachte den Mut auf, Sally O'Leary, die Filmkönigin, die das Verführen berühmt gemacht hatte, um einen Tanz zu bitten.

»Ich tauge nicht recht dazu«, brummte er, als das Schiff rollte und sie mühsam bergauf tanzen mußten. »Sie sollten mit einem von den jungen Leuten da tanzen.«

»Seien Sie nicht albern! Sie sind ein sehr angenehmer Partner. Sie sind ein Mann, und nicht so ein Gigolo oder wie dieses verdammte Wort heißt. Wenn Sie nicht so eine nette Frau hätten, würde ich wahrscheinlich meinen Kopf an Ihre schöne breite Brust legen und Ihnen sagen, Sie sollen nach Hollywood gehen und ein paar schöne Saloncowboys für mich umbringen!«

Es machte ihm Vergnügen, zu glauben, daß sie es ernst meine. Sein erhöhtes Empfindungsvermögen und seine traurige Einsicht in die Einsamkeit der Welt war in einem derben Wohlgefühl aufgegangen. Als er mit Fran tanzte und sie ihn pflichtgemäß auf seine Unvollkommenheit hinwies, lachte er. Stets gelang es ihr, ihre Überlegenheit zu wahren, indem sie eine angemessene Bemerkung über seine Plumpheit machte oder einen höchst feinen und messerscharfen Vergleich zwischen ihm und gewandteren Männern zog. Heute aber lachte er: »Ich bin kein Nijinsky, aber ich amüsiere mich so gut, daß nicht einmal du mich ärgern kannst!« Noch einmal wirbelte er sie unbarmherzig herum, dann glitt er strahlend über die lange Tanzbahn und führte sie zum Tisch zurück.

Und als Fran ihm erklärte, sie hätten jetzt genug Wein, gab es muntere Invasionen in dem Rauchsalon, wo Tische mit schamlos Glücklichen ihn begrüßten: »Setzen Sie sich zu uns!« Er gefiel ihnen! Er war jemand! Nicht bloß als Generaldirektor der Revelation, auch an sich, in jeder Umgebung!

Er setzte sich; er ging von Tisch zu Tisch in einer wahren Ekstase von Freundlichkeit … die ein wenig verschwommen, ein wenig nebelhaft wurde … Aber es waren die nettesten Leute, die er überhaupt kannte, alle an Bord, jeder einzelne von ihnen … Aber er sollte wohl ein wenig acht geben; er war leicht beschwipst … Aber es waren wirklich die nettesten Menschen –

Er ging aufs Verdeck hinaus, um einen klaren Kopf zu bekommen; er schwankte zum Bootsdeck hinauf. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, und all sein Ungestüm verschwand in hoher, klarer, heller Begeisterung.

Am Horizont war ein Licht, unbewegt, an Land, nach all diesen Tagen der ruhelosen Wasser und gleitenden Schiffsleiber. Er wartete, um ganz sicher zu sehen. Ja! Es war ein Leuchtturm, dessen Flammenflügel sich drehten. Es war getan, sie hatten das Erlebnis hinter sich, sie hatten ihren Weg über die blinde Unermeßlichkeit gefunden, die öde Meeresstrecke lag hinter ihnen, sie waren heimgekehrt nach England. Er wußte nicht (und erfuhr auch nie), ob das Licht auf der Bischofsklippe oder auf dem englischen Festland war, aber seine entfesselte Phantasie sah in dem dunklen Fleck dort im Norden England selbst. Mutter England! Land seiner Vorfahren; Land der einzigen Könige, die, für einen amerikanischen Schuljungen, wirkliche Monarchen gewesen waren – Karl I. und Heinrich VIII. und Victoria; nicht ein Durcheinander von verwirrenden französischen und deutschen Herrschern. Das Land, wo für den nie ganz reif gewordenen Sammy Dodsworth noch immer Richard Löwenherz ritt und der Schwarze Fainéant auszog, um Ivanhoe Entsatz zu bringen, wo noch immer Oliver Twist durch üble Hintergäßchen schlich, wo Falstaffs Gelächter die Gottesfürchtigen belästigte und Onkel Ponderevo schnaufte und Getränke mischte, wo Jude im düsteren Dunkel über das Moorland wankte, wo der alte Jolyon mit ruhigen Augen saß, in Unsterblichkeit die Grenzen des menschlichen Lebens überschreitend. Und seine eigenen Leute – er hatte ihre Spur verloren, aber er besaß entfernte Vettern in Wiltshire, in Durham. Und sie alle waren dort – mit einem Motorboot konnte er in einer halben Stunde an der Küste sein! Vielleicht lag gerade dort eine Ortschaft – er konnte sie sehen, nach Bildern im Punch und der Illustrated London News, nach Illustrationen in seinen Kinderbüchern.

Ein Küstenort: ein Halbmond glatter Häuserfassaden, die messingbeschlagene Tür eines Wirtshauses, und im Gelände eine Kutsche, die zwischen Hecken zu einem Dorfanger kroch, ein Kreidehügel mit römischen Erdwällen, zu dem der gelehrte Vikar hinaufkeuchte, neben sich einen weißhaarigen emeritierten Prokonsul, der über Dschungel und Maharadschas und einsame Tempel mit kreischenden Pfauen geherrscht hatte.

Mutter England! Daheim!

 

Er eilte zu Fran hinunter. Das mußte er mit ihr teilen. Er war gut gezogen und vergaß sonst nie, wenn er angenehme Gesellschaft für sie beschafft hatte, daß es ihm nicht zukam, die ihm Vorgezogenen zu stören, aber diesmal überfiel er sie und Lockert, als sie abseits vom Tanz standen und miteinander plauderten. Er packte sie an der Schulter und rief: »Ein Licht vor uns! Wir sind da! Komm zum obersten Deck hinauf! Ach, Teufel, laß doch den Mantel. Nur eine Sekunde schauen!«

Seine Dringlichkeit riß Fran fort, und allein mit ihr, ohne die Aufsicht des köstlichen Majors Lockert, stand er in Hemdsärmeln – seinen Frack hatte er ihr umgeworfen – an ein Rettungsboot geschmiegt und sah zu dem freundlichen Lichtschein hin, der sie begrüßte.

Sie hatten ganze fünf Minuten der Romantik und Zärtlichkeit, bevor Lockert kam und freundlich polterte, sie könnten sich erkälten … sie würden an Kent Gefallen finden … Dodsworth dürfe nie den Fehler begehen, Straßenschuhe und Reitstiefel bei ein und demselben Schuster zu bestellen.

 

Der Geruch Londons ist ein Nebel-, ein Ruß- und Kohlenfeuergeruch, doch manchen Reisenden macht er mehr Freude, erzählt er mehr von Größe und bewegtem Leben als Berghänge im Frühling und die kühle Süßigkeit der Herbstnächte; und dieser unverkennbare Geruch, nach dem sich Menschen im Moderduft am Orinoko, im Fettgestank des südlichen Chicago, in dem heißen Dunst staubiger Erde zwischen den von Heuschrecken summenden Weizenfeldern Albertas sehnen, dieser lockende Atem des dunklen Riesen unter den Städten dringt beinahe bis nach Southampton, um den Ankömmling zu begrüßen. Unruhig und erregt schnüffelte Sam ihn ein, während er sich im stillen darüber wunderte, daß es in England Eisenbahnabteile gibt und nicht einen ungeteilten Wagen mit einem netten langen Gang, in dem man Mädchenbeine, Magazine, Rotaryknöpfe, Priesterkragen und alle Einzelheiten, die das Reisen interessant machen, beobachten kann.

Und die Absonderlichkeit der gerahmten Landschaftsbilder hinter den Sitzen; der Schlaufen zum Anhalten neben den Türen – die gestickte Seide an der Außenseite griff sich so rauh an, und das Leder innen so glatt und kühl. Die größte Überraschung: es ließ sich nicht leugnen, daß diese Sitze bequemer waren als die harten Pullmanstühle Amerikas. Und daß man draußen im feuchten Februarsonnenlicht nicht schneebedeckte Felder sah, sondern das Grün des Frühlings; gestutzte Weiden und Strohdächer und Fachwerkhäuser –

Ganz wie auf den Bildern! England!

Wie die meisten Menschen, die nie im Ausland gereist sind, hatte Sam in seinem Inneren nicht recht glauben können, daß diese »fremden Landschaften« wahrhaftiglich existieren, daß menschliche Wesen wirklich in einer Umgebung leben können, die sich so sehr von den Vorgärtchen Zeniths unterscheidet; daß Europa etwas mehr ist als ein bezaubernder Mythos wie der Venusberg. Aber da es tatsächlich mit Augen zu sehen war, nahm er es mit demselben glühenden Eifer in sich auf, mit dem er viele Jahre lang Automobil um Automobil hergestellt hatte.


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